Dieter Krüger: Sicherheit durch Integration? Die wirtschaftliche und politische Integration Westeuropas 1947 bis 1957/58 (= Entstehung und Probleme des Atlantischen Bündnisses bis 1956; Bd. 6), München: Oldenbourg 2003, 567 S., ISBN 978-3-486-56759-5, EUR 44,80
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Schon seit längerem gilt den Zusammenhängen von politischer, wirtschaftlicher und militärischer Sicherheit und Integration in der ersten Dekade des Kalten Krieges das besondere Augenmerk der Forschung. Für die unterschiedlichen Ausprägungen des westeuropäischen und transatlantischen Zusammenschlusses in den 1950er-Jahren werden - grob vereinfacht - drei grundlegende Motive genannt: (1) die nach Ende des Zweiten Weltkriegs unverändert andauernde militärische Bedrohung der westlichen Demokratien und deren Erhalt gegen sowjetische Expansionsbestrebungen; (2) das Streben nach Verbesserung des Lebensstandards und zunehmender Prosperität, und (3) das Verlangen nach Frieden und Sicherheit in Europa.
Bis zur Freigabe amtlicher Akten Anfang der 1980er-Jahre dominierten die von den so genannten Gründervätern Monnet, Schuman, Adenauer, de Gasperi und Spaak propagierten Bekenntnisse zu Frieden und Prosperität als handlungsleitende Motive für die Etablierung der westeuropäischen Integration. Bemühungen um eine aktenfundierte Aufarbeitung spitzte der britische Wirtschaftshistoriker Alan S. Milward auf die (wenn man so will) revisionistische These zu, die damaligen politischen Eliten hätten das Konzept der proto- oder semisupranationalen Kooperation nur unterstützt, um ihre Nationalstaaten aus den ökonomischen und sozialen Nöten zu befreien, in die sie nach dem Ersten Weltkrieg geraten waren. Die Bewertung Krügers fällt anders aus. Seiner Auffassung nach konnten sich die westeuropäischen Nationalstaaten durch die NATO einer vertieften politischen Integration entziehen, weil die USA deren militärisches Sicherheitsbedürfnis ohne Abtretung von Souveränitätsrechten zu befriedigen vermochte. Damit bezieht er in den Diskussionen um die Frage, ob der Westintegrationsprozess einer genuin pazifistischen Gesinnung seit den 1920er-Jahren entspringt und somit im Kern europäisches Gedankengut ist, oder vielmehr auf Grund der Freihandelsphilosophie und geostrategischer Überlegungen von den USA den Westeuropäern angesichts ihrer desolaten wirtschafts- und sicherheitspolitischen Lage nach dem Zweiten Weltkrieg aufoktroyiert wurde, eine gewisse Mittelposition.
In drei Kapiteln werden (1) die Optionen der amerikanischen Wirtschaftsdiplomatie in der zweiten Hälfte der 1940er-Jahre mit dem Fokus der Marshallplan-Initiative, (2) der supranationale französische Ansatz einer additiven Teilintegration vorerst aus Montanunion und Europäischer Verteidigungsgemeinschaft sowie (3) das auf den Gedanken des Benelux zurückreichende Konzept eines gemeinsamen Marktes mit dem Kern einer Zollunion, kombiniert mit einer Europäischen Freihandelszone für die übrigen OEEC-Staaten, analysiert.
Ausgangspunkt war die Gefahr, in der sich die europäischen Staaten 1946/47 befanden, totalitären Weltanschauungen anheim zu fallen, wenn ihren Regierungen keine Besserung des Lebensstandards gelingen würde. Aus den Erfahrungen, die die Amerikaner nach dem Ersten Weltkrieg gemacht hatten, implementierte die amerikanische Regierung den Freihandel als Frieden stiftende Idee. Sie handelten aus der Überzeugung, dass die nationale Sicherheit am besten durch Integration der westeuropäischen Staaten gewährleistet würde. Ein konsolidiertes Westeuropa stabilisierte zugleich die amerikanische Vormachtstellung, bedingte jedoch ein langfristiges Engagement auf dem europäischen Kontinent. Ausschlaggebend war für Krüger der Wille der westeuropäischen Eliten, die Krise der Nationalstaaten und ihre Funktionsfähigkeit durch Kooperation zu stabilisieren und zu erweitern. Zugleich bot das Integrationskonzept Sicherheit vor der Sowjetunion als säkularer Herausforderer der kapitalistischen Demokratien und vor Deutschland. Die NATO als kleinster gemeinsamer Nenner militärischer Interessen gewährleistete Sicherheit ohne Souveränitätseinbußen.
