Roy Hattersley: The Edwardians, London: Little, Brown and Company 2004, vii + 520 S., ISBN 978-0-316-72537-8, GBP 25,00
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A. N. Wilson: After the Victorians 1901-1953, London: Hutchinson 2005, xii + 609 S., ISBN 978-0-09-179484-2, GBP 25,00
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Steffen Bender: Der Burenkrieg und die deutschsprachige Presse. Wahrnehmung und Deutung zwischen Bureneuphorie und Anglophobie 1899-1902, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2009
Bernd Greiner / Tim B. Müller / Claudia Weber (Hgg.): Macht und Geist im Kalten Krieg, Hamburg: Hamburger Edition 2011
Paul Nolte: Hans-Ulrich Wehler. Historiker und Zeitgenosse, München: C.H.Beck 2015
Auf den ersten Blick haben die beiden hier zu besprechenden Darstellungen von Roy Hattersley und A. N. Wilson vieles gemein. Beide widmen sich der britischen Geschichte nach dem Ende der fast 64 Jahre währenden Herrschaft Königin Victorias. Beide grenzen sich von der traditionellen Sichtweise ab, die im edwardianischen Zeitalter zwischen Jahrhundertwende und 1914 eine friedlich-idyllische Spätblüte des britischen Weltreiches vor der grauenhaften Zäsur des Ersten Weltkrieges erblickt. Sowohl Hattersley als auch Wilson zeichnen stattdessen - auf den Spuren von George Dangerfields 1935 publiziertem Klassiker "The Strange Death of Liberal England" - das Bild einer innerlich zerrissenen Gesellschaft im Übergang, in der das irische Problem überzukochen drohte, die Armee meuterte, Suffragetten Landhäuser in Brand setzten, die Gewerkschaften ihre Streikmacht entdeckten und das Oberhaus mutwillig eine Verfassungskrise vom Zaun brach.
Beide Autoren sind keine professionellen Historiker. Vielmehr gehören sie zu der in Großbritannien zahlreicher als hier zu Lande vertretenen Spezies ambitionierter Amateure, die einer interessierten Laienleserschaft die Ergebnisse der zünftigen Forschung aufbereiten und schmackhaft servieren. Zwar haben sie auch eigene Archivstudien betrieben: Wilson verweist auf einige Nachlässe im India Office und im Handschriftenlesesaal der British Library, Hattersley hat die unpublizierten Tagebücher eines Hocharistokraten (des 9. Duke of Devonshire), eines Kindermädchens aus kleinen Verhältnissen und eines Vikarssohns aus Mittelengland ausgewertet. Jedoch spielen die dort gemachten Quellenfunde in beiden Fällen nur eine marginale Rolle im Fortgang der Erzählung. Die gelungene Anekdote und die pointierte Wertung sind für diese Art der Geschichtsschreibung wichtiger als umstürzend neue Thesen oder die vollständige Auflistung des Forschungsstandes in einem überbordenden Anmerkungsapparat.
Sowohl Hattersley als auch Wilson streben einen panoramahaften Überblick an, der die politische Geschichte ebenso umfasst wie den Wandel auf den Gebieten von Ökonomie, Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft. So nimmt es nicht Wunder, dass sich in ihren Büchern weitgehend dasselbe Personal in ähnlichen Kulissen tummelt: David Lloyd George und Winston Churchill als parlamentarische Stars der Epoche; Lord Roberts und Lord Kitchener als militärische Führungsgestalten mit gemischten Erfolgsbilanzen (vor allem während des Burenkriegs von 1899 bis 1902); die Pioniere der modernen Wissenschaft von Bertrand Russell bis Ernest Rutherford; der introvertierte Erfolgskomponist Edward Elgar; die großen Dichter und Romanciers von Rudyard Kipling über D. H. Lawrence und Joseph Conrad bis William Butler Yeats; die mächtigen Pressebarone wie Lord Northcliffe von der Daily Mail, der ersten britischen Boulevardzeitung; die bitter verfeindeten, aber im Scheitern vereinten Heroen der Entdeckungsreisen in die Antarktis, Robert Scott und Ernest Shackleton; die Besatzung und Passagiere der Titanic, deren Untergang im April 1912 vielen Zeitgenossen als Menetekel kommenden Unheils erschien.
Schaut man genauer hin, so lassen sich jedoch beträchtliche Unterschiede zwischen den Interpretationen Hattersleys und Wilsons feststellen. Roy Hattersley war von 1983 bis 1992 stellvertretender Vorsitzender der Labour-Partei. Nachdem seine Karriere stagnierte, weil er der alten Arbeiterpartei der Achtzigerjahre als zu rechts und Blairs New Labour als allzu links galt, zog er sich ins Oberhaus zurück und begann ein Leben als Schriftsteller ("The Edwardians" ist sein 17. Buch!). Was ihn am edwardianischen Zeitalter fasziniert, sind die politischen Auseinandersetzungen, die Details der Reformprojekte, insbesondere in der Sozial- und Bildungspolitik. Die Kapitel 3 und 4, in denen er die parlamentarischen und außerparlamentarischen Kämpfe nachzeichnet, bilden das Herzstück seiner Untersuchung. Mit dem Blick des erfahrenen Berufspolitikers für handwerkliches Geschick bei der Gesetzgebung und die taktischen Winkelzüge der Parteipolitik seziert Hattersley die großen Streitfragen der Epoche: von Joseph Chamberlains Zollreformplänen über die Gewerkschaftspolitik bis zur Frauenrechtsbewegung und der irischen Frage. Immer wieder verlängert er die Linien der Entwicklung in die Gegenwart oder weist auf Parallelen zu aktuellen Geschehnissen hin.
