Rezension über:

Dagmar Pöpping: Nachrichten aus der Politik. Die Lageberichte Hermann Kunsts für den Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland 1951-1977 (= Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte. Reihe A: Quellen; Bd. 22), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2023, 520 S., ISBN 978-3-525-50027-9, EUR 140,00
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Rezension von:
Hanns Jürgen Küsters
Bonn
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Hanns Jürgen Küsters: Rezension von: Dagmar Pöpping: Nachrichten aus der Politik. Die Lageberichte Hermann Kunsts für den Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland 1951-1977, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2023, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 1 [15.01.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/01/38331.html


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Dagmar Pöpping: Nachrichten aus der Politik

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Er gehörte zu den herausragenden Persönlichkeiten seiner Kirche in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik, der erste Bevollmächtigte der Evangelischen Kirche in Deutschland: Hermann Kunst. 28 Jahre lang prägte er zwischen 1949 und 1977 dieses Amt an der Nahtstelle der Evangelischen Kirche zur Bundespolitik. Als Strippenzieher und Netzwerker übte er meist im Hintergrund Einfluss auf innenpolitische Entscheidungen, Gesetzgebungsverfahren und vor allem deutschlandpolitische Positionierungen der Bundesregierungen aus. Eine umfassende Biografie seines Wirkens fehlt bislang.

Daher ist es umso verdienstvoller, durch die Auswahledition seiner politischen Lageberichte vor dem Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland Einschätzungen über dessen politische Vorgänge zu erhalten. Aus seiner Amtszeit sind insgesamt 160 Lageberichte überliefert, von denen 75 in chronologischer Reihenfolge von 1951 bis 1977 in diesem Buch veröffentlicht werden (11). Die restlichen Berichte mit wörtlichen Transkriptionen sollen online folgen (68-69), ohne einen Zeitraum zu benennen. Die zugrunde liegenden Auswahlkriterien für den Abdruck beziehen sich auf fünf Aspekte: die Rolle der Evangelischen Kirche im Staatsgefüge der Bundesrepublik und im Vergleich zur Rolle der Katholischen Kirche, die Einschätzungen über das Agieren der Parteien, die Gestaltung der innerdeutschen Beziehungen und "Zäsuren in der politischen Geschichte der Bundesrepublik". Zu Letzteren werden internationale Krisen, Auseinandersetzungen mit dem Zeitgeist, aber auch innenpolitische Entwicklungen und linksextremistische Tendenzen gerechnet (65). Willkürlich erscheinen die drei zeitlichen Einteilungen und Überschriften. Die Berichte aus den Jahren 1951 bis 1961 werden unter "Deutsche Teilung und Kalter Krieg", die Jahre 1962 bis 1969 unter "'Friedliche Koexistenz' der Blöcke" und die Jahre 1970 bis 1977 unter "Wendepunkte" zusammengefasst. Eine Logik in Bezug auf die Inhalte der Berichte ergibt sich daraus nicht, zumal von Kunst jeweils das gesamte aktuelle politische Themenspektrum angesprochen wird.

Das Niveau der Kommentierung einigermaßen gleichmäßig zu halten, ist bei der Vielzahl der oft nur stichwortartig aufgezeichneten Sachverhalte eine Herausforderung. Einige Annotationen erklären nicht die in der Quelle angesprochene politische Tragweite. Zwei Beispiele illustrieren die Problematik. Im Bericht vom 6. September 1951 heißt es lediglich: "Ein San Franzisko für Deutschland" (77). Gemeint ist nicht allein die Unterzeichnung des angemerkten Friedensvertrags mit Japan in San Franzisko. Vielmehr steckt dahinter der Streitpunkt unter den Westmächten, ob diese sich einseitig für die Beseitigung des Kriegszustandes mit Japan aussprechen sollen, ohne den gleichen Schritt in den Verhandlungen über die Beseitigung des Besatzungsstatuts gegenüber der Bundesrepublik Deutschland zu tun. Kunst berichtet am 26./27. September 1957 über des Bundeskanzlers Gedanken zur Frage seines Nachfolgers. Er begründet Adenauers Abneigung gegen Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard zum Großteil mit dessen europapolitischer Haltung und verweist eher auf Franz Etzel als Nachfolgekandidat. Im Kommentar wird nur auf Etzels Funktion als neuer Bundesfinanzminister verwiesen. Die viel bedeutsamere Auseinandersetzung zwischen Adenauer und Erhard über die deutsche Haltung zur wirtschaftlichen Integration - Stichwort: Zollunion oder Freihandelszone - im Rahmen der Römischen Verträge, die von der Forschung in Editionen und Monografien aufgearbeitet vorliegt, bleibt jedoch unkommentiert.