Krüger kommt zu einigen Schlussfolgerungen, die keineswegs nur Zustimmung hervorrufen. Zu Recht hebt er hervor, dass trotz NATO alte innereuropäische Konflikte fortbestanden und es somit fraglich ist, ob es der Befriedung des atlantischen Bündnisses bedurft hätte. Doch ob die Verträge von Locarno 1925 ohne Hitlers Aggressionspolitik auf Dauer ausgereicht hätten, militärische Konflikte unter den europäischen Mächten zu verhindern, bleibt dahin gestellt. Gewiss zogen die westeuropäischen Staaten die USA als Ordnungsmacht einem europäischen Souverän vor, aber hauptsächlich deshalb, weil vornehmlich Großbritannien und Frankreich den Nuklearschirm schätzten, sich Unterstützung bei der Entwicklung eigener Kernwaffen versprachen und an alte Großmachtrollen anzuknüpfen hofften. Die Rolle der Amerikaner als Stifter der europäischen Einheit relativiert Krüger mit Recht. Denn die supranationale Option wurde von amerikanischer Seite umso heftiger unterstützt, je mehr sich Frankreich davon lossagte. Die NATO entband die westeuropäischen Staaten von der Notwendigkeit, eine politisch-militärische europäische Gemeinschaft zu etablieren, um sie der sowjetischen Bedrohung gegenüberzustellen. Ob die NATO zugleich aber den Nationalstaat rettete und die politische Integration verhinderte (514), erscheint angesichts der im EWG-Vertrag ausgesparten Kernbereiche der Wirtschafts-, Währungs-, Innen- und Außenpolitik als eine zu sehr auf die NATO fokussierte These. Nicht minder anfechtbar ist die Feststellung, bis Ende der 1950er-Jahre wäre kein Wirtschaftsproblem erkennbar gewesen, das nicht auf dem Wege zwischenstaatlicher Kooperation im Rahmen von OEEC, EZU oder nach dem Benelux-Modell lösbar war. Wenn Nationalstaaten, wie Krüger unterstellt, auf Souveränität fixiert sind, dann treten sie nicht exekutive Befugnisse an supranationale Einrichtungen allein deshalb ab, um die vom Besatzungsstatut befreite Bundesrepublik Deutschland in ein europäisches Netzwerk einzubinden. Da hätten sich auch andere intergouvernementale Fesseln finden lassen. Lediglich den Niederländern mit der Sicherung ihrer Absatzmärkte gegen nationale Interessenvertreter ihrer Exportländer und den Italienern um der politischen Gleichberechtigung mit der Bundesrepublik Deutschland wegen noch andere Motive zu konzedieren, klingt wenig überzeugend. Zwar mag die Schaffung eines europäischen Souveräns bisher zu keinem Zeitpunkt ein eigenständiges politisches Ziel der Nationalstaaten gewesen sein. Doch gibt es ebenso keinen Beleg dafür, dass sie die Integrationspolitik nur als ein Instrument zur Durchsetzung jeweiliger politischer, wirtschaftlicher und militärischer Sicherheitsinteressen ansahen. Montanunionsvertrag und die Römischen Verträge intendierten mehr als nur das Auffüllen sicherheitspolitischer Lücken, die NATO, OEEC, EZU und GATT hinterließen. Diese Vertragswerke dienten zunächst auch, aber nicht ausschließlich als Ersatz für fehlgeschlagene politische Integrationsbemühungen. Bei seinem Versuch, aus dem Spill-over-Effekt - intensive ökonomische Zusammenarbeit werde am Ende zwangsläufig zur politischen Einigung führen - Prognosen für die Integrationsentwicklung abzuleiten, gleitet Krüger ins Spekulative ab, denn die Finalität der Integration ist offen.
Hier liegt ein anregendes, die Debatte um Ursachen und Beweggründe der europäischen Integration bereicherndes Buch vor, das zur Pflichtlektüre gehört.
Hanns Jürgen Küsters