Wolfgang Brenner: Walther Rathenau. Deutscher und Jude, München / Zürich: Piper Verlag 2005, 519 S., 33 Abb., ISBN 978-3-492-04758-6, EUR 26,90
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Christian Schölzel: Walther Rathenau. Eine Biographie, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2006, 652 S., ISBN 978-3-506-71393-3, EUR 49,90
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Einmal Walther Rathenau mit Zigarre, der auf dem Schutzumschlag von links blickt (Brenner), einmal ein von rechts ins Bild tretender Rathenau mit Zigarette (Schölzel), insgesamt über 1.170 Seiten in zwei neuen Biografien und zusätzlich die Ankündigung, dass bald in der seit langem ruhenden Rathenau-Gesamtausgabe wieder neue Bände erscheinen sollen: Die Herausgeber der "Deutschen Erinnerungsorte" (2001) können sich eindrucksvoll bestätigt fühlen, Rathenau einen dieser Orte zugewiesen zu haben.
Die Biografie des Journalisten Brenner ist angenehm zu lesen. Sie ist flüssig geschrieben und liefert dem weniger informierten Leser auch ein Bild der Zeit. Gelegentliche Ausrutscher in allzu gegenwärtige Formulierungen - wie etwa: "die Events der boomenden Technikkultur" (31) - stören dabei nur wenig. Dies gilt an sich auch für die nicht zu übersehenden faktischen Fehler, die Brenner immer wieder unterlaufen. Wenige Beispiele: Friedrich Ebert zum "schwäbischen Handwerksmeister" (403) zu machen, ist nun gleich doppelt falsch; oder A. Joffe 1922 in Rapallo einmal als "Gesandten in Berlin" (420) und wenige Seiten später gar als "sowjetischen Botschafter in Berlin" (424) auftreten zu lassen, obwohl doch 1918 die diplomatischen Beziehungen abgebrochen worden waren und erst der Vertrag von Rapallo deren Wiederaufnahme vorsah, ist zumindest unschön. Überhaupt entspricht die Einordnung des Rapallo-Vertrags als großer Erfolg, durch den Deutschland "in kürzester Zeit wieder zu einem international geachteten und mächtigen Spieler auf dem großen Parkett wurde - zumindest bis Ende der dreißiger Jahre" (404), sicher nicht dem aktuellen Stand der Forschung.
Solche Fehler resultieren aber wohl eher aus dem gravierenderen Problem, das Brenners Lebensbeschreibung belastet: Es handelt sich nicht um eine wissenschaftliche Biografie, in der die neuere Rathenau-Forschung ausreichend berücksichtigt wird, sondern um eine sehr geschickte Kompilation des reichhaltigen Materials, das sich ganz überwiegend aus älteren Biografien und veröffentlichten Dokumenten speist. Dieses Material (und damit auch die so vielgestaltige Person Rathenau) wird sodann in einen interpretatorischen Rahmen gezwängt, der kaum mehr überzeugen kann - oder allenfalls den eingefleischten Anhänger einer sehr stark psychologisierenden Biografik. Zwar mag die Feststellung angehen, dass manches im Verhalten Rathenaus in denjenigen Formen des Antisemitismus, die ihn persönlich diskriminierten, und in seiner eigenen ambivalenten Einstellung zum Judentum seine Erklärung findet; ebenso mag der Befund stimmen, dass ihn das problematische Verhältnis zu seinem Vater lebenslang prägte und zu seiner immer wieder zwischen Kunst und Wirtschaft, Kultur und Industrie oszillierenden Persönlichkeit beitrug. Aber was soll man davon halten, wenn fast alles Spätere auf die Kindheitserfahrungen und -verhaltensmuster zurückgeführt wird, wenn beispielsweise die "Erfüllungspolitik" des Wiederaufbau- und Außenministers damit erklärt wird, dass Rathenau von klein an und vor allem aus der Erfahrung mit dem Vater "um die Zuneigung, die Liebe von Menschen ringen" sollte (44) und daher "ein Prototyp der Übererfüllung" (45) war? Das bleibt, auch wenn es als Erkenntnis verkündet wird, bestenfalls spekulativ, wie überhaupt das Spekulative an so mancher Aussage Brenners kaum zu übersehen ist: die Andeutungen über Rathenaus Homosexualität und deren konkrete Ausprägung oder die Erklärung seines Fatalismus angesichts der Morddrohungen nach dem Weltkrieg (und konkret 1922) aus einer geheimen Todessehnsucht heraus - was unverkennbar eine Anlehnung an frühe Rathenau-Biografien und deren Anleihe bei uralten hagiografischen Märtyrermotiven ist. Dass Brenner schließlich auch in der Disposition des Materials gelegentlich zu sehr ins Erzählen gerät und dabei sein Sujet, nämlich Rathenau selbst, fast vergisst, etwa bei der langatmigen Schilderung der Vorbereitung des Attentats und der Verfolgung der Täter, bei der er im wesentlichen die erstmals 1994 von Martin Sabrow zusammengetragenen Erkenntnisse referiert, ist ein weiterer Schwachpunkt, der allerdings denjenigen nicht stören mag, für den Brenners Biografie die erste Begegnung mit diesen Ereignissen von 1922 ist.