Nur gelegentlich lässt Kunst in seinen Lageberichten Hinweise aus dem einen oder anderen vertraulichen Gespräch mit führenden Politikern wie dem Bundespräsidenten durchblicken (169). Kunst äußert sich stets besonnen und vorsichtig, beschränkt sich oftmals auf das Referieren der Fakten des Geschehenen und bezieht nur dann klar Position, wenn es um die Interessen der Evangelischen Kirche geht, nicht zuletzt in der Deutschlandpolitik. Man merkt der Quelle aus der Anfangszeit an, dass es sich um Notizen von Kunst handelt, die er als Gedächtnisstütze oder zur Rechtfertigung seiner Tätigkeit im großen politischen Kontext niederschrieb. Es handelt sich daher um subjektive Einschätzungen des ursprünglich politisch nationalen, eher konservativen Lutheraners. Dessen Einstellung veränderte sich allerdings mit dem sich wandelnden Zeitgeist, gerade hinsichtlich der Dialogfähigkeit gegenüber der DDR, der Haltung zum Nationalstaat und im Rückblick auf die Zeit des Nationalsozialismus. Die Leserschaft muss genau und zwischen den Zeilen lesen, um die kritischen Töne herauszufiltern, besonders wenn es um die politische Positionierung evangelischer Pastoren im Wahlkampf geht (112).

Dass Kunst bei der Bildung der Großen Koalition 1966 seine vielfältigen Beziehungen im Interesse der Repräsentanz von Protestanten im Kabinett spielen ließ, kommt leider nicht zum Vorschein. Seine unionsfreundliche Haltung schimmert allenthalben auch gegenüber der SPD/FDP-Regierung unter Brandt/Scheel durch. Seine Ausführungen sind einerseits getragen von der Angst vor deutschlandpolitischen Konsequenzen einer verfestigten Teilung und andererseits der Chance zum Dialog. Hinzu kommt der spürbare Zeitgeist der Säkularisierung, der am Ende eine "Entchristlichung bei der Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens" zur Folge haben könnte (181-182).

In den Diskussionen über die Ostverträge und den Grundlagenvertrag schlägt Kunst sich mehr auf die Seite der Unionsparteien und nimmt den CDU-Vorsitzenden und CDU/CSU-Fraktionschef Rainer Barzel in Schutz (243). Den Sturz Brandts über das Bekanntwerden der Guillaume-Affäre im Mai 1974 sieht Kunst im größeren Zusammenhang des Führungsstreits an der SPD-Spitze und der innerparteilichen Zerrissenheit (318-319). Die Situationsbeschreibungen zu Fragen der inneren Sicherheit und des Terrorismus Mitte der 1970er-Jahre lässt ihn aber auch davor warnen, das Vorgehen gegen die Rote-Armee-Fraktion zur "Kriminalisierung aller 'Linken', der Jusos oder auch von Demonstranten gegen Fahrpreiserhöhungen, Mietwucher und Umweltgefährdung" auszunutzen (358).

Bleibt festzuhalten: Hermanns Kunsts Lageberichte schließen eine Forschungslücke in der Beurteilung bundesdeutscher Politik durch einen wichtigen Repräsentanten der Evangelischen Kirche in Deutschland. Alsbald sollten seine bisher nicht berücksichtigten Berichte möglichst vollständig der Forschung zur Verfügung stehen.

Hanns Jürgen Küsters