Gian Enrico Rusconi / Thomas Schlemmer / Hans Woller (Hgg.): Schleichende Entfremdung? Deutschland und Italien nach dem Fall der Mauer (= Bd. 3), München: Oldenbourg 2008, 136 S., ISBN 978-3-486-58672-5, EUR 16,80
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Gian Enrico Rusconi: Deutschland - Italien / Italien - Deutschland. Geschichte einer schwierigen Beziehung von Bismarck bis zu Berlusconi. Aus dem Italienischen übersetzt von Antje Peter, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2006
Johannes Hürter / Gian Enrico Rusconi (Hgg.): Der Kriegseintritt Italiens im Mai 1915, München: Oldenbourg 2007
Thomas Schlemmer / Hans Woller (Hgg.): Politik und Kultur im föderativen Staat 1949 bis 1973, München: Oldenbourg 2004
Der 10. Juli 2008 war für Italien ein wichtiger Tag. Die römische Abgeordnetenkammer verabschiedete den "Lodo Alfano", ein Gesetz, das die vier höchsten Ämter des Staates vor gerichtlicher Verfolgung schützt. Ein Immunitätsschirm für den erleichterten Premier Berlusconi, der unmittelbar vor seinen nächsten Prozessterminen stand, zugleich aber auch ein massiver, von Verfassungsjuristen kritisierter Verstoß gegen die Rechtsgleichheit aller Staatsbürger. Am selben Tag verurteilte das europäische Parlament mit breiter Mehrheit eine Norm aus einem Gesetzeswerk zur inneren Sicherheit Italiens. Demnach sollten Kinder und Minderjährige der Minderheit der Roma durch Fingerabdrücke polizeilich erfasst werden, eine Diskriminierung, die das EU-Parlament mit großer Mehrheit als unerträglich verurteilte.
Beide auch europarelevanten Weichenstellungen der italienischen Innenpolitik blieben in deutschen Medien weitgehend unbeachtet. Große Blätter wie SZ und Welt berichteten überhaupt nicht, in der FAZ brachte es die Nachricht immerhin zu einem Dreispalter der internationalen Politik. Die serbische Frage, die französische EU-Ratspräsidentschaft, erst recht die deutschen Geiseln in der Türkei beherrschten die außenpolitische Berichterstattung, nicht aber die rapide Veränderung der innenpolitischen Situation Italiens. Auch die Nachricht, dass die italienische Staatsverschuldung inzwischen mit 1.661 Milliarden € einen tristen Europarekord erreicht hatte, wurde in Deutschland kaum registriert. Umgekehrt ist die mediale Gleichgültigkeit in Italien noch markanter: Die deutsche Politik findet kaum Interesse, über die cancelliera Merkel hinaus sind die Namen von Kurt Beck, Frank- Walter Steinmeier oder Wolfgang Schäuble nur wenigen Italienern geläufig.
Im Hinblick auf solche eher beiläufigen Beobachtungen ist der kompakte, bilaterale Blick auf den jüngsten Stand der Beziehungsgeschichte zwischen Deutschland und Italien von hoher Aktualität. Die Herausgeber markieren denn auch in ihrer Einschätzung des bilateralen Verhältnisses völlig unterschiedliche Positionen. Gian Enrico Rusconi, Direktor des italienisch-deutschen Geschichtsinstituts in Trient, schlägt den Grundakkord einer "schleichenden Entfremdung" nicht nur emphatisch an, sondern spitzt die These überdies pointiert zu: Italien werde von den Deutschen und ihren politischen Vertretern zwar klischeehaft als Europas Kultur- und Lifestylegenie geliebt, aber als politischer Akteur insgeheim verachtet. Die Komplexität seiner politischen Kräfte, Verhältnisse und Strategien gelte als zu unübersichtlich und ineffizient, weshalb sie absichtsvoll ignoriert würde. Bis zum Fall der Mauer und der späten Ära Kohl sei dies - so Rusconi - völlig anders gewesen: Die Achse Adenauer-De Gasperi habe ebenso wie Andreotti zu den Impulsgebern der Europäischen Gemeinschaft gezählt, die ja schließlich in Rom gegründet worden sei. Seit dem Mauerfall und der deutschen Wiedervereinigung aber hätten sich die Gewichte verschoben, Italien sei in Deutschland nur mehr ein Randthema. Hans Woller, zweiter Hauptmentor des Bandes, widerspricht seinem Mitherausgeber vehement und mit guten Argumenten: Die Erzählung von einer festgefügten Entente cordiale zwischen Deutschland und Italien vor 1989 sei selbst ideologisch besetzt, man denke nur an das Desinteresse der Ära Schmidt. Das Verhältnis sei überdies von der Hypothek der deutschen Besetzung 1943-45 belastet geblieben. Die aktuellen Beziehungen seien von unaufgeregter Normalität bestimmt, aber eine gute Grundlage für einen intensiven Austausch auf subpolitischer Ebene.
