Siegfried Weichlein: Nation und Region. Integrationsprozesse im Kaiserreich (= Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien; Bd. 137), Düsseldorf: Droste 2004, 442 S., ISBN 978-3-7700-5255-4, EUR 58,00
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Lange hat eine modernisierungstheoretisch orientierte Nationalismusforschung behauptet, gemessen an der Region sei die Nation die modernere, weil großräumigere soziale Einheit, und hat demgemäß regionalen Zugehörigkeiten nicht nur das größere Alter attestiert, sondern dort auch den Ort vermutet, wo antimoderne Affekte anzutreffen sind. "Vermutet" deshalb, weil regionale Zugehörigkeiten lange Zeit kaum erforscht worden sind. Seit den Forschungen von Celia Applegate und Alon Confino hat die Region als Ort moderner Vergesellschaftung neues Interesse erfahren. In diese Linie ordnet sich Siegfried Weichlein mit seiner Berliner Habilitationsschrift ein. Entschlossen wendet er sich gegen die Annahme, regionale Zugehörigkeiten seien traditionaler oder provinzieller. Im Gegenteil postuliert er, moderne Regionen seien gleichzeitig mit modernen Nationen entstanden und bedingten einander. Er untersucht die ineinander verschränkten Identifikationsprozesse, die sich nach 1871 auf der Ebene des Reichs und auf der Ebene von Regionen abspielten. Als Regionen hat er Sachsen und Bayern ausgewählt, wo regionale Zugehörigkeiten besonders ausgeprägt waren, nicht zuletzt, weil beide im 19. Jahrhundert einen tief greifenden Staatsbildungsprozess durchliefen.
Weichleins Ausgangspunkt ist, was er die Unwahrscheinlichkeit des Nationalstaats nennt: Nationen entstehen nicht aus sich selbst, sondern sie werden geschaffen, und sie strahlen nicht einfach vom Zentrum an die Peripherie aus, sondern die Nation findet selbst "vor Ort" statt: In den und durch die Regionen wurde die Nation zu einem Erfahrungstatbestand. In Anlehnung an Karl Deutsch geht Weichlein von einem kommunikationstheoretischen Ansatz aus: Soziale Gemeinschaften entstehen durch die Verdichtung von Kommunikation, und demgemäß untersucht er die Nation wie die Region als kommunikative Ereignisse. Er tut dies auf drei Ebenen: Erstens Eisenbahn und Postverkehr, zweitens durch die staatliche Herstellung im Recht und in der Verwaltung, und drittens auf einer kulturellen Ebene, in der Volksschule und bei nationalen Feiern.
Die Intensivierung des Verkehrs ist ihm ein entscheidender Indikator für eine wachsende Zusammengehörigkeit. Seine Befunde weisen aber deutlich darauf hin, dass sich die Nation gemessen daran nur schleppend entwickelte. Der Ausbau von Eisenbahnstrecken folgte nicht primär einem Nationsbildungsimperativ, sondern Handelsinteressen und Arbeitskräftebedarf - ein großer Teil der Bahnen wurde privat betrieben. Auch bauten die Einzelstaaten ihr innerstaatliches Netz zügig aus, und Verbindungen endeten häufig an den Staatsgrenzen. Eisenbahnkämpfe, die bis zur Errichtung von Parallelgleisen und -bahnhöfen führen konnten, standen nicht für eine nationale Integration. Der Bahnausbau führte zunächst und auf lange Zeit zu einer Intensivierung nicht der nationalen, sondern der regionalen Reisen. Ähnliches galt für die Post. Obwohl diejenigen, die deren nationale Integration betrieben, allen voran Generalpostmeister Stephan, sich auch als Pioniere der Reichseinheit sahen und etwa bei der Postbeamtenschaft auch ein großes Stück vorankamen, blieben Kommunikationswege zumeist ebenfalls regional bestimmt. Sachsen und Bayern behaupteten noch lange eigene Postsysteme. Die bis 1866 maßgebliche Barriere zwischen Nord und Süd blieb so auch im Kaiserreich erhalten. Bei der Post äußerte sich besonders deutlich der hoheitliche Anspruch der Einzelstaaten, die soziale Kommunikation zu bestimmen: In Bayern hielt man bis 1920 an eigenen Briefmarken fest, denn Briefmarken waren Hoheitszeichen, und in Bayern galten die "preußischen" Briefmarken nicht. Auch bei der Post führte die Vereinheitlichung, die etwa in der Einführung des Einheitsportos bestand, vor allem zur Intensivierung der regionalen Kommunikation.
