Anatolij Stepanovič Čajkovskij: Plen. Za čužie i svoi grechi. (Voennoplennye i internirovannye v Ukraine 1939-1953 gg.). [Gefangenschaft. Für fremde und eigene Sünden (Kriegsgefangene und Internierte in der Ukraine 1939-1953)], Kiev: Parlamentskoe izdatel'stvo 2005, 970 S., ISBN 978-966-611-382-8
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Die historische Forschung nimmt Kriegsgefangenschaft und Internierung zunehmend als wichtigen Aspekt von Kriegs- und Nachkriegsgesellschaften wahr. In diesem Gesamtkontext erfreut sich gerade die Geschichte der Gefangenen des Zweiten Weltkriegs in der UdSSR seit Jahren eines gesteigerten Interesses. Dabei hat die andauernde "Umwertung" der sowjetischen Geschichte auch auf diesem Feld ihre Spuren hinterlassen. [1] Das gilt nicht zuletzt für russische Arbeiten, während die Forschungen in anderen Nachfolgestaaten der UdSSR nur zögerlich in Gang kommen; dieser Befund gilt auch unter Berücksichtigung vertrieblicher und sprachlicher Rezeptionsprobleme. [2] Das ist umso bedauerlicher, als die nationalen - aus sowjetischer Sicht: regionalen - Fokussierungen auf Grund zusätzlicher Überlieferungen, möglicher regionaler Ausdifferenzierungen oder spezifischer Perspektiven für die Erforschung der sowjetischen Geschichte fruchtbar gemacht werden könnten.
In der Ukraine hat sich Anatolij Čajkovskij, Akademiemitglied und Professor an der Akademie des Innenministeriums der Ukraine, bereits 2002 daran gemacht, diese Lücke zu schließen: Das hier zu besprechende Werk ist eine erheblich erweiterte und überarbeitete Neuauflage der früheren Ausgabe. [3] Es ist, das lässt sich vorwegnehmen, ein Standardwerk zur Geschichte der Kriegsgefangenen in der UdSSR geworden: Biografische Skizzen führender Mitarbeiter der zuständigen Verwaltungen und Innenbehörden der gesamten Sowjetunion, der Abdruck bzw. die ausführliche Zitierung zahlreicher Primärquellen sowie ein umfangreiches Glossar unterstreichen diesen Gesamteindruck. Der enzyklopädische Anspruch macht das Werk zugleich zu einer Fundgrube für die Geschichte der für die Kriegsgefangenen- und Interniertenverwaltung verantwortlichen sowjetischen Sicherheitsdienste schlechthin: Es finden sich beispielsweise äußerst interessante Angaben zur Kaderauslese des NKVD (1938; 197-201), zum ukrainischen Agentennetz der Nachkriegsjahre (522, 536 f.) oder eine wichtige Information über die Dimension der Strafverfolgung "aktiver Kollaborateure" in der Ukraine 1943 bis 1953 (54.261 Verurteilungen; 539). Dabei verzichtet der Autor leider generell auf die Angabe genauer Belegstellen und begnügt sich im Anhang mit einer knappen Aufzählung der über zehn, offenkundig ausgiebig, genutzten Archive in der Ukraine und in Russland. Die anschließende Bibliografie ist im Übrigen ein erneuter Beleg für die schon aus sprachlichen Gründen begrenzte Rezeption "westlicher" Forschungsergebnisse durch die postsowjetische Historiografie. Ein bedenkliches Beispiel dafür liefert hier u. a. der Bezug auf eine aktuelle Übersetzung des längst überholten, keineswegs unproblematischen Buches von Paul Carell und Günter Böddeker. [4] Dass die Wahrnehmung der Forschungen immer noch von vielen Zufälligkeiten abhängt, gilt natürlich umgekehrt ebenso: Von daher ist es nur zu begrüßen, dass die Übersetzung der Darstellung Čajkovskijs ins Deutsche bereits in Angriff genommen wurde.