Die konträren Positionen bilden den Ausgangspunkt einer fruchtbaren, aber auch heterogenen Bestandsaufnahme. Die Bewertungen des politischen Klimas zwischen den Staaten werden Journalisten und kulturpolitisch versierten Beobachtern überlassen. Stefan Ulrich, Henning Klüver oder Angelo Bolaffi liefern ein kenntnisreiches, von feuilletonistischen Pointen durchsetztes Panorama, das die Rusconi-These weitgehend bestätigt. Die bilateralen Beziehungen seien auf Regierungs- und Politikebene zwar friktionsfrei, aber auch spannungsarm und von geringem Interesse an gemeinsamen Projekten bestimmt. In einer europäisch und multilateral perspektivierten Politik hätten sich beide Staaten voneinander abgewandt, sodass für Deutschland die Beziehung etwa zu Russland von weit größerem, auch vitalem Interesse sei. Italien sei hingegen im Vexierspiegel seiner innenpolitischen Umbrüche und Dauerkrisen gefangen und als außenpolitischer Akteur von begrenzter Handlungsfähigkeit und mäßigem Gewicht.
Auf ökonomischem, erst recht auf wissenschaftlichem Feld lässt sich die Klage über ein Auseinanderdriften dagegen keineswegs verifizieren. Rolf Petri unterstreicht eindrucksvoll die Dichte der Handelsbeziehungen, zumal zwischen Makroregionen wie Bayern oder Baden-Württemberg und dem italienischen Norden, wiewohl sich die jeweiligen Direktinvestitionen in klaren Grenzen hielten. Auch die Innovations- und Forschungsschwäche der italienischen Wirtschaft unterscheide sie wesentlich von der deutschen Situation. Die gut belegten Hinweise von Elena Agazzi zur wissenschaftlichen Kooperation im Bereich Germanistik, von Ulrike Stepp zur befruchtenden Austauschwirkung von Erasmus-Programmen oder die Beobachtungen von Susanne Höhn belegen eindrucksvoll ein nachhaltiges, neuerdings wachsendes Interesse, an dem die deutsche Wissenschaftsförderung und die über die Goethe-Institute aktivierte Kulturpolitik maßgeblichen Anteil haben.
Ein Glanzpunkt ist die historische Italienforschung, die in kurzer Zeit einen spektakulären Quantensprung vollzogen hat: Der noch um 1990 ziemlich einsamen Speerspitze von Italienkennern um Jens Petersen, Christof Dipper, Hans Woller, Wolfgang Schieder oder Rudolf Lill ist eine breite Kohorte exzellenter Kenner italienischer Geschichte nachgefolgt, die sich in die Neuere Geschichte, in die Zeit- und Gegenwartsgeschichte, aber auch in die Kulturgeschichte Italiens dynamisch und innovativ eingearbeitet hat. Diesem verjüngten Kader, den Mitherausgeber Thomas Schlemmer trefflich repräsentiert, steht freilich kein annähernd kompakter Pool italienischer Deutschlandhistoriker gegenüber - sieht man vom souveränen, transnationalen Blick eines Gustavo Corni oder Brunello Mantelli einmal ab. Die gut aufgestellte deutsche Wissenschaftsförderung im Hinblick auf Italien findet kein Pendant adäquat geförderter italienischer Deutschlandforschung. Auch auf dem Feld der Übersetzung historischer Arbeiten herrscht Asymmetrie, wie Lutz Klinkhammer und Gustavo Corni eindringlich belegen: Werden Arbeiten deutscher Historiker relativ häufig ins Italienische übersetzt, so sind deutsche Fassungen großer Leistungen der italienischen Historiografie, erst recht eine breite Rezeption weitestgehend inexistent: Eine deutsche Version der Pionierarbeiten von Nicola Tranfaglia, Giuseppe Galasso oder Enzo Collotti wird man in deutschen Verlagsprogrammen vergeblich suchen; auch die zahlreichen Forschungsarbeiten italienischer Historiker zur deutschen Geschichte werden nördlich des Brenners weitgehend ignoriert. Dass sich auf den Feldern der Geisteswissenschaften Entfremdung eingestellt hätte, ist als Hypothese mithin entschieden zu verwerfen; die "kommunikative Verdichtung" (Th. Schlemmer), die sich etwa in der von Christof Dipper geleiteten "Arbeitsgemeinschaft für die Neueste Geschichte Italiens" manifestiert, ist ebenso eindrucksvoll wie erfreulich.