Ganz anders ist dagegen die aus einer Leipziger Dissertation hervorgegangene Arbeit von Schölzel einzuordnen. Sie ist schon rein äußerlich eine wissenschaftliche Biografie: 383 Textseiten folgen 270 Seiten mit Anmerkungen (was zum ständigen Hin- und Herblättern zwingt und dort zum Ärgernis wird, wo - sehr häufig - die Anmerkungsziffern im Text nicht mit den Anmerkungen im Anhang korrelieren!), Quellen- und Literaturverzeichnis und (leider nur ein Personen-)Register. Als Produkt eines immensen Aufwands werden Archivalien aus 85 Archiven verarbeitet, insbesondere erstmals die ca. 900 Akteneinheiten des Nachlasses Rathenau, die über Jahrzehnte unerreichbar im Sonderarchiv des KGB in Moskau lagen. Auch ist Schölzels Anspruch derjenige, der heute an eine moderne Biografie gestellt werden muss: Er will Rathenau nicht mit Etiketten belegen, sondern die Vielfältigkeit seiner Person in der Auseinandersetzung mit den Widersprüchen seiner Zeit darstellen. Da fast alle früheren Biografien Rathenau stets unter einem Leitmotto darstellten, ist dieser Anspruch Schölzels sehr erfreulich.
Auch Schölzel wendet sich selbstverständlich Rathenaus Prägung als Kind und Jugendlicher durch die (akkulturierte!) jüdische Herkunft und durch sein Verhältnis zu den in ihren Horizonten sehr unterschiedlichen Eltern zu, und ebenso selbstverständlich, weil bei einer Rathenau-Biografie offenbar unerlässlich, spielen diese Aspekte auch im weiteren Verlauf eine Rolle: etwa jene Aspekte des Selbsthasses oder der Übererfüllung, die natürlich nicht gänzlich zu ignorieren sind. Schölzel sieht aber die Grenzen dessen, was der Historiker als gesichert annehmen darf, was er in Frageform formulieren kann und was reine Spekulation bleibt. Folglich wird die frühe Lebensphase auch auf wenigen Seiten und damit deutlich kürzer abgehandelt als bei Brenner. Und auch für diese Phase und die nachfolgende von Studium und Berufsfindung versucht Schölzel - analog zu den Widersprüchen der Zeit - nicht, die inneren Widersprüche Rathenaus zu glätten, sondern interpretiert sie als das Ausprobieren von verschiedenen Lebensformen.
Aber das breite Erzählen, das Brenner praktiziert, ist Schölzels Sache nicht, sodass die gedrängte Form gelegentlich das Lesen mühsam macht und manchen mit Rathenau weniger vertrauten Leser wohl eher abschrecken dürfte. Hinzu kommt, dass der "private" Rathenau gegenüber dem "öffentlichen" immer weiter in den Hintergrund tritt. Da dieser "öffentliche" Rathenau erst später gut greifbar wird, fallen die nachfolgenden Phasen - der Aufstieg "zu einem international agierenden Industriellen" bis zum Eintritt in das Direktorium der AEG 1899 und anschließend das Wirken in diesem vielfach verflochtenen Weltkonzern sowie die ersten, gescheiterten Versuche des Zutritts in die Politik - noch relativ knapp aus. Intensiver werden Rathenaus frühe publizistisch-philosophische Bemühungen abgehandelt, die vor allem unter dem Aspekt der Auseinandersetzung mit dem ambivalenten Selbstbild als Jude und als Versuch einer sozialen Selbstverortung interpretiert werden. Mit der Hinwendung zu geschichtsphilosophischen, politischen und ökonomischen Arbeiten, wovon vieles ganz im Trend seiner Zeit auf der Kategorie der "Rasse" und deren vermeintlich festen Eigenschaften beruhte, erweiterte er sein Spektrum und wurde noch vor dem Ersten Weltkrieg - gemessen an den Auflagen - ein Erfolgsautor. Wie hier gaben auch bei seinen persönlichen Beziehungen und seinem sozialen Umfeld die Selbstwahrnehmung als Jude und das Ideal der vollständigen Akkulturation das Leitmuster vor.
