Johannes Hürter / Hans Woller (Hgg.): Hans Rothfels und die deutsche Zeitgeschichte (= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte; Bd. 90), München: Oldenbourg 2005, 209 S., ISBN 978-3-486-57714-3, EUR 24,80
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Dieser Sammelband dokumentiert ein Kolloquium des Instituts für Zeitgeschichte vom Juli 2003. Das fünfzigjährige Bestehen der "Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte" gab den Anlass, um sich mit dem prägenden Herausgeber Hans Rothfels zu beschäftigen. Rothfels (1891-1976) war zuletzt in die Diskussion geraten, als verschiedene Studien das Verhalten deutscher Historiker im 'Dritten Reich' untersuchten, ihre wissenschaftlichen Arbeiten und politischen Ansichten ans Licht hoben und teilweise gnadenlose, aber auch verständnislose Urteile fällten. Die eifernde Rothfels-Debatte war ein später Ausläufer der vielfach von moralischen Urteilen gesteuerten Holocaust-Diskussion, die sich seit dem Historikertag 1998 mit dem Interesse am Verhältnis der Geschichtswissenschaft zum Nationalsozialismus verschränkte. Die Auswirkungen von "Nine eleven" haben der Anklagerhetorik über Nacht den Boden entzogen. Insofern steht dieses Buch am Schnittpunkt zweier Linien.
Die Einleitung der Herausgeber und die Beiträge von Hermann Graml und Heinrich August Winkler arbeiten sich an Autoren ab, die Rothfels in die Nähe des Nationalsozialismus und Ostraum-Imperialismus gerückt haben. Die wissenschaftliche Diskussion über Rothfels gruppiert sich um die Beiträge von Jan Eckel, Thomas Etzemüller, Christoph Cornelißen und Mathias Beer, die durch Arbeiten zu Rothfels selbst, Werner Conze, Gerhard Ritter und zur Vertreibungs-Dokumentation unter Leitung von Theodor Schieder Maßstäbe gesetzt haben. Ergänzt um Aufsätze von Wolfgang Neugebauer über Rothfels und Ostmitteleuropa und Peter Th. Walter über die Erfahrung des Exils geht es in dem Band um drei Problemkreise: die nationalkonservative Bewusstseinsbildung nach Brest-Litowsk und Versailles; Nationalsozialismus, Weltkrieg und Widerstand; die Einhausung in der Bundesrepublik mit allem lebensgeschichtlichen Ballast und der je eigenen Interpretation selbst erlebter Vergangenheit. Als einziger aus dem Kreis der Ankläger mit dem moralischen Kammerton nahm Ingo Haar an der Tagung teil und steuerte einen abwägenden Beitrag über Rothfels und den Nationalsozialismus bei.
Die Analysen zum ersten Problemkreis bestimmen die Perspektive des Buchs. Die deutsche Gesellschaft der Zwischenkriegszeit war keine liberale Gesellschaft. Deshalb konnte sie es auch nach 1945/49 nicht sein, sondern sich bestenfalls langsam dahin entwickeln. Rothfels, der Geschichte stets als "Gegenwartswissenschaft" betrieb, wie Jan Eckel ausführt, war als Kind aus der Bildungsschicht, als Weltkriegsoffizier und Kriegsversehrter ganz selbstverständlich schwarz-weiß-rot orientiert und blieb das sein Leben lang. Daher erklärt sich die "Deutschtumszentrierung" (47) in den Auffassungen über Nationalstaat und Suprematie in Ostmitteleuropa. Sie war vorhanden, bevor Rothfels nach Königsberg ging und von der ideologischen Ostraum-Debatte noch zusätzlich beeinflusst wurde.
Ingo Haar verweist darauf, dass die "bürgerliche radikale Rechte [...] die parlamentarische Demokratie ausgehöhlt" hat (73). Gewiss, nur war die parlamentarische Demokratie als gesellschaftliche Aufgabe, nicht bloß als politisches System schon von 1919 an eine nahezu virtuelle Veranstaltung. Liberale Staatsbürgergesellschaft, Pluralismus sozialer und politischer Interessen sowie ein Konfliktaustrag nach parlamentarischen Regeln wurden in der Weimarer Republik vom ersten Tag an verächtlich gemacht oder offen bekämpft. Auch die Sozialdemokraten und die Zentrumskatholiken vermochten die Demokratie nicht funktionsfähig zu machen. Die paar bürgerlichen Liberalen der DDP, die das Problem sahen und zu überwinden trachteten, waren zu wenige, um je Wirkung zu entfalten. Rothfels gehörte zur bürgerlichen Ringbewegung, die, wie Haar feststellt, "den Nationalsozialisten zwar nicht ablehnend, im Grundsatz aber skeptisch" gegenüberstand (73). Das galt vor der Machtergreifung für die Mehrheit der bürgerlichen Mittelschicht einschließlich der Historiker.
