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Werner Faulstich (Hg.): Das Erste Jahrzehnt, München: Wilhelm Fink 2006
Jörg Schweigard: Die Liebe zur Freiheit ruft uns an den Rhein. Aufklärung, Reform und Revolution in Mainz, Gernsbach: Casimir Katz Verlag 2005
Peter Jelavich: Berlin Alexanderplatz. Radio, Film and the Death of Weimar Culture, Oakland: University of California Press 2006
Richard Overy: Russlands Krieg. 1941-1945. Übersetzt von Hainer Kober, Reinbek: Rowohlt Verlag 2003
Richard Overy: Die Diktatoren. Hitlers Deutschland, Stalins Rußland. Aus dem Englischen von Udo Rennert und Karl Heinz Siber, München: DVA 2005
Martin Pugh: 'Hurrah for the Blackshirts!'. Fascists and Fascism in Britain between the Wars, London: Random House 2005
Die Weimarer Republik gilt unter Historikern als 'eingetragenes Markenzeichen'. Kein Jahr vergeht, in dem nicht unter diesem Titel eine neue - nicht immer dringend erforderliche - Gesamtdarstellung das Kaufhauslicht der großen Buchhandelsketten erblickt. Dementsprechend unüberschaubar ist die Fülle der Literatur. Wer sich für die britische Geschichte in der Zeit zwischen den beiden großen Kriegen interessiert, sieht sich allerdings mit dem umgekehrten Problem konfrontiert, gab es bis vor kurzem doch nur die Monographien von Charles Mowat und John Stevenson. [1] Nun ist gleich eine Reihe von neuen Darstellungen zur Zwischenkriegszeit erschienen.
Den Anfang machte Roy Hattersley mit Borrowed Time. Nachdem er zuvor bereits das 'Edwardian Age' wiederentdeckte, bewies Hattersley, ein ehemaliger Labour-Spitzenpolitiker, der seit seinem Abschied aus der Politik bereits ein Dutzend historischer Werke vorgelegt hat, erneut ein gutes Gespür für kommende Themen. Allerdings ist sein essayistischer Stil besser geeignet die katastrophale Lage der Arbeiterschicht oder den Generalstreik von 1926 einerseits, Höhepunkte in Theater, Kino und Sport andererseits zu beleuchten als die langfristige politische und sozioökonomische Entwicklung Großbritanniens zwischen den Kriegen, wie etwa die wirtschaftliche Krise und ihre Bekämpfung, die Entstehung einer modernen Konsumgesellschaft oder den Aufstieg der ersten Labour-Regierung. Für einen ehemaligen Berufspolitiker sind die Passagen über die politische Geschichte Großbritanniens überraschend kurz und lustlos erzählt. Deutsche Leserinnen und Leser mit geringen Vorkenntnissen hängen hier überdies des Öfteren in der Luft - wer weiß schon, wie der erste Labour-Premier Ramsay MacDonald zum Anführer eines konservativen Koalitionskabinetts aufstieg? Insofern bietet Borrowed Time keine Gesamtdarstellung der Zwischenkriegszeit, es eignet sich eher als Hintergrundlektüre, denn als Einführung, zumal blumige Titelüberschriften einen raschen Zugriff erschweren.
Auf Borrowed Time folgte We Danced All Night. A Social History of Britain Between the Wars von Martin Pugh. Politik spielt bei Pugh eine noch geringere Rolle als bei Hattersley, mit dem er allerdings den eher essayistischen Ansatz teilt. Was Pugh im Untertitel als Sozialgeschichte bezeichnet, hieße im Deutschen auch eher Alltagsgeschichte. In 24 Kapiteln geht Pugh auf Ernährung, Gesundheit, Sexualität, Feminismus (einem Spezialgebiet Pughs), Jugend und die neuen Freizeitvergnügungen ein. Obwohl auch er Themen wie Arbeitslosigkeit behandelt, zeichnet Pugh getreu seines Titels ein doch eher positives Bild der Zwischenkriegszeit: Emanzipation, zunehmende Freizeit und gestiegener Wohlstand (wenn auch weitgehend auf die Mittelschicht begrenzt) sind für Pugh wichtige, zukunftsweisende Entwicklungen, gegen die Armut und Arbeitslosigkeit eher zurücktreten. Positiv ist zu würdigen, dass Pugh, anstatt lediglich die 'usual suspects' aus Politik, Literatur und Gesellschaft zu zitieren, beständig auf Augenzeugen aus der Arbeiter- und Mittelschicht zurückgreift, so dass sein Buch ein sehr lebendiges Bild der Zwischenkriegszeit entwirft.
