Christoph Kuhl: Carl Trimborn (1854-1921). Eine politische Biographie (= Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte. Reihe B: Forschungen; Bd. 120), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2011, 310 S., ISBN 978-3-506-77121-6, EUR 39,90
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Der Begriff "politische Biographie" genießt keinen Markenschutz; was eine solche ausmacht, ist nirgendwo festgeschrieben. Kuhl schreibt eine Darstellung des Lebens von Carl Trimborn, die ausschließlich die politischen Stationen berücksichtigt und sich darauf beschränkt, wiederzugeben, was Trimborn gesagt und getan hat. Sie verzichtet aber weitgehend darauf, den mentalen, familiären oder religiösen Hintergrund auszuleuchten. Wer also eine Biographie erwartet, die ihren Gegenstand als exemplarisch für bestimmte Prozesse und Konstellationen untersucht und so in einen breiteren Kontext stellt, der wird enttäuscht werden. Dabei war Trimborn eine der interessantesten Figuren der beginnenden Massendemokratie in Deutschland. Er entstammte einer prominenten und wohlhabenden rheinischen Familie, die im 19. Jahrhundert einen durchaus typischen Weg machte: Sein Großvater war napoleonischer Notar und Freimaurer gewesen, sein Vater Cornelius Balduin hatte im Preußischen Verfassungskonflikt der 1860er Jahre als Mitglied der Fortschrittspartei gegen Bismarck Stellung bezogen, war im Kulturkampf auf die Seite der Zentrumspartei gewechselt und vertrat die Partei seit 1879 als Abgeordneter in Berlin. Sein Sohn Carl trat in seine Fußstapfen. Als Abgeordneter beider Berliner Parlamente (seit 1896 bzw. 1900) hatte er großen Anteil daran, die Katholiken für den neu entstehenden politischen Massenmarkt zu organisieren, insbesondere dadurch, dass er die Organisationsstruktur der Partei zu erneuern suchte. Er machte sich einen Namen als Sozialpolitiker und bezog Stellung gegen das Preußische Dreiklassenwahlrecht, nicht so sehr aus Liebe zur Sozialdemokratie als vielmehr, weil er Chancen für eine christlich-soziale Konkurrenz zur SPD sah. Im Ersten Weltkrieg war Trimborn, dessen Frau Belgierin war, in der deutschen Besatzungsverwaltung in Belgien tätig.
Seine wichtigste, wenngleich selten tragende Rolle spielte er im Umbruch zur Weimarer Republik. Als Innenstaatssekretär in der Regierung Max von Baden, als Vorsitzender der Zentrumsfraktion (seit 1919) und schließlich als Reichsparteivorsitzender hatte er großen Anteil daran, die Ordnung in der Revolution aufrecht zu erhalten und einer Verständigung mit Linksliberalen und Sozialdemokraten den Weg zu bahnen, wobei er stärker als Matthias Erzberger auch die Kommunikationsfähigkeit zur Rechten im Blick hatte. Er zog zwar weitaus weniger Fäden als jener, konnte aber vielleicht genau deshalb sehr viel besser integrieren. Bei der Regierungsbildung nach den Wahlen von 1920 spielte er eine entscheidende Rolle, und er war auch selber als Kandidat für das Amt des Reichskanzlers genannt worden. Trimborn, der immer wieder mit dem Leben als Berufspolitiker haderte, wollte sich dieses Amt aber nicht antun. Auch bei der zweiten Regierungsbildung, bei der das Zentrum den Kanzler stellte, 1921, hatte er seine Finger im Spiel; er unterstützte dabei den Kölner Oberbürgermeister und Vorsitzenden des Preußischen Staatsrates Konrad Adenauer bei seinem ersten, vergeblichen Versuch, an die Spitze einer deutschen Regierung zu kommen. Sein überraschender Tod hinderte ihn, noch weiter Einfluss auf die junge Demokratie auszuüben; allerdings hatte er sich ohnehin mit Rückzugsabsichten getragen und hätte sich vielleicht in jedem Fall aufs Altenteil zurückgezogen.