Die Nationsgründung bedeutete vor allem einen Verrechtlichungsschub, der standardisierende Effekte hatte und so das Leben der Deutschen einander ähnlicher machte. Nicht zuletzt dadurch drang der Nationalstaat "ins Parterre der Gesellschaft vor" (194). Jedoch handelte es sich hier häufig um Landesgesetzgebung, und darüber hinaus gab es für die Einzelstaaten eine Fülle von Sonderregeln und Ausnahmen, die, wie Weichlein am Heimatrecht zeigt, die Rechtsvereinheitlichung substanziell behindern konnte. Das restriktive sächsische Heimatrecht wurde von der Freizügigkeit, die das Reichsrecht an sich gewährte, nicht berührt: Bismarck und andere stimmten durchaus zu, wenn Redakteure, die unter dem Sozialistengesetz verurteilt worden waren, aus sächsischen Städten ausgewiesen wurden. Hier dienten nationale Konflikte zur Stärkung regionaler Rechtsbestände.
Die symbolische Herstellung der Nation in Volksschule und Feiern spielt bei Weichlein keine so große Rolle, und anders als bei den Kapiteln zu Eisenbahn und Post beschränkt er sich hier stärker auf normative Quellen, die mehr darüber aussagen, wie es sein soll, denn wie es ist. So viel aber schält sich deutlich heraus: Die zunehmende staatliche Bedeutung im Bereich der Schule war zunächst eine Bedeutung des Einzelstaats. Es waren, sächsische und bayerische, nicht aber deutsche Beamte, die als Lehrer tätig wurden. Damit setzte sich eine regionale Prägung durch, die namentlich im Geschichtsunterricht sichtbar wurde, stärker in Bayern als in Sachsen. Nationale Geschichte wurde als Teil der regionalen Geschichte erzählt und umgekehrt, und das führte dazu, dass etwa der Krieg gegen Frankreich im Lichte von Schlachtenereignissen beleuchtet wurde, die für die Einzelstaaten bedeutsam gewesen waren. Die Nationalgeschichte wurde so zum Treibriemen für eine Aufladung der Heimat.
Die Studie ist ein wichtiger Beitrag zur Genese und Funktionsweise politischer und sozialer Zugehörigkeiten. Seine wichtigste These, dass regionale und nationale Zugehörigkeiten einander nicht ausschließen und auch nicht aufeinander folgen, sondern einander bedingen, und deshalb die Nation nicht als das modernere, sondern lediglich als das unwahrscheinlichere und schwerer herzustellende Konstrukt verstanden werden muss, ist auf vielen Ebenen überzeugend belegt. Man wird freilich fragen können, ob Sachsen und Bayern tatsächlich das Wesen der Region beschreiben, oder ob es sich bei ihnen nicht vielmehr um erfolglose Nationen handelt. Denn immerhin haben sie staatliche Strukturen ausgebildet und einen Patriotismus entwickelt, den man gerade im bayerischen Fall durchaus auch einen Nationalismus nennen könnte. Was der Unterschied zwischen Regionen und Nationen ist, bleibt unscharf. Weichlein verweist auf die größere Abstraktheit der Nation - aber ist das nicht lediglich eine graduelle Abstufung? Mit Blick etwa auf Eugen Webers berühmte Studie "Peasants into Frenchmen" wie auch die Nationalismustheorie John Breuillys spräche manches dafür, unter Regionen Formen von Zugehörigkeit verstehen, die nicht staatlich hergestellt und erhalten werden. [1]
