Jörg Osterloh: Nationalsozialistische Judenverfolgung im Reichsgau Sudetenland 1938-1945 (= Veröffentlichungen des Collegium Carolinum; Bd. 105), München: Oldenbourg 2006, 721 S., ISBN 978-3-486-57980-2, EUR 59,80
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Im "Reichsgau" Sudetenland, der nach dem "Münchener Abkommen" vom 30. September 1938 als Bestandteil des "Großdeutschen Reiches" gegründet wurde, waren mehr als 25.000 Juden ansässig. Dazu kamen 14.000 Konvertiten und so genannte Mischlinge, die nach den "Nürnberger Gesetzen" vom September 1935 ebenfalls als "Nichtarier" galten. Deren Geschichte in der NS-Zeit ist bislang wenig erforscht. Im ehemaligen sowjetischen Herrschaftsbereich wurde die Thematik lange Zeit tabuisiert oder zu Gunsten der Darstellung des kommunistischen Widerstands vernachlässigt. Im Westen wiederum übergingen Historiker, die den Vertriebenenorganisationen nahe standen, die Judenverfolgung geflissentlich, um das Selbstbild der Sudetendeutschen als Opfer von Flucht und Vertreibung nach 1945 nicht zu beeinträchtigen.
Jörg Osterloh hat in seiner Dresdener Dissertation die erste Monografie zur NS-Judenverfolgung im "Reichsgau" Sudetenland vorgelegt. Ihn interessiert, inwieweit sie von Berlin aus gesteuert beziehungsweise durch regionale und lokale Initiativen vorangetrieben wurde. Zu diesem Zweck hat er Quellenmaterial aus mehr als 30 Archiven zusammengetragen, darunter viele tschechische Landes-, Gebiets-, Kreis- und Stadtarchive. Die Darstellung beginnt mit einem 150-seitigen Kapitel zur Entwicklung des Antisemitismus im Sudetenland zwischen dem späten 19. Jahrhundert und dem Sommer 1938, die nach dem Ersten Weltkrieg voll und ganz im Zeichen des sudetendeutschen "Abwehrkampfes" gegen die Tschechoslowakische Republik stand. Als wichtigster Transmissionsriemen des Rassenantisemitismus fungierte die im Mai 1918 gegründete Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei (DNSAP), deren Führer Rudolf Jung, Hans Krebs und Hans Knirsch an die alldeutschen Bestrebungen Georg Ritter von Schönerers anknüpften.
Mit Adolf Hitlers Machtübernahme im Deutschen Reich radikalisierte sich die DNSAP, bis sie im Herbst 1933 von der Tschechoslowakischen Regierung verboten wurde. Ausführlich schildert Osterloh programmatische Positionen und innere Entwicklung ihrer Nachfolgeorganisation, der von Konrad Henlein angeführten Sudetendeutschen Partei (SdP). Er weist nach, wie Henlein den Antisemitismus zunächst einmal aus taktischen Gründen zurückfuhr, lässt jedoch keinerlei Zweifel daran aufkommen, dass die meisten SdP-Aktivisten Juden wie Tschechen gleichermaßen hassten. Die SdP organisierte Boykotte jüdischer und tschechischer Geschäfte, stellte "schwarze Listen" jüdischer Einwohner auf, inszenierte Massenaufmärsche und erhöhte auch den Druck auf die Sudetendeutschen, ihr beizutreten. Allein zwischen April und Juli 1938 wuchs die Zahl ihrer Mitglieder um dreihunderttausend Personen auf 1,3 Millionen an. Die tschechischen Gemeindewahlen vom Mai 1938 bescherten der SdP schließlich über 90 Prozent der Stimmen der sudetendeutschen Wähler.
In den Kapiteln III und IV behandelt der Autor den antijüdischen Terror, der zwischen dem "Münchener Abkommen" und der "Reichskristallnacht" am 9. / 10. November 1938 im "Reichsgau" Sudetenland entfesselt wurde, beziehungsweise den Aufbau der dortigen Verwaltung und deren erste administrative Maßnahmen in der "Judenpolitik". Sudetendeutsche Aktivisten praktizierten die gesamte Palette antijüdischer Gewalt, wie sie aus dem "Altreich" und dem annektierten Österreich bekannt war: Willkürlich verhafteten sie Juden, zwangen sie zu "Reibeaktionen" und misshandelten sie, zerstörten ihre Synagogen, Privatwohnungen, Friedhöfe und Geschäfte. Nachdem die innere Verwaltung im "Reichsgau" Sudetenland etabliert worden war, gingen Regierungspräsidenten, Bürgermeister, Polizeibehörden und die Beauftragten des Stillhaltekommissars für Organisationen dazu über, die sudetendeutschen Juden, ihre Immobilien und ihr Vermögen zu registrieren und zu konfiszieren sowie die jüdischen Vereine aufzulösen. Osterloh zeigt, dass diese administrative Entrechtung größtenteils auf das Konto von Sudetendeutschen ging, weil diese an den Schalthebeln der verantwortlichen Verwaltungsorgane saßen. Bereits diese ersten antijüdischen Maßnahmen verfehlten ihre Wirkung nicht, denn von den ehemals mehr als 40.000 "Nichtariern" im Sudetenland waren im Mai 1939 nur noch 2.500 übrig geblieben. Die überwiegende Mehrheit war bereits im September/Oktober 1938 in die Tschechoslowakische Republik geflohen.
