Thomas Schlemmer / Hans Woller (Hgg.): Der Faschismus in Europa. Wege der Forschung (= Zeitgeschichte im Gespräch; Bd. 20), München: Oldenbourg 2014, 146 S., ISBN 978-3-486-77843-4, EUR 16,95
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Die vergleichende Faschismusforschung hat seit den späten 1990er Jahren, nicht zuletzt durch die Initiativen englischsprachiger Autoren wie Roger Griffin, Robert A. Paxton, Stanley Payne, Michael Mann und Aristotle Kallis, einen beispiellosen Aufschwung genommen. Dies gilt auch und gerade für die empirischen Studien zu faschistischen Bewegungen in Italien, Deutschland, Ungarn, Rumänien, Kroatien, Spanien, Portugal und vielen anderen europäischen Ländern, die mittlerweile kaum mehr überschaubar sind. Ein "Oxford Handbook of Fascism", von Richard J. B. Bosworth im Jahre 2009 ediert, und nicht zuletzt die mittlerweile im dritten Jahrgang erscheinende Online-Zeitschrift Fascism. A Journal of Comparative Fascist Studies zeigen bereits an, dass dieses Forschungsparadigma mittlerweile einen gewissen Grad der Institutionalisierung erreicht hat. Zeit, eine Bestandsaufnahme vorzulegen und einige Schneisen ins Dickicht der Faschismusforschung zu schlagen.
In der Reihe "Zeitgeschichte im Gespräch" des Münchener Instituts für Zeitgeschichte ist ein schmaler Band erschienen, dessen Beiträge auf eine Konferenz mit dem etwas sperrigen Titel "Die faschistische Herausforderung. Netzwerke, Zukunftsverheißungen und Kulturen der Gewalt in Europa 1922 bis 1945" zurückgehen. Die Ergebnisse dieser Tagung, so die Herausgeber in ihrer Einleitung, werden in zwei Bänden veröffentlicht. Der vorliegende beinhaltet die eher theoretisch orientierten Vorträge, wogegen ein zweiter, umfangreicherer Band die empirischen Erträge dokumentieren wird. Schlemmer und Woller identifizieren insgesamt drei Phasen der Faschismusforschung (1919-1945, 1945-1980, 1980 bis heute), deren jeweilige Schwerpunktsetzungen und Resultate sie konzise herausarbeiten. Sie zeigen, dass die empirischen Studien wie die sich daran anschließenden methodischen Debatten der letzten beiden Dekaden besonders ertragreich waren und die einst sehr zahlreichen und lautstarken Kritiker eines generischen Faschismusbegriffs in die Defensive gedrängt haben. "Nationalsozialismus, italienischer Faschismus und die anderen verwandten Bewegungen sind näher zusammengerückt; die alten Schlachten sind geschlagen und entschieden." (14)
Dies ist in der Tat der Fall, aber beweist das offensichtliche Verstummen der ehemaligen Gegner schon die Triftigkeit des eigenen Ansatzes? Und welche weiterführenden Perspektiven für die Faschismusforschung lassen sich dem vorliegenden Band entnehmen? Die Bilanz fällt, dies sei an dieser Stelle vorweggenommen, relativ durchwachsen aus. Der Band beginnt mit einem wenig inspirierenden Rückblick Roger Griffins auf die Wirkungsgeschichte seines Buches "The Nature of Fascism" von 1991 und die darin vorgetragene (idealtypische) Definition, dass "Faschismus [...] eine politische Ideologie [ist], deren mythischer Kern in seinen diversen Permutationen eine palingenetische Form von populistischem Ultra-Nationalismus ist". Robert A. Paxtons Beitrag "Kultur und Zivilgesellschaft im Faschismus" referiert einen vielversprechenden Strang der neueren Forschung zur zivilgesellschaftlichen Organisationsdichte faschistischer Bewegungen, wie ihn Bernt Hagvet, Rudy Koshar, Sheri Berman und Dylan Riley fruchtbar gemacht haben, bindet sein Sammelsurium von Einzelbeobachtungen aber nicht stringent zusammen. Fernando Esposito versucht sich an einer Verhältnisbestimmung zwischen Faschismus und Moderne, die in großen Teilen an seine 2011 erschiene Dissertation über den Aviatikdiskurs in Italien und Deutschland erinnert, den Leser aber, nicht zuletzt aufgrund einer nebulösen Sprache, einigermaßen ratlos zurücklässt.