Auf ukrainischem Gebiet erreichte die Zahl ausländischer Kriegsgefangener und Internierter 1946 mit 450.000 Personen ihren Höhepunkt. Allein unter den über 300.000 Kriegsgefangenen befanden sich gut 240.000 Deutsche (115, 144). Das waren rund zehn Prozent der registrierten Gesamtzahl in sowjetischem Gewahrsam, sodass die Ukraine nach Russland die zweitgrößte (innersowjetische) Gewahrsamsmacht darstellte. Die Zahlen für die Internierten sind ungewisser, in der Tendenz aber eindeutig: Die Ukraine war ein Hauptziel der Massendeportationen Deutscher 1944/1945. So befanden sich im April 1945 von 150 sowjetischen Arbeitsbataillonen für Internierte 124 in der Ukraine (118). Der Autor geht schließlich von rund 100.000 Gefangenen aller Nationalitäten aus, die ab 1939 in der Ukraine verstarben - das entspricht seinen Schätzungen zufolge einem Siebtel der unionsweiten Todesrate (384 f.). Dabei kann Čajkovskij auf der Basis detaillierter Lokalstudien nachweisen, dass die entsprechenden Statistiken vor Ort noch lange nach Kriegsende höchst ungenau geführt wurden. Daher werden sich die bis heute umstrittenen genauen Zahlen nie mehr ermitteln lassen (407 f., 786), zumal die Grabstätten selbst im Laufe der 1950er- bis 1970er-Jahre verkamen, eingeebnet und bebaut wurden. Doch deuten allein schon die genannten Eckdaten auf die generell schweren Lebens- und Arbeitsbedingungen in der durch Krieg und Besatzung verheerten Ukraine insgesamt sowie auf die besonders hohe Sterblichkeit unter deportierten Zivilisten hin.
Vor diesem Hintergrund entwirft Čajkovskij ein facettenreiches und ausgewogenes Gesamtbild der Gefangenschaft ausländischer Soldaten und Zivilisten in der UdSSR ab 1939. Das erste Kontingent stellten 1939 die polnischen Gefangenen eines unerklärten Kriegs. Von ihnen wurden bis Anfang Oktober 1939 schon über 130.000 gezählt. Wesentlich geringer war die Zahl finnischer Gefangener aus dem so genannten Winterkrieg. Die wechselseitige Repatriierung der Gefangenen dieses Feldzugs wurde bis April 1941 abgeschlossen, wobei Stalin schon jetzt gefangene Rotarmisten mit äußerstem Argwohn betrachtete: Von den etwa 5.000-6.000 sowjetischen Heimkehrern verurteilten sowjetische Gerichte 4.500 Mann (93). An dieser Grundeinstellung gegenüber den eigenen Truppen sollte sich auch im Großen Vaterländischen Krieg nichts ändern. Čajkovskij ruft in Erinnerung, dass die so genannten Spezialkontingente "ehemaliger" Rotarmisten bis 1944 in Lagern der 1939 gegründeten sowjetischen Kriegsgefangenenverwaltung (UPVI) bewacht wurden. Der stalinistisch-repressive Charakter der Verwaltung wurde noch dadurch verstärkt, dass diese eine Dienststelle des sowjetischen Volkskommissariats des Innern (NKVD-MVD) war und Verantwortliche und Mitarbeiter aus den Erfahrungen des GULag schöpften. Das schloss zugleich die Übernahme der dort herrschenden Misswirtschaft durch die neue Verwaltung ein.
Analog zum GULag standen auch in der Kriegsgefangenen- und Interniertenverwaltung die sichere Bewachung der Gefangenen und deren Arbeitseinsatz im Mittelpunkt aller sowjetischen Bemühungen. In der Ukraine lag ein besonderer Schwerpunkt auf dem Kohlebergbau und dem Bau von Anlagen der Schwerindustrie, deren harte Gesamtsituation das Los der Gefangenen zusätzlich erschwerte. Moskauer Vorgaben, im Zusammenhang mit der sukzessiven Einbeziehung Ungarns und Rumäniens in den sowjetischen Orbit Gefangene aus diesen Ländern hinsichtlich Unterkunft, Verpflegung und Arbeitseinsatz gegenüber Deutschen zu privilegieren, wurden auf Grund der realen Gegebenheiten nur höchst zögerlich umgesetzt.
Trotz dieser versuchten Abstufung streicht Čajkovskij zu Recht die fundamentalen Unterschiede heraus, die zwischen der sowjetischen und deutschen Kriegsgefangenenpolitik herrschten: Im März 1945 ordnete das NKVD beispielsweise an, sowjetische Mediziner, die, aus welchen Gründen auch immer, in sowjetischen Gefängnissen einsaßen, in Kriegsgefangenenlager zu überstellen, um dem Massensterben hinter Stacheldraht Herr zu werden (373). Auf lange Sicht wurden arbeitsunfähige und kranke Gefangene sowjetischerseits schließlich repatriiert und nicht dem Tod überantwortet. Auch die sowjetischen Übergriffe an der Front (96 f., 104 f., 548 f.) dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass diesen keine befohlene und grundsätzliche Vernichtungspolitik der sowjetischen Führung zu Grunde lag. Der Waffeneinsatz gegen Gefangene in den Lagern galt folgerichtig als "äußerstes Mittel" und zog immer penible Untersuchungen nach sich (168). Čajkovskij thematisiert in diesem Kontext allerdings auch, dass der Umgang der Partisanen mit ihren mindestens 45.000 gefangenen Soldaten erheblich schlechter war. Hier wurde wohl die Mehrheit nach Befragungen erschossen.