Durch sein von der etablierten Sicht auf die 1920er und 1930er Jahre abweichendes, tendenziell eher positives Porträt, wurde We Danced All Night in Großbritannien als revisionistisch gelobt, aber teils auch kritisiert. Diesem Verdacht setzt sich Richard Overys The Morbid Age. Britain Between the Wars augenscheinlich nicht aus. Allerdings bietet Overy weniger eine Gesamtdarstellung der Zwischenkriegszeit als eine Analyse des allgegenwärtigen Krisendiskurses. Ein Wahrnehmungsmuster, das für Overy umso bemerkenswerter war, als es in dem im Vergleich zu anderen Ländern dieser Zeit weitgehend krisenresistenten Großbritannien nicht (oder nur sehr begrenzt) auf realen Erfahrungen basierte. In neun Kapiteln untersucht Overy den Krisendiskurs in Feldern wie Wirtschaft, Politik, Geschichte, Medizin und Psychologie.
Einer von Overys Gewährsleuten ist der junge Eric Hobsbawm, der trotz eines noch unerschütterlichen Kommunismus nicht minder fest an den kommenden Weltuntergang geglaubt habe. Hobsbawm jedoch wollte Overys Ansatz in einer ansonsten durchaus wohlwollenden Rezension nicht wirklich einleuchten. Wie könne, so Hobsbawm, eine Emotion das Charakteristikum einer ganzen Epoche sein? Wie das Vorherrschen dieser Emotion bemessen werden? [2] Hobsbawms Kritik zielt über Overy hinaus auf die augenblicklich - insbesondere in Deutschland - boomende Gefühlsgeschichte. Im Gegensatz zu dieser fehlt es bei Overy jedoch an theoretischer Unterfütterung. Begriffe wie Erfahrung, Wahrnehmung, Mentalität, Idee, Diskurs und Gefühl werden austauschbar verwendet und nicht reflektiert. Wie jedoch aus den theoretischen Krisendiskursen von Spengler und Toynbee ein individuelles Gefühl oder eine kollektive Mentalität wurde, wird nicht untersucht. Tatsächlich erinnert Overys Ansatz auch weit eher an eine klassische Ideengeschichte als an eine moderne Gefühlsgeschichte. Zwar greift er auf eine Fülle privater Zeugnisse, Tagebücher und Briefe zurück, meist bewegt er sich jedoch eher auf dem Höhenkamm philosophisch-wissenschaftlicher Debatten.
Überhaupt wirkt auf deutsche Leserinnen und Leser die Erörterung dieser Epoche als Krisenzeit nach den langjährigen Debatten über die Krise der Weimarer Republik etwas angestaubt. [3] Auf die deutsche Forschung geht Overy aber genauso wenig ein, wie er Vergleiche zu anderen Ländern zieht. Seine Begründung: "Britain was the hub of the Western world [...] The things that mattered in Britain, mattered internationally" (7). So wurden ihm zufolge die in Großbritannien ausgedachten Krisentheorien flugs in alle Welt exportiert. Wenn Overy jedoch im ersten Kapitel Albert Schweitzer und Oswald Spengler als Kronzeugen anführt und deren Einfluss auf britische Denker zeigt, drängt sich eher der gegenteilige Schluss auf. Die Beschränkung auf Großbritannien ist umso verwunderlicher als Overy in seinem vorletzten Buch, der kommentierten Quellensammlung The Inter-War Crisis, eine gesamteuropäische Perspektive wählte.
Schon die Titel ihrer Bücher machen klar, dass Overy und Pugh gegensätzliche Porträts der Zwischenkriegszeit entwerfen. Pugh blendet Schattenseiten wie Armut, Unternährung und Arbeitslosigkeit zwar nicht aus, legt jedoch bewusst den Akzent auf das in seinen Augen Neue: Emanzipation, Massenkonsum und Suburbanisierung. Overy wiederum bezieht sich explizit auf Pugh, wischt dessen Ergebnisse jedoch mit den Worten beiseite: "It is obviously true that other discourses existed, pointing to a brighter progressive future, but even they could be assailed [...] by doubts and uncertainties." (3) Obschon nichts gegen eine thesengesteuerte Arbeit einzuwenden ist (zumal Overy es nicht an Belegen fehlen lässt), hätte man doch gern etwas mehr über die Bruchstellen in seiner Argumentation und über andere Erfahrungsmuster erfahren.
