Arnd Friedrich / Fritz Heinrich / Christina Vanja (Hgg.): Das Hospital am Beginn der Neuzeit. Soziale Refom in Hessen im Spiegel europäischer Kulturgeschichte. Zum 500. Geburtstag Landgraf Philipps des Großmütigen (= Historische Schriftenreihe des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen. Quellen und Studien; Bd. 11), Petersberg: Michael Imhof Verlag 2004, 318 S., ISBN 978-3-86568-001-3, EUR 29,90
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Seit Langem ist die Geschichte des Hospitals für verschiedene historisch arbeitende Fächer anregend. Die ältere Medizingeschichte betrachtete das Hospital vorwiegend unter architekturhistorischen Gesichtspunkten, die Rechtsgeschichte war an der mittelalterlichen Stiftungsidee, theologische Arbeiten an Konstruktionen von Barmherzigkeit interessiert. Die kunsthistorisch orientierte Architekturgeschichte brachte den Aspekt der Repräsentation mittels prachtvoller Hospitalbauten, die Sozialgeschichte der 1980er-Jahre Personal und Bewohner des Hospitals ins Gespräch. Insofern die Medizingeschichte über eine lange Tradition multidisziplinären Arbeitens sowie, spätestens seit der Formulierung einer "Sozial- (und Kultur-)geschichte der Medizin", auch über eine stabile programmatische Basis verfügt, tritt sie als Moderatorin des Gesprächs über die Geschichte des Hospitals auf.
Der vorliegende Sammelband geht auf Vorträge eines Kolloquiums zurück, das im September 2003 im 1533 von Landgraf Philipp zum Hospital umgewidmeten Kloster Haina stattfand und den Auftakt zu einer größeren Serie von Jubiläumsveranstaltungen zum 500. Geburtstag des hessischen Landgrafen darstellte. Der Band versammelt 21 Beiträge und ist in sechs Kapitel gegliedert. Kapitel 1 und 2 befassen sich mit den hessischen Hohen Hospitälern. Den Auftakt macht Christina Vanja, die die zwischen 1533 und 1542 in Haina, Merxhausen, Hofheim und Gronau (bei St. Goar) gestifteten Hohen, also landesherrlichen Hospitäler zwischen Mittelalter und Neuzeit verortet und damit die Erkenntnisqualität der Hospitalgeschichte am Tagungsort herausarbeitet. Alexandra-Kathrin Stanislaw-Kemenah vergleicht die Aufhebungen von Kloster- und Kirchengütern durch Philipp von Hessen und Moritz von Sachsen zu Gunsten der Armenfürsorge und des Hospitalwesens bei Philipp sowie zu Gunsten von Schulen und Universitäten bei Moritz und liefert damit einen Beitrag zu alternativen Legitimationsstrategien protestantisch-lutherischer, landesherrlicher Kirchen- und Religionspolitik des 16. Jahrhunderts. Diesen Strang greift Gury Schneider-Ludorff auf, die sich auf der Basis einer Analyse des "Gemeinen Nutzen" als theologisches Programm mit der Transformation von Barmherzigkeitsvorstellungen durch Humanismus und Reformation befasst. Wolfgang Friedrich vertritt die These, bei den hessischen Hospitalgründungen des 16. Jahrhunderts könne im Selbstverständnis der (protestantischen) Rechtswissenschaft der Zeit keinesfalls von "Säkularisation", sondern allenfalls von "Reformation" im Sinne einer Umwidmung, nicht aber im Sinne einer Enteignung (Profanation) geistlichen Eigentums die Rede sein. Einen Abriss über die ärztliche Versorgung durch auswärtige Spezialisten sowie durch fest bestallte Hospitalärzte und zur Prosopografie der Obervorsteher im 16. und 17. Jahrhundert bringt Gerhard Aumüller; Arnd Friedrich beschließt den ausschließlich den hessischen Hospitälern gewidmeten Teil mit einem Beitrag zur Hainaer Finanzwirtschaft, der aus theologischer Perspektive die Praxis der Hospitalfinanzierung aus Geldleihgeschäften auf der Folie lutherischen Wucherdiskurses und kanonischen Zinsverbotes beleuchtet.