Insgesamt zeigt sich die Behandlung der Gefangenen in der Ukraine wie in der gesamten UdSSR als Produkt individueller Fehler, systemimmanenter Prioritätensetzungen und Mechanismen des Stalinismus sowie objektiver Notlagen. An letzteren trug der deutsche Angreifer ein gerüttelt Maß an Schuld, sodass der Umgang sowjetisch-ukrainischer Apparate mit Kriegsgefangenen und Internierten, die verdächtigt wurden, Kriegs- und Gewaltverbrechen begangen zu haben, natürlich einen wichtigen Schwerpunkt der Untersuchung Čajkovskijs bildet. Minuziös legt er die schwerwiegenden juristischen Mängel und politischen Instrumentalisierungen aller sowjetischen Strafverfahren bloß. Das schließt, wie das Beispiel des Kiever Prozesses von Januar 1946 zeigt, im Übrigen die Vernachlässigung der Holocaust-Toten als eigenständige Opfergruppe ein. Während der Autor diesem Aspekt nur wenig Aufmerksamkeit widmet, zeugen die präsentierten Stimmungsberichte aus Kiev von antisemitischem Resonanzboden in Teilen der lokalen Bevölkerung (569 f.).
Die Tätigkeit der ermittelnden Sicherheitsapparate beschränkte sich allerdings keineswegs auf die Verfolgung von Kriegs- und Gewaltverbrechen, sondern suchte zugleich nach Informationen über sowjetische "Kollaborateure" sowie nach Perspektivagenten, die der UdSSR nach der Repatriierung von Nutzen sein könnten. Ähnlich langfristige Zielsetzungen sieht Čajkovskij schließlich auch in der Antifa-Bewegung mit gegeben, die tatsächlich "potentielle Kommunisten" und keine "Demokraten" generieren wollte (744).
Čajkovskij ist, wie bereits gesagt, eine beeindruckende Gesamtdarstellung der Kriegsgefangenschaft in der UdSSR mit zahlreichen Seitenblicken auf die Internierung gelungen. Die vereinzelte unglückliche Übernahme zeitgenössischer Bewertungen von "revanchistisch gesinnten Gefangenen" (237) oder sowjetischen "Verrätern" (502 f.) sowie der unaufgelöste Widerspruch zwischen der vermeintlich qualitätsvolleren Ermittlungsarbeit in der Ukraine und der eindeutigen politischen Ausrichtung ihrer Tätigkeit (583, 609-611) betreffen bloße Details. Von weitaus größerer Bedeutung ist die ansonsten stringente Argumentation, die die sowjetische Kriegsgefangenenpolitik mitsamt ihrer Bemühungen und Missstände klar analysiert und Verantwortungen erfrischend deutlich benennt. Dabei zeigt die Studie Čajkovskijs zugleich, dass die wesentlichen Entscheidungen in der Kriegsgefangenenpolitik in Moskau und nicht in Kiev getroffen wurden. Die ausführlichen Belege über die Realität in den ukrainischen Lagern zeugen von den vielfältigen Hindernissen und Problemen bei der Umsetzung zentraler Direktiven. Nennenswerte ukrainische Handlungsspielräume, spezifische Einflüsse ukrainischer Politkader, wie etwa Kaganovič, und regionale Ausprägungen in der Behandlung der Kriegsgefangenen hat es der Darstellung Čajkovskijs zufolge kaum gegeben.
Anmerkungen:
[1] Der Begriff nach Dietrich Geyer (Hg.): Die Umwertung der sowjetischen Geschichte, Göttingen 1991.
[2] Der aktuellste Forschungsüberblick für die deutschen Gefangenen ist Viktor B. Konasov/Aleksandr L. Kuz'minych: Nemeckie voennoplennye v SSSR: istoriografija, bibliografija, spravočno-ponjatijnyj apparat, Vologda 2002. An aktuellen allgemeinen Publikationen sind zu nennen: V. L. Voroncov (Hg.): Vengerskie voennoplennye v SSSR. Dokumenty 1941-1953 godov, Moskau 2005; Aleksandr L. Kuz'minych: Inostrannye voennoplennye vtoroj mirovoj vojny na evropejskom severe SSSR (1939-1949 gg.), Vologda 2004. Aus Belorussland vgl. bereits Anatolij V. Šarkov: Voennoplennye i internirovannye na territorii Belarusi. Rol' organov vnutrennich del v ich soderžanii i trudovom ispol'zovanii (1944-1951 gg.), Minsk 1997.
[3] Anatolij Stepanovič Čajkovskij: Plen. Za čužie i svoi grechi. (Voennoplennye i internirovannye v Ukraine 1939-1953 gg.), Kiev 2002.
[4] Die Gefangenen, Frankfurt a. M. 1980 = Nemeckie voennoplennye Vtoroj mirovoj vojny. 1939-1945 gg., Moskau 2004.
Andreas Hilger