Martin Gierl: Geschichte und Organisation. Institutionalisierung als Kommunikationsprozess am Beispiel der Wissenschaftsakademien um 1900 (= Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Philologisch-Historische Klasse. Dritte Folge; Bd. 233), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004, 667 S., 25 Abb., ISBN 978-3-525-82505-1, EUR 149,00
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Die Geschichte wissenschaftlicher Institutionen in Deutschland - zumal der Wissenschaftsakademien und ihrer bedeutendsten Kommissionen - ist ein gut erforschter Arbeitsbereich. Die Studien der letzten Jahre entstanden vor allem im Zusammenhang mit Forschungen zum frühneuzeitlichen Wissensbegriff oder mit Akademiejubiläen; ihr Untersuchungsinteresse ist vorwiegend wissenschafts- und geistesgeschichtlicher, mitunter auch biografischer Natur. Martin Gierls von Rudolf Vierhaus betreute Göttinger Habilitationsschrift versteht sich als Ergänzung dieser Ansätze mit kommunikationsgeschichtlicher Ausrichtung. Die Untersuchung beschäftigt sich mit der Reorganisation der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften Anfang der 1890er-Jahre, der Gründung des deutsch-österreichischen Akademiekartells 1893 und der Einrichtung der Internationalen Assoziation der Akademien (IAA) 1899 sowie den ersten Entwicklungsschritten dieser Institutionen.
Eine besondere Note erhält die Studie durch die Absicht ihres Verfassers, den Prozess der Institutionalisierung nicht allein hinsichtlich ihres Ergebnisses, sondern auch hinsichtlich der Visionen und Absichten zu analysieren, die an seinem Anfang und in seinem Verlauf standen und entstanden: "Die Frage nach der Institutionalisierung stellen heißt, nach der sozialen Konstruktion der Gesellschaft fragen, wie sie funktioniert, was die Menschen dazu bringt, Institutionen zu bilden, wie sie das überhaupt können, d. h. wie es gelingt, den Dingen der Lebenswelt Bedeutung zuzuschreiben, wie aus Praxis und der Interpretation der Welt soziale Tatsachen zu entstehen vermögen" (16). Dementsprechend beginnt Gierl mit einem Kapitel über die "Pläne" zur Neuordnung der Göttinger Wissenschaftsgesellschaft, worunter er erste "Realutopien", Gutachten, Projektvorschläge wie auch die daraus hervorgegangenen offiziellen Pläne fasst. Ein zweites Kapitel über "Planungen" untersucht die Kommunikation der Hauptverantwortlichen im Gründungsprozess, um so die Entstehung der Gesellschaft aus dem Für und Wider der Meinungen sowie dem Entwickeln, Akzeptieren und Verwerfen von Konzepten deutlich werden zu lassen. Ein dritter Abschnitt ist mit "Organisationsgefüge" überschrieben. In ihm geht es um die Projektentwürfe und Ereigniszusammenhänge, die zur Gründung des Kartells führten. Mit "Organisation in der Organisation" betitelt Gierl sein mit über 200 Seiten Umfang ausführlichstes Kapitel über das Verhältnis und den Verkehr zwischen einzelnen Akademien und der IAA. Ein abschließender Ausblick ist der Rezeption der IAA gewidmet.
Die Abschnitte über die Gründung und Anfangsjahre der IAA sind sicher der interessanteste und dichteste Teil des Bands. Hier wird der regionale und nationale Kontext überstiegen und in die internationale Entwicklung eingereiht; hier werden ausführliche, mit zahlreichen Statistiken und Tabellen veranschaulichte Details über die Finanzierung von Wissenschaft sowie deren Zusammenhang mit politischem Handeln und sozialer Lebenswelt gegeben; hier wird schließlich auch der zeitlich weiteste Bogen von der Gründung der IAA bis zum Ausblick auf die Reorganisation internationaler Akademiekooperation nach dem Ersten Weltkrieg geboten. Demgegenüber tritt allerdings die Betrachtung der individuellen Anteile von Forscherpersönlichkeiten wie Paul Anton de Lagarde, Felix Klein, Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff und Theodor Mommsen am Gründungs- und Organisationsprozess der Institutionen in den Hintergrund, die ein Vorzug der ersten Kapitel ist. Kennzeichnend für den gesamten Band ist ein hohes Maß an Detailgenauigkeit sowie eine enge Orientierung an den Quellen, die sich häufig in wörtlichen Zitaten widerspiegelt und auf einem breiten Fundament untersuchter Archivbestände beruht.
Durch seinen kommunikationsgeschichtlichen Ansatz unterscheidet sich "Geschichte und Organisation" deutlich von einer altbackenen Akademiengeschichte, die die Geschichte von Institutionen in der Regel als Verwirklichung der Absicht einer oder weniger Forscherpersönlichkeiten beschrieben hat. Auch Gierl verliert diese Ideen und Persönlichkeiten nicht aus dem Blick; er ordnet sie aber in eine prozessuale Dialektik ein, die die Ideen und Persönlichkeiten als Bedingungsfaktoren von Geschehen und das Geschehen wiederum als Handlungsvoraussetzung für die Forscher und die Entwicklung ihrer Pläne und Visionen versteht. Der Autor knüpft damit an theoretische Vorgaben an, die vor allem im Rahmen einer Diskurs- und Systemtheorie entwickelt worden sind und ihr Untersuchungsgebiet als Handlungsfeld betrachten. Die Qualität, die der Band durch die konsequente Anwendung dieses Ansatzes erhält, leidet allerdings etwas darunter, dass der Autor sich ebenso konsequent bemüht, den Theoriegehalt seiner Arbeit stets herauszustellen. Dies führt zu zahlreichen emphatischen ("Institutionalisierungsprozess ist Geschichte", 19) und kryptisch anmutenden Sentenzen ("Geschichte vollzieht sich als Institutionalisierung und Institutionalisierung in Kommunikationskohärenz", 593), die die Aussagekraft der Ergebnisse nicht erhöhen.
Stefan Jordan