Das folgende Kapitel umfasst sechs Beiträge zur Hospitalgeschichte der Schweiz und Österreichs, der Niederlande sowie dreier städtischer Untersuchungen über Frankfurt, Würzburg und Bamberg. Dorothee Rippmann bietet einen konzisen Überblick zur schweizerischen Hospitalgeschichte, der städtische und ländliche, herrschaftliche, adlige und stadtbürgerliche Hospitalstiftungen ebenso vergleichend in Augenschein nimmt, wie er spätmittelalterliche Kommunalisierungstendenzen und die Hauptrichtungen einer Sozialgeschichte der Fürsorge zwischen Inklusion und Exklusion an schweizerischen Beispielen des Spätmittelalters beleuchtet. Gustav Reingrabner beobachtet das burgenländische Spital als Spezialfall des habsburgischen Raumes unter dem Aspekt der Bedeutung von Kirche und Religion während der "evangelischen Phase" und der dann im 17. Jahrhundert von Wien aus betriebenen katholischen Konfessionalisierung. Jacob A. van Belzen untersucht die Rolle der Religion in den psychiatrischen Einrichtungen in den Niederlanden mit dem Ergebnis, dass die Religion beziehungsweise Theologie auf Konzeption und Organisation von psychiatrischen Krankenhäusern wenig bis keinen Einflusss nahm, sondern die favorisierten Modelle lediglich mit zusätzlichen Begriffen (Sünde, Buße, Gnade) theologisch auflud. Auf knapp neun Seiten umreißt Helmut Siefert die Geschichte des Frankfurter Kastenhospitals vom späten 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert; ähnlich knapp liefert Andreas Mettenleitner Entwicklungslinien vom frühneuzeitlichen Pfründnerspital zum modernen Stadtkrankenhaus am Beispiel des Würzburger Juliusspitals. Den Abschluss findet dieses Kapitel mit der Untersuchung Wolfgang F. Reddigs über die Bamberger Bürgerspitäler, die sich wieder auf den Zeitraum des 14. bis frühen 18. Jahrhunderts konzentriert und anhand der Analyse von Aufnahmegesuchen die wichtige Pfründnerinnen- und Pfründner-Perspektive des Weges in das Spital erläutert.
Diesem Pfad folgend, liefert Ortrun Riha einen sprach- und begriffshistorisch angelegten Beitrag über die Geschichte des Krankheitsbegriffs, der die historische Semantik von "krank" und "siech" differenziert und danach fragt, auf welcher Grundlage entsprechende Klassifizierungen getroffen wurden. Das 1529 publizierte "Spital-Buch" des Paracelsus und die 1610 gedruckten "Grewel der Verwüstung menschlichen Geschlechts" des Haller Stadtarztes Hippolytus Guarinius vergleicht Irmtraud Sahmland hinsichtlich ihrer Ansätze für die Reform des Spitalwesens. Robert Jütte erläutert wichtige Aspekte der Einweisung, medizinischen Versorgung und der Hospitalkost im frühneuzeitlichen Köln. Louise Gray befasst sich mit der methodischen Frage, welche Aspekte einer patientenbiografisch orientierten Geschichte der Krankheitsbewältigung sich anhand der überlieferten Reskripte der Hohen Hospitäler klären lassen. Ebenfalls mit hessischen Reskripten, daneben mit Zürcher und und Basler Hospitalakten arbeitet Iris Ritzmann über eine wenig beachtete Patientengruppe - Kinder. Sie bietet überzeugende Argumente, die gegen das Klischee einer kinderfeindlichen Frühen Neuzeit sprechen. Drei Fälle "religiösen Wahns" unter Hainaer Hospitaliten des 16. und 17. Jahrhunderts untersucht Fritz Heinrich anhand eines psychologiehistorisch angereicherten religionswissenschaftlichen Apparats. Im Schlusskapitel schließlich führt Klemens Dieckhöfer in das Stück "Los locos de Valencia" (Die Irren von Valencia) des barocken spanischen Dramatikers und Lyrikers Lope da Vega ein, Axel Hinrich Murken erläutert Hospitalszenen auf Bildnissen der Hl. Elisabeth, und Hannelore Pepke-Durix berichtet von den spätmittelalterlichen Erwerbs- und Bewirtschaftungsstrategien der Weingüter des Hôtel-Dieu im burgundischen Beaune.
Der Band bietet einen hervorragenden Überblick über das weite thematische, methodische und disziplinäre Spektrum der deutschsprachigen Hospitalforschung. Erfreulich ist der vergleichsweise hohe Anteil an theologisch-religionswissenschaftlich-kirchenhistorischen Beiträgen. Obwohl nicht alle Artikel gleichermaßen zur Klärung dessen beitragen, was hospitalhistorisch zum "Beginn der Neuzeit" formuliert werden könnte, wird doch deutlich, dass das frühneuzeitliche Hospital eine Überlieferung hinterlassen hat, die auch weiterhin Stoff für die verschiedenen historisch arbeitenden Disziplinen und historiografischen Schulen über eine gewaltige chronologische Erstreckung liefern wird. Die Diskussion verspricht also, vielseitig zu bleiben.
Fritz Dross