Es handelt sich also um eine interessante Figur, an der man nicht nur das Hineinwachsen der Katholiken in das Deutsche Reich, sondern auch die Integrationsprobleme des heterogenen politischen Katholizismus in der modernen Massengesellschaft, vor allem aber den Wandel des politischen Handelns im Aufkommen des politischen Massenmarktes darlegen kann. Die Professionalisierung der Politik, der Aufstieg des Interventionsstaates, die Orientierungsprobleme der ersten deutschen Demokratie: alle diese Prozesse könnte man an Trimborn exemplarisch zeigen. Dass mit dem Nachlass Trimborn im Historischen Archiv der Stadt Köln ein großartig erschlossener (und nun leider auf unabsehbare Zeit nicht mehr benutzbarer) Quellenbestand mit vielen privaten Quellen genutzt werden konnte, hätte die Aufgabe umso reizvoller gemacht.
Leider liest man davon in dem Buch kaum jemals etwas. Kuhl beschränkt sich geradezu hermetisch auf eine Nacherzählung der politischen Ereignisse und Trimborns Wirken dabei. Auf eine Kontextualisierung verzichtet er weitestgehend. Es spielt keine Rolle für das Buch, dass die Familie tiefgreifend durch den Kulturkampf geprägt war (auch der junge Carl hatte diesen mit wachen Augen beobachtet), aber danach sehr schnell und gründlich ihren Frieden mit der preußischen Monarchie machte. Carls Bruder Joseph brachte es immerhin bis zum preußischen Generalleutnant! Man erfährt kaum etwas über die Rolle von Trimborns tiefer persönlicher Frömmigkeit, die er mit seiner (in diesem Buch sehr unterschätzten) Frau Jeanne teilte, eine Frömmigkeit, die ihn aber nicht hinderte, immer wieder in Konflikt mit den konservativen Ultras seiner Kirche zu geraten. Auch der Umstand, dass Trimborn als Immobilienspekulant den Reichtum seines Vaters tätig mehrte, dennoch aber ein herausragender Exponent des Sozialkatholizismus war, schlägt nicht zu Buche. Das Buch zeichnet sich mithin zwar durch ereignisgeschichtliche Genauigkeit aus, aber es beharrt auf einer Engführung des Themas, die einen schmerzlichen Verlust an Erklärungskraft bedeutet. Was hat man von einer politischen Biographie, als deren Ergebnis am Ende mager die parteiinterne Integrations- und Kompromissfähigkeit des Protagonisten steht, eines Protagonisten zumal, an dessen historischer Bedeutung der Autor anscheinend selbst zweifelt (285)?
Dass aus dem Stoff so wenig Funken zu schlagen waren, mag auch damit zu tun haben, dass der Verfasser offenbar schlichtweg zu wenig Sekundärliteratur konsultiert und vor allem die neuere Forschung nicht eingearbeitet hat. Besonders die englischsprachige Literatur ist sträflich vernachlässigt - die im Literaturverzeichnis erwähnten Titel lassen sich an zwei Händen abzählen. Die gesamte jüngere Forschung zur Parlaments- und Wahlkultur (Anderson, Kühne, Biefang u.a.) wird ebenso souverän übersehen wie die aktuellen Arbeiten zur Verfassungsdiskussion der Weimarer Nationalversammlung, an der Trimborn aktiv beteiligt war (Bollmeyer, Immel, Bendix u.a.). Aber auch wichtige Biographien über Zeitgenossen und Weggefährten Trimborns, die vielleicht auch methodische Aufschlüsse über die Form der politischen Biographie hätten geben können, wie etwa Jürgen Mittags Arbeit über den SPD-Politiker Wilhelm Keil, werden nicht beachtet. Und nicht zuletzt nimmt die Arbeit Forschungen zu Trimborns politischer Herkunftskultur in Köln (etwa Schanks aufschlussreiche Arbeit "Kölsch-katholisch") nicht zur Kenntnis, wie auch Trimborns zwanzigjährige Tätigkeit als Stadtverordneter überhaupt keine Rolle spielt. Ist Kommunalpolitik nicht politisch genug für eine politische Biographie? So mögen die ereignisgeschichtliche Enge und der geringe Erklärungshorizont dieser Arbeit vielleicht auch damit zu tun haben, dass der Autor zwar fleißig die Quellen abgeschrieben hat und sie ebenso fleißig zitiert, dass ihm aber große Felder seines Forschungsumfelds verschlossen geblieben sind.
Thomas Mergel