Marian Füssel / Thomas Weller (Hgg.): Ordnung und Distinktion. Praktiken sozialer Repräsentation in der ständischen Gesellschaft (= Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs 496; Bd. 8), Münster: Rhema Verlag 2005, 259 S., 4 s/w-Tafeln, ISBN 978-3-930454-55-6, EUR 36,00
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Der vorliegende Band versammelt (mit zwei nachträglich aufgenommenen Ausnahmen) Beiträge eines Workshops im Rahmen des DFG-Sonderforschungsbereichs 496: "Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur französischen Revolution". Bei den zehn Autoren handelt es sich durchweg um jüngere Wissenschaftler, deren formal wie inhaltlich anspruchsvolle Beiträge meist das Thema ihrer unlängst erfolgten Promotion aufgreifen. Hervorzuheben sind nicht zuletzt die durchgehend reichen, hochspezialisierten Literaturangaben, wenn sie auch die Beiträge stark fußnotenlastig machen und überdies manche Titel immer wieder neu genannt werden.
Bezugnehmend auf das (ihnen offenbar kongeniale) Postulat einer "kulturalistischen Wende in der Geschichtswissenschaft" (10) ergreifen die Herausgeber Position gegen die Annahme, gesellschaftlicher Rang sei in Alteuropa durch "objektive", etwa wirtschaftliche oder rechtliche Gegebenheiten determiniert gewesen. Dies sei nicht "unmittelbar" der Fall gewesen, vielmehr habe die soziale Ordnung in der alltäglichen Praxis stets neu hergestellt werden müssen, ein Tatbestand, der sich in vielfältigen Rangstreitigkeiten äußerte. Wie die Beiträge zeigen, gab es hier durchaus Spielraum, waren klare und zumal dauerhafte Lösungen nicht die Regel und wurden derlei Lösungen oft gar nicht angestrebt. Thema des Bandes sind just die Modalitäten dieser alltäglichen Herstellung gesellschaftlicher "Distinktion".
Die Herausgeber führen weiter aus, die Erkenntnis, "dass gerade die Konflikte um den zeremoniellen Vorrang einen zentralen Bestandteil adelig-höfischer Kommunikation bildeten", habe sich zwar in der "neueren Hofforschung" bereits durchgesetzt, doch habe höfisches Zeremoniell zugleich über den höfischen Rahmen hinaus gewirkt. Entsprechend befassen sich die Beiträge mit Rangstreitigkeiten etwa im Rahmen der Universitäten (M. Füssel am Beispiel Tübingens und Ingolstadts), der städtischen Begräbniskultur (Th. Weller am Beispiel Leipzigs), Streitigkeiten unter städtischen Zünften (C. Strieter am Beispiel Lippstadts), im Rahmen der Rechtsprechung in Beleidigungsprozessen zwischen standesungleichen Personen (R.-P. Fuchs) oder im Rahmen der vorreformatorischen Eidgenossenschaft (M. Jucker).
Ebenfalls im städtischen Bereich bewegen sich die Darlegungen von S. Rüther über den gemeindeinternen Status Lübecker Ratsherren praktisch ab urbe condita und die Art, wie er aufrecht erhalten bzw. ausgedrückt wurde. Th. Lüttenberg schreibt zur gesellschaftlichen Stellung französischer Kronbeamter, H. Droste zur barocken Briefkultur als Spiegel des Umgangs mit Rangunterschieden. Höfisches Zeremoniell selbst behandelt nur einer der Beiträge (A. Pečar am Beispiel des Wiener Hofes).
Sammelbänden droht stets die Gefahr der Heterogenität, ja einer gewissen Beliebigkeit der einzelnen Beiträge; hier waren die Herausgeber deutlich auf Disziplin und Verklammerung bedacht. Dies zumal mittels einer soziologisch orientierten Herangehensweise und Terminologie, so wenn in geradezu leitmotivischer Manier fast jeder der Beiträge Pierre Bourdieu und dessen Definition von Ehre als "symbolisches Kapital" aufgreift. Das wirkt zuweilen aufgesetzt. Doch insgesamt war das Bemühen erfolgreich, sind die Beiträge nicht nur an sich von hoher Qualität, sondern bei aller (und unter diesen Umständen nur zu lobenden) Bandbreite der behandelten Problematiken stets der übergeordneten Themenstellung verpflichtet.
Lediglich bei den Ausführungen von Th. Mutschler zur Praxis (nichtöffentlicher, vielmehr im denkbar kleinsten Kreis veranstalteter) Gelöbnisse heranwachsender männlicher Erben auf die Hausordnung des reichsgräflichen Hauses Ysenburg-Büdingen vermag ich einen Zusammenhang zur Frage der Herstellung von "Distinktion" (die doch wohl zwangsläufig öffentlich erfolgt) nur schwer zu erkennen. Die von Mutschler eher am Rande vertretene These, die im Haus Ysenburg-Büdingen praktizierten häufigen Teilungen der Herrschaft unter mehreren Erben hätten gewissermaßen auch der Akkumulation von Ehre gedient, ist interessant, aber, zumal kaum ausgeführt, nur bedingt plausibel (und im 18. Jahrhundert ging man dann doch zur Primogenitur über).