Eine zentrale These ist nicht systematisch durchgeführt, aber sie scheint wichtig: Die Überlegung nämlich, dass nationale Zugehörigkeiten nicht primär durch die Herstellung von Konsens entstanden, sondern durch Konflikte. Am Beispiel der Sozialdemokratie und der Katholiken im Kulturkampf argumentiert Weichlein, dass nun die sächsischen Arbeiter sich mit den Hamburger Kollegen, Passauer Katholiken sich mit Mainzer in einer ähnlichen Lage sahen, und dies nationale Konfliktlinien erst schuf. Das Reich bildete hier den Resonanzboden für Konflikte, die häufig regional oder lokal waren. Dass Ludwig Bamberger 1888 verbittert feststellte, dass gerade die überwunden geglaubten Feinde der Nation, "preußische Ultras und sächsische Zünftler" (373), sich nun der nationalen Parole bedienten, weist ja auf einen enormen Erfolg des Nationskonzepts hin, der jedoch nicht zu denken ist ohne den regionalen Ort, an dem es stattfand. Die Nation als ein Netz von Kommunikationen gewinnt mit solchen Argumenten überzeugendes Gewicht. Gerade deshalb aber hinterlässt die Studie einen ambivalenten Eindruck, denn das Potenzial eines kommunikationsgeschichtlichen Zugangs ist mitnichten ausgereizt. Weichlein argumentiert im Wesentlichen mit einem Top-Down-Ansatz und bedient sich gerne rechtsphilosophisch geprägter Denkfiguren. Das geschieht alles sehr nüchtern, mit großer Akribie und Datenaufwand, aber nur selten mit der Frage, was denn mit den sächsischen Sozialdemokraten eigentlich passiert, wenn sie auf Hamburger Arbeiter treffen: Die Nation als Ort von stattfindender (und nicht nur gezählter) Kommunikation ist ebenso wenig Thema wie die Imaginationen und Fantasien, die Nation und Heimat auslösen. Dass es sich hierbei um Imagined Communities handelt, das kommt nicht zum Tragen. Man hätte erwarten können, dass Romane oder Memoiren herangezogen werden, um die Nation als eine Erfahrung in Kontrast zur Region (die es als Begriff im 19. Jahrhundert nicht gab) zu profilieren. Aber nichts dergleichen. Obwohl Weichlein gegen eine objektivistische Heuristik argumentiert, ist seine Durchführung selbst objektivistisch; Begriffe wie "Ordnung" und "Sittlichkeit" werden zu Zentralkategorien der Analyse von Nationsbildung, ohne dass diese Begriffe diskursiv oder erfahrungsgeschichtlich zurückgebunden werden: man erfährt durchaus, wie die Nations- und Regionsbildner sich die Nation und die Region gedacht haben, aber nicht, was Bürger oder Bauern sich vorstellten. Man hätte vielleicht lieber ein wenig mehr über Figuren wie den Landbriefträger lesen wollen, der die Nation bis in den letzten Winkel trug (158), oder man hätte gerne mehr gewusst darüber, wie das von der Beförderungsdistanz unabhängige Einheitsporto die Wahrnehmung eines kohärenten Raums bei den Nutzern veränderte (118 f.).
Damit kein Missverständnis entsteht: Die Kritik richtet sich nicht auf eine methodisch ungenügende Ausführung, sondern auf einen Denkstil, der die Zugehörigkeiten, die hier untersucht werden, im Wesentlichen statisch interpretiert und nicht als Aushandlungs- und Deutungsprozesse. Briefbeförderungsquoten bieten freilich wichtige Hinweise; aber die Reflexion darüber, was Deutschland und Bayern seien, wird doch von denjenigen vorgenommen, die die Briefe schreiben und die Reisen unternehmen. Von dieser kulturgeschichtlichen Seite der Nations- und Regionsbildung liest man in der ansonsten sehr verdienstvollen Studie leider wenig.
Anmerkung:
[1] Eugen Weber: Peasants into Frenchmen. The Modernization of Rural France, 1870-1914, Stanford, CA 1976; John Breuilly: Nationalism and the State, Manchester 1982.
Thomas Mergel