Äußerst ausführlich und faktenreich wird Schölzels Biografie mit dem Beginn der Aktivitäten Rathenaus während des Ersten Weltkriegs. Er beschreibt jenes Oszillieren zwischen industriellen und nationalen Interessen, die nicht immer zur Deckung zu bringen waren, die mehrmonatige Tätigkeit als Leiter der Kriegsrohstoffabteilung, die "Politikberatung" und die Weiterentwicklung seiner Ideen von künftigen Staats- und Wirtschaftsformen, die zu Ende des Krieges in seinen gemeinwirtschaftlichen Konzepten mündeten. Angesichts von Kriegsende und Revolution ging es aber mehr um praktische Schritte als um die Umsetzung idealer Konzeptionen, sowohl für sein Unternehmen, die AEG, als auch für die wirtschaftspolitische Ausgestaltung des neuen Staates und schließlich für beides im Rahmen der internationalen Staaten- und Wirtschaftsordnung der Nachkriegszeit. Entsprechend hektisch - und keinesfalls so isoliert, wie dies in anderen Biografien, auch bei Brenner, dargestellt wird - verliefen für Schölzel zunächst die Bemühungen Rathenaus im industriellen und politischen Bereich, ehe sie 1920 in geordnetere Bahnen übergingen. Vielleicht ist es Schölzels Konzentration auf den "öffentlichen" Rathenau, die ihn nicht so isoliert wirken lässt; die "öffentliche" und die "private" Seite seiner Persönlichkeit waren nicht immer deckungsgleich, und die von Schölzel nun allenfalls noch am Rande mitverfolgten privaten Kontakte Rathenaus, die über sein ganzes Leben hinweg den seltsamen Kontrast von Geselligkeit und Einsamkeit durchlebten, mögen tatsächlich ein ganz anderes Bild, nämlich das der Vereinsamung, liefern.
Der wirksame politische Einstieg (nach der mehr oder weniger ergebnislosen Tätigkeit in der zweiten Sozialisierungskommission und im Reichswirtschaftsrat) gelang Rathenau dann mit seiner Sachverständigenrolle bei der Reparationskonferenz von Spa im Sommer 1920. In dieser Zeit entwickelte er auch seine außenpolitische Vorstellung von "kooperativer Revision" als begrenzter Zusammenarbeit mit den Westmächten, wie Schölzel in Anlehnung an G. Niedhart zutreffend formuliert. Eine Fortführung fand diese Politik in den jeweils wenigen Monaten als Wiederaufbauminister 1921, als er mit seinem französischen Kollegen Loucheur über das Wiesbadener Abkommen den Reparationsknoten zu lösen versuchte, und als Außenminister 1922. Schölzel prüft dabei, ob Rathenau in seinen letzten Monaten eine "schrittweise" und fragmentarische Abkehr von der "westorientierten Erfüllungspolitik" (325) vollzogen habe. Vielleicht ist diese Fragestellung aber ohnehin wenig tragfähig, wenn man sich vergegenwärtigt, dass auch Rathenaus praktische Außenpolitik, zumal in ihrer kurzen Dauer, in diesen Monaten eher eine reaktive Politik sein musste, wie sie - von einzelnen konzeptionell-tastenden Versuchen abgesehen - für die deutsche Außenpolitik in den Jahren 1919 bis 1923 überhaupt charakteristisch war.
Die detaillierte Aufarbeitung der an sich bekannten Vorgänge von Genua und Rapallo im Frühjahr 1922, eine recht geraffte Darstellung des Attentats und ein knapper Überblick über die frühen Würdigungen Rathenaus nach seinem Tod beenden das Buch - und lassen den Leser angesichts der ausgebreiteten Materialfülle, nach zwei Biografien und insgesamt über 1.100 Seiten "Rathenau" ein wenig ratlos zurück, was moderne Biografik denn angesichts einer so komplexen Persönlichkeit wie Rathenau heute leisten kann und wie der Mittelweg zwischen breiter Erzählung und gelegentlich überbordender Empirie zu finden wäre.
Wolfgang Elz