Den Kern der vorliegenden Studie bildet Kapitel V über die "Arisierung" jüdischen Besitzes im "Reichsgau" Sudetenland. Auf Grund der Massenflucht sudetendeutscher Juden bestanden in der Regel keinerlei Kontakte zwischen Erwerbern und früheren Inhabern mehr, sodass es sich mehrheitlich um Eigentumsübertragungen ohne entsprechende Kaufverträge handelte. In struktureller Hinsicht bestanden gewisse Ähnlichkeiten zu den "Arisierungen" beispielsweise in Österreich: Nach einer Übergangsphase wilder Beschlagnahmungen wurde die Übertragung jüdischen Eigentums im "Reichsgau" Sudetenland institutionalisiert. Sie vollzog sich seitdem unter Beteiligung so unterschiedlicher Behörden wie der Regierungspräsidenten, des Gauwirtschaftsberaters und der Kreisleitungen der NSDAP, der Industrie- und Handelskammern und der Kreisbauernführer. Eine federführende Rolle spielte das Reichswirtschaftsministerium, das die Eigentumsübertragungen als integralen Bestandteil einer speziellen Strukturpolitik für das Sudetenland ansah. Ausführlich untersucht Osterloh die Tätigkeiten der Dresdner und der Deutschen Bank, die frühzeitig ihre Interessenssphären absteckten und das Filialnetz der Böhmischen Escompte-Bank und Creditanstalt und der Böhmischen Union-Bank sowie deren Industriebeteiligungen übernahmen.
In zwei weiteren Kapiteln zeichnet Osterloh den Prozess der zunehmenden sozialen Isolation, Deportation und Ermordung der knapp 2.500 im Sudetenland verbliebenen Juden nach. Ein mehr als 60-seitiger Tabellenanhang, der Bevölkerungsstatistiken, Verzeichnisse jüdischer Unternehmen sowie Übersichten der KZ-Außenlager Flossenbürg und Groß-Rosen im "Reichsgau" Sudetenland enthält, beschließt seine Ausführungen, mit denen er in vielen Bereichen Neuland betritt.
Indes hat die Studie auch einige unübersehbare Schwächen. Wo Osterloh Nachkriegsaussagen sudetendeutscher Aktivisten und Meldungen der NS-feindlichen Exilpresse verwendet, lässt er mitunter die notwendige Quellenkritik vermissen. Der immense Mobilisierungsgrad der SdP hätte es erfordert, weniger scharf zwischen dieser Partei und der sudetendeutschen Bevölkerung zu unterscheiden, als es der Autor praktiziert. In diesem Zusammenhang wäre auch eine stärkere Betonung der Verantwortung der Sudetendeutschen wünschenswert gewesen. Der Schwerpunkt der Judenverfolgung im Sudetenland lag zwischen August/September und Dezember 1938, und damit zu einem Zeitpunkt, als sie noch nicht zentral von Berlin aus bestimmt, sondern vor allem durch lokale Initiativen vorangetrieben wurde. Da eine analytische Klammer fehlt, tritt die Ausgangsfrage nach Tätern, Mitläufern und Profiteuren im Verlauf der Darstellung immer weiter zurück, sodass Osterlohs Studie stellenweise in eine Aneinanderreihung zahlreicher Einzelaspekte zerfließt. Nur selten ordnet er seine Ergebnisse in übergreifende Fragen der NS-Forschung ein. Trotz dieser Kritikpunkte bleibt zu betonen, dass der Autor eine vorzüglich geschriebene, empirisch ungemein dichte Monografie vorgelegt hat, die auf lange Zeit das Standardwerk zur Judenverfolgung im "Reichsgau" Sudetenland bleiben wird.
Armin Nolzen