Axel Schollmeier: The Rolling Stones. Das legendäre erste Deutschland-Konzert in Münster am 11. September 1965. Fotos von Willi und Wolfgang Hänscheid, Münster: Aschendorff 2005, 92 S., ISBN 978-3-402-00394-7, 16,80
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Es war eine Zeit, als man zu Konzerten einer Rock-Gruppe noch in Anzug und Schlips ging, als diese Konzerte gerade mal eine halbe Stunde dauerten und die Presse mit der dort dargebotenen Musik alle guten Sitten dahinschwinden, wenn nicht den Untergang des Abendlandes besiegelt sah. Es war der September 1965, und die Rolling Stones hatten kürzlich erst mit "Satisfaction" den Song veröffentlicht, der sie - neben den Beatles, damals nach wie vor das musikalische Maß aller Dinge - endgültig aus der Masse der britischen Beat- und Rockbands heraushob und ihnen einen dauerhaften Platz im Olymp der populären Musikkultur des späten 20. Jahrhunderts verschaffen sollte. Nachdem sie bereits erfolgreiche Tourneen in den USA und Übersee absolviert hatten, standen nun die ersten Auftritte in Deutschland auf dem Programm: eine Sensation bahnte sich an.
Den Auftakt der Deutschland-Tournee bildeten zwei Konzerte am 11. September in Münster, die der Münsteraner Fotograf Willi Hänscheid in einer Fotoserie festgehalten hat. 76 Fotos aus dieser umfassenden Dokumentation werden in diesem Katalog zu einer vom 1. Oktober 2005 bis 5. Februar 2006 im Stadtmuseum Münster gezeigten Ausstellung vorgestellt. Vorangestellt wird eine allzu komprimierte, gleichwohl sehr informative Einleitung, die über die noch junge Karriere der Band, die Deutschland-Tournee, die beiden Konzerte, die Medienresonanz sowie die Fotos berichtet (7-13).
Das Herzstück bilden die Schwarz-Weiß-Fotos zu diesem Auftritt in Münster, die ihrerseits noch einmal Bildunterschriften mit weiterführenden Informationen aufweisen. Die Fotoserie setzt nicht erst mit dem Konzertereignis an sich ein, sondern zeigt auch das vor der Halle Münsterland wartende Publikum, den Cordon der Ordner in der Halle vor der Bühne, die auf die Musiker wartenden Fans in der Halle und schließlich die Ankunft der Rolling Stones. Bevor diese auf die Bühne gingen, bestritten drei andere Bands das Vorprogramm, die ihrerseits auf wenigen Abzügen festgehalten sind. Kennzeichnend für die Fotoserie ist, dass nie nur das Geschehen auf der Bühne allein gesehen, sondern immer wieder auch der Blick auf die Reaktionen des Publikums gerichtet wird. So wird die anfängliche Reserviertheit und die gemessen gute Stimmung im Vorprogramm eingefangen, von der sich die schnell wachsende Begeisterung, Ausgelassenheit und Euphorie unterschieden, als mit den Rolling Stones die Hauptakteure die Bühne betraten.
Es waren, wie damals durchaus üblich, zwei Konzerte angesetzt, das erste um 17.30 Uhr, das zweite dann um 20.30 Uhr. Die Fotos des ersten Durchgangs machte tatsächlich Willi Hänscheid, für das zweite Konzert überließ er seinem 18-jährigen Sohn Wolfgang die Kamera. Da Letzterer vor der Bühne stand und aus dem Publikum heraus seine Fotos schoss, sein Vater Willi Hänscheid aber auf der Bühne selbst, fast unmittelbar neben den Musikern gestanden hat, ergeben sich jeweils unterschiedliche Perspektiven und Eindrücke von diesem Konzertereignis.
Eindeutig die zentrale Figur des Rolling-Stones-Konzertes war Mick Jagger; alle anderen Bandmitglieder traten in der Wahrnehmung deutlich zurück. Aus heutiger Perspektive sicher nicht überraschend, lässt sich dies eben auch für die Frühzeit dieser Band am Beispiel des Münsteraner Auftritts zeigen. Der Sänger kommunizierte direkt mit dem Publikum und heizte mit seinen Show-Einlagen die Stimmung weiter an (48-51). Besonders einige Fotos zum zweiten Konzert sind für die Bühnenpräsenz des jungen Mick Jagger aufschlussreich (z. B. 64-67, 69-70). Offenkundig war es eine weise Entscheidung Willi Hänscheids, am Abend seinem Sohn die Kamera zu überlassen, dessen Fotos vielleicht doch noch mehr Gespür für diese Form der Unterhaltung erkennen lassen und deswegen eine besondere Authentizität ausstrahlen.
Offenbar existieren keine weiteren Unterlagen zu den Fotos. Die Zuordnungen zu bestimmten Abschnitten des Konzerts und einige Identifizierungen sind bereits Teil der Interpretation, wie die durchaus behutsam formulierenden Bildunterschriften erkennen lassen. In die Kommentare sind aber einige zusätzliche Informationen eingeflossen, die vor allem aus dem damaligen Presseecho geschöpft sind, aber auch auf Aussagen Wolfgang Hänscheids zurückgehen (vgl. Vorwort). Weitere Hintergrundinformationen zum Fotografen, über seinen Sohn oder ein paar Ausführungen zum fotografischen Werk Hänscheids gibt es nicht. Ohnehin sind die Quellenhinweise am Ende der Einleitung äußerst knapp ausgefallen (13).