A. N. Wilson hingegen interessiert sich als Mitglied der Royal Society of Literature und Verfasser preisgekrönter Biografien über Leo Tolstoi und Sir Walter Scott eher für die künstlerisch-ästhetischen Aspekte des Edwardianismus. Seine Helden sind nicht liberale Reformpolitiker wie Herbert Asquith, sondern geniale Dichter wie Henry James. Wilsons Assoziationsketten sind gewundener, seine Übergänge von einem Thema zum nächsten kunstvoller als diejenigen Hattersleys. Wo der ehemalige Politiker Spiegelstrichlisten abarbeitet, pflegt der Literat die Kunst des scheinbar ziellos von einem Thema zum anderen mäandernden Gedankenflusses, dessen tieferen Zusammenhang erst der Rückblick erhellt. Wilsons Kapitel 5 beispielsweise beginnt mit einer Betrachtung über das rapide Wachstum der Vorstädte im edwardianischen England, diskutiert dann verschiedene Varianten des Ehebruchs, bevor es sich nach einem Umweg über die Werke des seinerzeit sehr erfolgreichen Verfassers von Kolportageromanen Arnold Bennett dem mörderischen Dr. Hawley Harvey Crippen zuwendet. Wo Hattersleys Urteil um historische Gerechtigkeit bemüht ist, da zielt Wilson auf die verblüffende Pointe, wenn er beispielsweise Crippen und seine Geliebte Ethel Le Neve als tragisches Liebespaar idealisiert.
Vor allem aber repräsentieren die Studien Hattersleys und Wilsons zwei unterschiedliche, ja gegensätzliche Lesarten der britischen Geschichte im 20. Jahrhundert. Hattersley schreibt im Kern eine Fortschrittsgeschichte im Geist der "whig interpretation of history", die bis in die 1930er-Jahre die britische Historiografie bestimmte, nach 1945 aber zunehmend dem Deutungsmuster des Niedergangs wich. Dagegen setzt Hattersley die Überzeugung, das 20. Jahrhundert habe für die britische Bevölkerung bei allen Rückschlägen und Problemen einen zuvor nie gekannten Zugewinn an Wohlstand und Lebensqualität gebracht: Die Lebenserwartung stieg mit dem Rückgang der Säuglingssterblichkeit und der Eindämmung epidemischer Krankheiten wie Tuberkulose und Diphterie; die Reallöhne der Arbeiter verbesserten sich ebenso wie die Bedingungen, unter denen sie ihre Berufe ausübten; die politische wie sexuelle Selbstbestimmung von Frauen machte enorme Fortschritte; soziale Sicherungssysteme für Alte, Schwache und Kranke wurden entwickelt. All diese Veränderungen, so Hattersley, nahmen ihren Ausgang - oder kamen zumindest zum Durchbruch - während des edwardianischen Zeitalters: "Modern Britain was born in the opening years of the twentieth century. It is the legacy of the Edwardians" (481).
Wilsons Band dagegen gehört zur Gattung der Niedergangsliteratur, auch wenn er die von Hattersley herausgestrichenen Errungenschaften nicht in Abrede stellt. Im Nachfolgeband zu seiner 2001 erschienen Studie über das viktorianische Zeitalter, die den Aufstieg Großbritanniens zur führenden Weltmacht beschrieb, hat der Autor es zwangsläufig mit einer Antiklimax zu tun. Der Eindruck des Verfalls wird dadurch unterstrichen, dass Wilson anders als Hattersley dem Empire einen zentralen Platz einräumt. Zudem bricht die Darstellung nicht 1914 ab, sondern erst 1953 mit der Thronbesteigung Elizabeths II. In dieser Perspektive wirkt der Kontrast zwischen der britischen Weltstellung um 1900 und dem wirtschaftlichen wie imperialen Ruin fünfzig Jahre später besonders krass. Allerdings sieht Wilson in diesem Abstieg lediglich die äußere Folge eines bereits vor 1914 einsetzenden kulturellen Niedergangs: "[One] of the sure signs that Britain was finished as a civilization, long before two world wars had bankrupted the British economy and dismantled the British Empire, was the cultural emptiness of the years 1900-1950 [...]. Something had died in the night, and no one had noticed. [...] the culture which could allow itself to move into the First World War was one which was already moribund, morbid" (88 f.).
Für Spezialisten bieten die Bände von Hattersley und Wilson kaum Neues. Wer aber kenntnisreich und unterhaltsam in die britische Geschichte zu Beginn des 20. Jahrhunderts eingeführt werden möchte, dem sind die beiden Werke durchaus zu empfehlen, zumal man selten derart eindrücklich Fortschrittserzählung und Niedergangsgeschichte, die beiden bestimmenden Paradigmen britischer Historiografie im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert, einander gegenübergestellt findet.
Dominik Geppert