Wenn man das Unbehagen von Herausgeber Rusconi dennoch ernst nimmt, so aus anderen als den von ihm angeführten Gründen. Zwischen Deutschland und Italien herrscht keine "schleichende Entfremdung", sondern eine selektive Wahrnehmung, in der ständig intensivierte und enge Beziehungen von persistenten Feldern des Nichtwissens und der Stereotype flankiert sind, jene "kritische Distanziertheit", auf die Susanne Höhn im Anschluss an Wolfgang Rudzio verweist.
Auch in Zeiten starker gegenseitiger Affektion zwischen 1960 und 1990 beherrschten Klischees die gegenseitige Wahrnehmung, von einer aufmerksamen und unverzerrten Perzeption auf breiter Ebene waren beide Gesellschaften weit entfernt. Auch vermag die politische Indifferenz von deutscher Seite kaum zu erstaunen: Wenn heute selbst Italiener nicht mehr in der Lage sind, den abgehobenen Windungen der italienischen Innenpolitik oder den dramatischen Brüchen von Wirtschaft und Gesellschaft zu folgen, ist dies von Deutschen erst recht nicht mehr zu erwarten. Umgekehrt sind auch die Verhältnisse der vergrößerten Bundesrepublik so komplex geworden, dass sie über den ohnehin schwach ausgeprägten medialen Fokus Italiens nicht mehr erfasst werden können. Die beiderseits gewachsene innenpolitische Komplexität, die Multilateralisierung der Außenpolitik und die Globalisierung aller Handlungsfelder hat die wechselseitige Aufmerksamkeit zerstreut, gebrochen und auf bestimmte Felder hin fokussiert.
Dies ist in zweierlei Hinsicht bedenklich: Zum einen ist der Aufbau eines europäischen Bewusstseins nicht möglich, wenn nicht zumindest Grundzüge und Entwicklungsmuster kerneuropäischer Staaten wechselseitig mit einiger Kontinuität wahrgenommen werden. Zum zweiten ist es ein Faktum, dass nicht nur in Deutschland, sondern weithin in Europa die Dramatik und die akute Zuspitzung der italienischen Lage völlig verkannt werden. Die Handlungsschwäche der politischen Klasse, die Fülle an versäumten Reformen, der Abgrund an fehlender Rechtsstaatlichkeit und Infrastrukturmängeln sowie der verheerende, jüngst abrupt verschlechterte Zustand der Wirtschaft und Einkommenslage großer Bevölkerungsgruppen sind die Vorzeichen einer raschen Implosion; die lange Zeit gepriesenen "Selbstheilungskräfte einer krisenerfahrenen Demokratie" (H. Woller) sind erschöpft.
Höchste Zeit daher für eine eingehende Bestandsaufnahme und Analyse der italienischen Entwicklung seit 1989 und den umfassenden, komparativen und kontrastiven Blick auf die deutsche Situation. Der vorliegende Band ist zwar ein informatives Gespräch unter Freunden mit einigen polemischen Spitzen, aber noch nicht jene schonungslose, gleichwohl notwendige Bilanz der jüngsten Entwicklung und Beziehungsgeschichte, die bald schon als vordringlich erkannt werden wird. Diesem Vorhaben sollten sich die Herausgeber stellen, eine breite Öffentlichkeit beider Länder würde einen solchen Ansatz dankbar registrieren.
Hans Heiss