Zwischen den von Pugh und Overy vertretenen, einseitig auf Extreme abhebenden Interpretationen angesiedelt, ist Juliet Gardiners The Thirties: An Intimate History, die auf fast 1000 Seiten ein umfassendes Panorama von "Britain's forgotten decade" (so das Cover) bietet, in dem es weder an Licht- noch an Schattenseiten fehlt. Im Gegensatz zu Overy und Pugh entwirft Gardiners gut erzähltes Buch keine Meistererzählung, verliert sich dafür aber häufiger im Anekdotischen. Während Overy und Pugh von der Nation sprechen, sich aber auf die Metropole konzentrieren, differenziert Gardiner sensibel zwischen regional unterschiedlichen Entwicklungen, ja zwischen verschiedenen 'Englands'. Sie lehnt sich dabei an den britischen Dramatiker J. B. Priestley an, der in seiner 1934 publizierten "English Journey" zwischen dem agrarisch-ruralen Alt-England der Kathedralen und Herrenhäuser, dem industriellen England des 19. Jahrhunderts und dem amerikanisierten Nachkriegsengland der Fabriken, Landstraßen, Tankstellen und Suburbs unterschied, die weniger nach- als nebeneinander existierten. Diese Betonung der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die Gegenüberstellung unterschiedlicher 'Modernen' bzw. Reaktionen auf die Moderne, sind ein Vorzug von Gardiners Buch und ein Ansatz, der vielversprechender wirkt als die einseitige Betonung von Fortschritt oder Krise.
Die Dichotomie von Glanz und Krise erinnert überdies nicht zufällig an die Diskussionen über die Weimarer Republik. So waren sich Großbritannien und Deutschland in der Zwischenkriegszeit vielleicht doch ähnlicher als dies oft vermutet wird. Dennoch zeichnet sich zumal in der britischen Geschichtswissenschaft zur Zwischenkriegszeit (aber kaum minder in der deutschen) kein Bemühen um eine breitere Perspektive ab. Dabei gäbe es doch beispielsweise in den "Berlin Years" von W. H. Auden und Christopher Isherwood, durchaus Ansatzpunkte für eine integrierte Geschichte. [4] Dass das in den 1920er Jahren auf seinem Zenit befindliche Britische Empire, das doch eine globale Perspektive geradezu aufdrängt, in den hier angezeigten Büchern bestenfalls eine marginale Rolle spielt, deutet - wie deren Zuschnitt insgesamt - eher auf eine fortgesetzte Beschäftigung mit der Nation hin. Zu überdenken wäre ebenfalls die Betrachtung der Zwischenkriegszeit als eigenständige Epoche, denn weder die Krisendiskurse noch die neuen Freizeitvergnügen waren ein Produkt der Kriegs- oder Nachkriegszeit und weisen nach beiden Seiten über diese hinaus.
Kurz: Von einem Mangel an Literatur zur Geschichte Großbritanniens zwischen den beiden Kriegen kann keine Rede mehr sein. Wer sich vor allem für den Krisendiskurs interessiert, ist naturgemäß bei Overy am besten aufgehoben. Wem es dagegen eher um ein Gesamtbild der Zwischenkriegszeit geht, dem sind die anschaulichen und populär geschrieben Monographien von Pugh und Gardiner zu empfehlen. Das Buch von Hattersley schließlich befriedigt weder aus akademischer Sicht noch als populärwissenschaftliche Lektüre. Wer lediglich den groben Überblick über Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sucht, dem bieten die Gesamtdarstellungen von Mowat und Stevenson zwar nicht aktuellsten aufgrund ihrer klaren thematischen bzw. chronologischen Gliederung aber immer noch den raschesten Zugriff.
Anmerkungen:
[1] Charles L. Mowat: Britain Between the Wars 1918-1940, London 1955; John Stevenson: British Society, 1914-45, London 1984.
[2] Eric Hobsbawm: C (for Crisis), in: London Review of Books 31 (2009), Nr. 15, 12-13.
[3] Inzwischen klassisch: Detlev J. K. Peukert: Die Weimarer Republik: Krisenjahre der klassischen Moderne, Frankfurt am Main 1987; siehe auch Rüdiger Graf: Die Zukunft der Weimarer Republik: Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918-1933, München 2008; ders./Moritz Föllmer: Die "Krise" der Weimarer Republik: Zur Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt 2005.
[4] Vgl. Norman Page: Auden and Isherwood: The Berlin Years, Basingstoke 1998, siehe dazu auch die in diesem Jahr erschiene Monographie von Wolfgang Kemp: Foreign affairs: Die Abenteuer einiger Engländer in Deutschland 1900-1947, München 2010, siehe dazu: Florian Keisinger: Rezension von: Wolfgang Kemp: Foreign Affairs. Die Abenteuer einiger Engländer in Deutschland 1900-1947, München: Carl Hanser 2010, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 6 [15.06.2010], URL: http://www.sehepunkte.de/2010/06/18062.html
Tobias Becker