Werner Paravicini: Adlig leben im 14. Jahrhundert. Weshalb sie fuhren: Die Preußenreisen des europäischen Adels. Teil 3 (= Vestigia Prussica. Forschungen zur ost- und westpreußischen Landesgeschichte; Bd. 2), Göttingen: V&R unipress 2020, 807 S., ISBN 978-3-8471-1128-3, EUR 110,00
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Werner Paravicini: Verlust und Dauer. Weshalb sie nicht mehr fuhren und was an die Stelle trat: Die Preußenreisen des europäischen Adels. Teil 4 (= Vestigia Prussica. Forschungen zur ost- und westpreußischen Landesgeschichte; Bd. 4), Göttingen: V&R unipress 2023, 596 S., ISBN 978-3-8471-1656-1, EUR 75,00
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Die durch den Deutschen Orden organisierten Preußenreisen waren im 14. Jahrhundert eine besondere Attraktion für den europäischen Adel, bei denen sich das ritterlich-adlige Selbstverständnis in demonstrativer Weise offenbarte. Dabei handelte es sich um kriegerische Unternehmen im Gewand von sündenerlassenden Kreuzzügen gegen das Großfürstentum Litauen, dem damals (bis 1387) einzigen nichtchristlichen Land Europas. Dies bot der europäischen Ritterschaft - von Edelknechten bis zu Königen - die vielgenutzte Gelegenheit der Teilnahme an echten Heidenkriegen. Für die historischen Wissenschaften ist dieses Phänomen ein herausragender Gegenstand zur Erforschung des Selbstverständnisses der adligen Eliten jener Zeit.
Dieser Aufgabe hat sich Werner Paravicini verschrieben, der in seiner Habilitationsschrift von 1989 ("Die Preußenreisen des europäischen Adels", Teil 1) und einem Ergänzungsband von 1995 Organisation, Ablauf und Finanzierung dieser Unternehmungen gründlich analysierte. Danach pausierte aufgrund der beruflichen Tätigkeit eine Weiterführung der Forschungen und erst seit seinem Ruhestand kann sich der Autor wieder der Fertigstellung der auf sechs Bände angelegten Reihe widmen. So erschien nach 25-jähriger Pause 2020 der dritte und 2024 der vierte Teil.
Nachdem in Teil 1 und 2 die praktische Durchführung der Reisen im Mittelpunkt stand, widmet sich der mit über 800 Seiten voluminöse Teil 3 dem ideologischen Hintergrund. Ausgangspunkt ist die Frage, warum über ein Jahrhundert lang zahlreiche Adlige aus ganz Europa sich den langwierigen, strapaziösen, gefährlichen und kostspieligen Unternehmen einer Teilnahme an den Preußenreisen unterwarfen, obwohl dort weder reiche Beute noch Landgewinn lockten. Paravicini schöpft zur Beantwortung dieser Frage aus einem reichen Fundus aus Schriftquellen. Waren es in Teil 1 und 2 hauptsächlich Rechnungen und Chroniken, so konzentriert sich Teil 3 überwiegend auf die schöne und belehrende Literatur (höfische Romane, Tugendlehren, Ehrenreden, Wappenbücher, etc.), deren Angaben mit Informationen aus Rechnungen und Prozessakten abgeglichen werden. Aus diesem breiten Quellenfundus rekonstruiert der Autor eine gewaltige Menge adliger Lebensläufe von mitunter erstaunlicher Detailfülle. Dieses breite prosopographische Fundament bildet die wesentliche Grundlage, auf dem die Thesen über die Motivation des europäischen Adels zur Teilnahme an den Preußenreisen basieren.
Die Haupterklärung zielt auf den Aspekt des Ehrengewinns und dessen gefühlsmäßige Auskostung, der durch die Teilnahme am Heidenkrieg erzielt wurde: "Die Heidenfahrt [...] spendete das höchste Prestige [...]. Der Aufbruch zu Eis und Schnee, der Ritt durch die Wildnis, [...] das Lob der Herolde, Ruhm und Ehre brachten ein Hochgefühl hervor, das unwiderstehlich gewesen sein muß." (660) Paravicini hebt dabei auch das Erlebnis einer reinen Männergesellschaft hervor, bei der eine ständische Elite unter sich war, ungestört von mäkelnden Geistlichen oder Frauen. Man konnte sich am eigenen Heldentum ergötzen, dass darüber hinaus noch durch Kreuzzugsprivilegien religiös legitimiert war. In Preußen wurde "ritterliche Lebensart unter Männern in nahezu reiner Form unter den Fittichen eines als ideal empfundenen Ritterordens in Wirklichkeit umgesetzt". (662)
In der deutschen Literatur ist Oswald von Wolkenstein der bekannteste Protagonist einer solchen Lebensweise. In seinen Liedern rühmt er seine weiten Reisen, die fast alle Ländern Europas (inklusive Preußen) und zum Teil darüber hinaus umfassten. Ein moderner Leser könnte dazu neigen, dies als literarische Übertreibung zu interpretieren. Paravicini kann jedoch anhand zahlreicher Lebensläufe nachweisen, dass es sich keinesfalls um prahlerisch übertriebene Selbstinszenierung handelte. Vielmehr lässt sich die enorme Reisetätigkeit des ritterlichen Adels vielfach belegen. Man bewegte sich - auch angeregt durch die literarischen Vorbilder des Artuskreises oder der Neun Großen Helden - ruhelos durch ganz Europa und über dessen östliche und südliche Grenzen hinaus von Kampfplatz zu Kampfplatz. In der Hierarchie der möglichen Bewährungsalternativen von Turnier, Krieg zwischen christlichen Kontrahenten und Heidenkrieg stand letzterer eindeutig an der Spitze, wenn es um die Gewinnung von Ehre ging.