Liberale wie Veit Valentin waren die Ausnahme und erhielten in der Historikerzunft keine Chance. Nationalsozialisten waren auch die Ausnahme, aber sie erhielten dann eine Chance, wenn sie weniger politisch braun, sondern eher ideologisch völkisch (mithin antipluralistisch, antiliberal und antiwestlich) orientiert waren. Sie konzipierten ihre Vorstellungen mittels eines Ordnungsdenkens, welches Thomas Etzemüller als Reaktion auf die Veränderungs- und Zerstörungsdynamik von Hochindustrialisierung, Weltkrieg und "Atomisierung" der Massengesellschaft beschreibt. Daraus ergaben sich die Vorstellungen von einer völkischen Neuordnung im Osten, wie sie Theodor Schieder und Werner Conze beeinflussten. Nach dem Krieg schwiegen sie über die genozidale Dimension des Neuordnungsdenkens. Schieder kompensierte das geradezu durch die von der Bundesregierung 1951 in Auftrag gegebene Vertreibungs-Dokumentation.
Hier kommt nun die Bedeutung von Rothfels als "Gegenwartswissenschaftler" ans Licht. Er war schwarz-weiß-roter Deutscher, akademischer Teilhaber am Ordnungsdenken der Zwischenkriegszeit, NS-Verfolgter, seit er vom bildungsbürgerlichen Protestanten zum 'Rassejuden' umgestempelt worden war. Als Emigrant und Remigrant wusste er, was eine liberale Gesellschaftsverfassung tatsächlich war. Mit seiner Studie über den Widerstand hatte er der schwarz-weiß-roten Tradition in der Gesellschaft der Zwischenkriegszeit die Ehre gerettet - seiner eigenen Tradition. Mit den "Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte" versuchte er, die Zusammenhänge zwischen antiliberaler Haltung und der kollektiven Bereitschaft, "dem Führer entgegenzuarbeiten" (Ian Kershaw), herauszupräparieren. Er handhabte, wie Hermann Graml schreibt, "seine Zeitschrift als Instrument historisch-politischer Aufklärung" (153).
In den ersten drei Jahrzehnten der Bundesrepublik wurde das 'Dritte Reich' aus dem Kontinuum der deutschen Geschichte herausgeschnitten und historiografisch verinselt. Das spiegelte sich in den Vierteljahrsheften wider, weil die Aufsätze mit NS-spezifischen Themen das Woher und Wohin kaum zur Sprache brachten. Aber die Publikationspolitik stellte sicher, dass Kenntnisse über weite Bereiche der NS-Herrschaft vermittelt wurden. Es hat bis in die 1980er-Jahre gedauert, ehe in Deutschland wie in den USA und Israel die Dimension des Völkermords und insbesondere die industrielle Vernichtung von Menschen für breitere Teile der Gesellschaft, auch der Historiker, überhaupt begreifbar wurden. Erst dann konnte das forschende Nachdenken wirken. Erst dann wurde ein Autor wie Raul Hilberg rezipiert. Erst dann vermischte sich das Entsetzen mit Scham, und daraus entstand das Bedürfnis zu moralischen Urteilen. Eiferertum kann, wie Mathias Beer zeigt, je zeittypisch in Erscheinung treten, aber es ist allein die rationale Analyse, die historische Komplexität zu durchdringen vermag.
Dieser Band wird Bestand haben als Dokumentation von wichtigen wissenschaftlichen Beiträgen und zugleich als Quelle zum öffentlichen Umgang mit dem Holocaust, wie er von 1979 bis 2001 vorherrschend war. Vorher und nachher gab es das nicht - ein Thema mithin für Historiker, die ihr Fach als Gegenwartswissenschaft verstehen.
Anselm Doering-Manteuffel