Was lässt sich nun zu diesem Gastspiel der Rolling Stones festhalten? War ihr Auftritt in Münster tatsächlich "legendär"? Diese Einschätzung ist vor allem der Perspektive der Stadt Münster geschuldet, die kaum jemals danach derart prominenten Besuch aus dem Show- und Rockbusiness erhielt. Für die Geschichte der Band hingegen erwies sich das Gastspiel in München drei Tage später als einschneidender, wo erstmals Anita Pallenberg auftauchte, die bald danach für mehr als ein Jahrzehnt zur festen Entourage der Rolling Stones gehörte und im nicht immer einfachen Gefüge der Band zeitweise erheblichen Einfluss besitzen sollte. Und von der Warte der westdeutschen Gesellschaft ungleich bedeutsamer war zweifelsohne das Berliner Konzert am 15. September, das in der völligen Verwüstung der Waldbühne endete und somit auf Konfliktpotenziale vorauswies, die erst einige Jahre später und dann in ganz anderer Weise zum Ausbruch kommen sollten.
Diese Thematik wird auch in den kurz aufgegriffenen Kommentaren der Presse angesprochen, deren geradezu blindwütige Berichte über vergammelte Jugendliche in speckigen Jeans (vgl. 17) eben überhaupt nicht zu den Bildern des in Wahrheit weithin adrett und gediegen gekleideten Publikums passten. Hier hätte sich das Ereignis in regional- oder stadthistorische Bezüge und in die gesellschaftliche Entwicklung Münsters der Nachkriegszeit einbetten lassen. [1] Dies unterbleibt jedoch, wie auch generelle Fragen der damaligen Jugendkultur und ihrer gesellschaftlichen Sprengkraft nicht weiter aufgegriffen werden; zumindest das hier inhärente Polarisierungspotenzial blitzt nur kurz auf. [2] Ebenso werden die Vermarktungsstrategien nur ganz am Rande erwähnt, doch wird zumindest das Engagement der Jugendzeitschrift "Bravo" thematisiert. Was die Situation des Musik- und Konzertmarktes angeht, kommen immerhin die Eintrittspreise zur Sprache, die in den Bereichen von für damalige Verhältnisse unglaubliche 6,- bis 12,50 DM rangierten (die Schwarzmarktpreise erreichten 1965 dann Dimensionen, die heute für reguläreTickets gelten).
Alle diese Aspekte werden nur kurz angetippt, eine tiefer gehende Kontextualisierung unterbleibt. Etwas unklar ist damit, in welche Richtung der Katalog eigentlich zielt: nüchterne Dokumentation oder Fanartikel? Man kann die Fotoserie zum Münsteraner Auftritt am 11. September 1965 einfach nur so betrachten, wie es ein Fan damals getan hat; das Mädchen hatte sich auf die Hand geschrieben: "I like the Stones" (21). Wer sich nur für die Musik der 1960er-Jahre interessiert, wird mit diesem gelungenen Bildband zu einer wichtigen Rockband jener Zeit bestens bedient sein - und sich womöglich auch über das T-Shirt freuen, das das Stadtmuseum zur Ausstellung feilbietet. Doch eine ganze Reihe von Bemerkungen in diesem Band und nicht zuletzt das Fotomaterial selbst zeigen deutlich, dass hier eine Thematik aufscheint, die es durchaus verdient, im Rahmen der (west-)deutschen, aber auch westlichen und europäischen Geschichte der 1960er-Jahre weiter aufgearbeitet zu werden. [3]
Anmerkungen:
[1] Zu Münster siehe etwa Karl Teppe: Politisches System, gesellschaftliche Strukturen und kulturelles Leben seit dem Zweiten Weltkrieg, in: Franz-Josef Jakobi unter Mitwirkung von Thomas Küster (Hg.): Geschichte der Stadt Münster, Münster 1993, Bd. 3, 1-81.
[2] Vgl. etwa Thomas Großbölting: Von "Halbstarken" und "Apo-Aktivisten" - Jugendprotest, Jugendgewalt und Jugenddiskurs in der Bundesrepublik, in: Frank Becker / Thomas Großbölting / Rudolf Schlögl / Armin Owzar (Hg.): Politische Herrschaft und Gewalt, Münster 2003, 301-321; ders.: Jugendkulturen zwischen Milieu und Lebensstil - Zugriffe und Perspektiven auf die europäische Geschichte der 1960er Jahre, in: Mitteilungsblatt des Instituts für Soziale Bewegungen 31 (2004), 59-80.
[3] Dazu Werner Faulstich (Hg.): Die Kultur der 60er Jahre (Kulturgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts), München 2003; Axel Schildt / Detlef Siegfried / Karl Christian Lammers (Hg.): Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000; Matthias Frese / Julia Paulus / Karl Teppe (Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn 2003.
Michael Kaiser