Mehrere der Beiträge machen deutlich, dass in Deutschland der Austrag von Rangstreitigkeiten im 17. und 18. Jahrhundert verstärkt landesherrlicher Einflussnahme unterlag. Dies war offenkundig nicht nur auf Bemühungen der Fürsten selbst zurückzuführen, vielmehr neigten auch die Betroffenen zunehmend dazu, durch Berufung auf die zuständigen Fürsten deren Prestige für sich zu nutzen. Landesherrliches Interesse traf sich so mit dem Interesse, ja der Initiative einer der Parteien einer Rangstreitigkeit, und ließ den "fürstenferneren" Gegenspieler ins Hintertreffen geraten. Hieran zeigt sich einmal mehr die gewachsene Ausstrahlung der Fürsten auf die Gesamtgesellschaft im 17. und 18. Jahrhundert und ein entsprechend gemindertes "Eigenprestige" von Körperschaften - so im Fall der städtischen Gremien Leipzigs (Rat) oder Lippstadts (Rat und "Tribunium", ein zünftedominiertes Vertretungsorgan der Bürgerschaft) oder der Universitäten (hier am Beispiel Leipzigs, Tübingens und Ingolstadts).
A. Pečar zeigt, dass sich am Wiener Hof nach 1648 ein System durchsetzte, das den Rang der Mitglieder des Hofstaates auschließlich aus ihrer "Kaisernähe" ableitete, konkret der Inhaberschaft des Hofamtes eines Kämmerers oder Geheimen Rats; die Rangfolge der Träger dieser beiden Titel untereinander bestimmte wiederum ausschließlich die Anciennität. Geburtsständische Unterschiede negierte dieses System, allen just daraus entstehenden Verstimmungen zum Trotz, zugunsten einer Festlegung der höfischen Hierarchie allein durch den Herrscher selbst. Außerhalb des Hofes im engeren Sinne indes hat nach Pečar dieses System den hohen Adel dazu angespornt, seinen gesellschaftlichen (im Unterschied zum höfischen) Rang namentlich durch Repräsentationsbauten umso entschiedener zu plakatieren. Entgegengekommen sei ihm dabei ein vergleichsweise geringes kaiserliches Interesse an solcher Bautätigkeit zur Verherrlichung der Krone selbst.
Dem durch die Rangordnung bei Hof behinderten Rangstreben der hohen Nobilität solchermaßen ein Ventil zu schaffen, mag kein bewusstes Kalkül gewesen sein. Es fügt sich aber in ein Bild, das auch andere Beiträge erkennen lassen: die gesteigerte Ausstrahlung der Fürsten konnte Akzentverschiebungen im gesellschaftlichen Ranggefüge bewirken; dieses aber grundlegend zu verändern waren die Fürsten weder in der Lage noch interessiert.
Wie Th. Lüttenberg am Beispiel der Stadt Bourges darlegt, scheiterten die königlichen Finanzbeamten (trésoriers-généraux) trotz lang anhaltender, zäher Bemühungen bei dem Versuch, ihren gegenüber den königlichen Justizbehörden höheren Rang bei öffentlichen Anlässen (namentlich Prozessionen) tatsächlich durchzusetzen; und das, obwohl ihnen dieser Vorrang durch den königlichen Rat im späten 16. Jahrhundert ausdrücklich bestätigt worden war. Schließlich (1681) revidierte umgekehrt die Krone ihren Standpunkt und passte ihn der etablierten Praxis an. Im Fall Leipzigs schob der sächsische Hof Bemühungen kurfürstlicher Amtsträger, unter Berufung auf diesen Status Präzedenz sogar vor dem Bürgermeister zu erlangen, einen Riegel vor, indem der Bürgermeister selbst zum Kurfürstlichen Rat erhoben wurde. Ähnlich wie in Bourges gelang andererseits die Durchsetzung eines Präzedenzanspruches in der Praxis nicht selten auch dann nicht, wenn er sich kurfürstlicher Unterstützung erfreute.
Behandeln die übrigen Beiträge Auseinandersetzungen auf der Grundlage bestrittener Präzedenz, sticht der Aufsatz von R.-P. Fuchs davon ab, indem er Auseinandersetzungen trotz unbestritten ungleicher Stellung untersucht, nämlich Klageerhebungen rangniederer Personen wegen Ehrverletzung. Auch wenn die Aufgeschlossenheit der deutschen Rechtsprechung im 17. und 18. Jahrhundert gegenüber den Belangen "mindermächtiger" Personen bereits vielfach belegt worden ist, mögen die von Fuchs beleuchteten Verfahren Erstaunen wecken. So der Fall der einfachen Dienstmagd von angeblich lockerer Moral, die sich vor Gericht dagegen wehrt, von dem Rentmeister, bei dem sie um einen Geburtsbrief angesucht hatte, als "sack" und "hure" bezeichnet worden zu sein (1605), oder des westfälischen Adligen, der von einem seiner Eigenhörigen wegen versuchter körperlicher Züchtigung belangt wird - und das, obwohl der Geschädigte offenbar ziemlich unsanft zurückgeschlagen hatte (1748; in beiden Fällen erkennt das Gericht auf Geldbußen zugunsten der Kläger). Zwar, so Fuchs, könne von voller Gleichbehandlung standesungleicher Personen vor Gericht nicht die Rede sein, doch ließen "sich die aufgefundenen Urteile insgesamt recht klar über ein Rechtsystem erklären, das dem Ordnungssystem Recht gegenüber dem Ordnungssystem Rang bzw. Stand Priorität einräumte" (179).
Nicht zuletzt im Aufzeigen manchmal überraschender Eigenheiten im hierarchischen sozialen Gefüge des vorrevolutionären Europa liegt eine Stärke dieses empfehlenswerten Bandes.
Andreas Osiander