Von allen Bänden der Geschichte der Preußenreisen ist Teil 3 derjenige, der am weitesten über den Tellerrand des Ordenslandes Preußen hinausschaut. Es wird zwar immer wieder auf Preußen Bezug genommen, doch war das hier beschriebene ritterliche Selbstverständnis eine allgemeineuropäische Erscheinung, die sich an vielen Orten und Kampfplätzen offenbarte. Daher ist dieser Band auch für Leserkreise ohne spezielles Interesse an der preußischen Problematik von Belang. Dies wird vor allem im ersten Teil des Buches ersichtlich, wo Paravicini das Rittertum als autonome weltliche Existenzform beschreibt, die sich in einer Parallelwelt offenbarte, die eigene Orden, Heilige, Priester (Herolde) und Schriften hervorbrachte.
Alle Herrlichkeit geht einmal zu Ende. Auch die im 14. Jahrhundert so erfolgreichen und beliebten Preußenreisen fanden ab dem frühen 15. Jahrhundert keine Fortsetzung mehr. Den Hintergründen dieser Entwicklung widmet Paravicini den vierten Band, in dem er wiederum auf üppige Quellengrundlagen zurückgreifen kann. Die Gründe für das Ende der Preußenreisen waren zunächst außenpolitischer Art, Litauen trat 1387 offiziell zur westlichen Christenheit über und verbündete sich mit Polen. Somit waren dem Deutschen Orden die letzten Heiden abhandengekommen, die man mit den vornehmen Gästen bekämpfen konnte. Ein leises Nachflackern für letzte Aufgebote zur Aufrechterhaltung der Idee der Preußenreisen bot der Kampf gegen die Samaiten im westlichen Litauen, die sich noch längere Zeit gegen die Christianisierung sträubten. Nach der verheerenden Niederlage gegen Polen-Litauen in der Schlacht von Tannenberg 1410 fehlte dem Orden schließlich die militärische Macht und auf dem Konzil von Konstanz musste er auch auf dem diplomatischen Feld den Rückzug antreten. Letztendlich hatte der Orden in der öffentlichen Einschätzung so viel an Prestige verloren, dass er für den Ehrengewinn des europäischen Adels nicht mehr attraktiv genug war. "Der europäische Adel fuhr fort, Ehre zu suchen. Aber er tat es nicht mehr in Preußen." (498) Die sentimentalen Erinnerungen an die "herrlichen Zeiten" des 14. Jahrhunderts lebten jedoch noch lange im Gedächtnis der ehemaligen Preußenfahrer und ihrer Nachfahren weiter. Der Deutsche Orden musste die neue Situation ab den 1420er Jahren endlich als Realität hinnehmen. Er wandelte sich um zum 'Spital' des deutschen Adels, was ihm noch fast 400 Jahre eine neue Daseinsberechtigung und Funktion verlieh, auch lange nachdem ihm Preußen 1525 verloren gegangen war.
Besondere Beachtung verdient das letzte Kapitel, eine knappe, in souveräner Sprache verfasste und mit aktuellen Reflexionen versehene Zusammenfassung der Erkenntnisse der bislang vorliegenden vier Bände.
Es ist zu wünschen, dass der Autor noch die verbleibenden zwei Teile (Quellenband, Nachträge) veröffentlichen kann. Die Darstellung der Preußenreisen geht weit über ein landesgeschichtliches Thema hinaus und gibt tiefe Einblicke in die Psyche und innere Konstitution des europäischen Adels im späten Mittelalter. Sie sind "Randerscheinungen der europäischen Geschichte, aber als wahres Observatorium lehren sie uns, einen neuen Blick auf die gesamte Welt des Adels zu werfen". (519)
Christofer Herrmann