Es folgt ein Aufsatz von Martin Baumeister, der zu Recht Vorbehalte gegen das Konzept der "politischen Religion" anmeldet und stattdessen eine intensivere Analyse der Beziehungen zwischen Christentum und Faschismus verlangt (72). Danach schlägt Sven Reichardt vor, den Faschismus in praxeologischer Art und Weise als Tatgemeinschaft zu analysieren, und wendet sich pointiert gegen ideologiegeschichtliche Ableitungen à la Zeev Sternhell. Emilio Gentile gibt eine Synthese seiner einschlägigen Studien über das Konzept des "neuen Menschen" in Italien, und Maurizio Bach plädiert wieder einmal dafür, Max Webers Charismakonzept zum Vergleich der beiden Diktatoren Benito Mussolini und Adolf Hitler heranzuziehen (ohne dem Leser die mittlerweile lange Reihe der Kritiker des Konzepts und ihre Argumente vorzustellen). Schließlich vermessen die beiden Herausgeber im längsten Artikel des vorliegenden Bandes die Bedeutung von Antisemitismus und Rassismus für die vergleichende Faschismusforschung und kommen auf der Basis neuerer empirischer Studien zu der Schlussfolgerung, dass beide Phänomene "nicht vorwiegend Trennlinien in der faschistischen Welt markierten, sondern im Gegenteil ein gemeinsames Wesensmerkmal darstellten" (144). Damit entkräften sie das zentrale Argument der Kritiker eines generischen Faschismusbegriffs, die Rassismus und Antisemitismus immer zu Unrecht als Spezifikum des Nationalsozialismus gesehen haben. Die Forschung wird sich an dieser Einsicht abarbeiten und nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden in den rassistischen und antisemitischen Praktiken faschistischer Bewegungen und Parteien und nach deren jeweiliger gesellschaftlicher Akzeptanz fragen müssen.
Der vorliegende Band eröffnet der zukünftigen Faschismusforschung mit den Aufsätzen von Baumeister, Reichardt und Schlemmer / Woller drei wichtige vergleichende Perspektiven: die Analyse des Verhältnisses zwischen Faschismus und Religion (übrigens nicht nur der großen christlichen Konfessionen einschließlich der Orthodoxen, sondern auch der kleineren religiösen Gemeinschaften, der Freikirchen und Sekten) sowie die Untersuchung von Gewalt und rassistischen und antisemitischen Praktiken. Ein grundsätzliches Problem bleibt aber bestehen. Viele neuere Studien, die entweder den Begriff "Faschismus" benutzen oder darunter subsummiert werden, sind gar nicht vergleichend angelegt, sondern behandeln nur Einzelfälle. Wenn sich dann Historiker wirklich einmal an eine vergleichende Monografie heranwagen, so lassen sie oftmals die elementar methodische Forderung außer Acht, dass jeder Vergleich mindestens eine dreistellige Relation ist, die eines Tertium Comparationis bedarf. Und von dem gesellschaftsgeschichtlichen Erklärungsanspruch, der im Begriff "Faschismus" immer mitschwingt, haben sich viele seiner Verfechter bereits stillschweigend entfernt, weil sie in der Regel nur noch Teilaspekte in ihren Blick nehmen. Will die Faschismusforschung ihren Siegeszug fortsetzen, dann wäre sie gut beraten, ihre eigenen Defizite selbstkritischer zu evaluieren, als dies bisher der Fall war. Vielleicht benötigen ihre methodischen Herangehensweisen auch wieder mehr geschichtswissenschaftlichen Gegenwind.
Armin Nolzen