Thomas Schlemmer / Hans Woller (Hgg.): Politik und Kultur im föderativen Staat 1949 bis 1973 (= Bayern im Bund, Band 3. Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; Bd. 54), München: Oldenbourg 2004, 504 S., ISBN 978-3-486-56596-6, EUR 39,80
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Bei vielen Sammelbänden ist der Titel bereits das Schwierigste. Bei dem hier rezensierten Werk lautet er: "Politik und Kultur im föderativen Staat 1949-1973". Was kann man sich darunter vorstellen? Man denkt bei "Politik und Kultur" an die Künste, auch an Religion und Wissenschaft, an Brauchtum, Sitten und Bildung und daran, in welchen Zusammenhängen diese Bereiche mit der Politik in einem föderativen Staat stehen. Aber irritierend genug: der Begriff "Kultur" taucht in der 21 Seiten zählenden Einleitung so gut wie nicht auf.
Bei zwei Aufsätzen (von insgesamt sechs) wird schon im Titel deutlich, dass sie nicht von "Politik und Kultur" handeln. So bei dem Aufsatz von Karl Lauschke: "Strategien ökonomischer Krisenbewältigung. Die Textilindustrie im Westmünsterland und in Oberfranken 1945-1975." Die unterschiedlichen, von Parteikalkülen nicht freien Reaktionen der Landesregierungen Nordrhein-Westfalens und Bayerns auf die Krise in einer ehemaligen Schlüsselindustrie werden hier eingehend untersucht. Ebenso fehlt der Bezug zu "Kultur" bei dem Aufsatz von Petra Weber: "Föderalismus und Lobbyismus. Die CSU-Landesgruppe zwischen Bundes- und Landespolitik 1949-1969". Gegenstand ist nicht etwa das bundespolitische Wirken der CSU-Landesgruppe in Bonn, sondern ihr Eintreten für spezifisch bayerische Interessen im Konsens, aber auch im Spannungsverhältnis zur Politik der bayerischen Landesregierung. In der Tat muss man schon einen sehr weit gefassten Begriff von "Kultur" haben, wenn man diese beiden Aufsätze darunter subsumieren will.
Die anderen vier Aufsätze haben allerdings mit Kultur zu tun; drei davon mit Geschichtskultur und staatlichem Identitätsbewusstsein, sodass sie sich vom Thema her produktiv aufeinander beziehen lassen, wie man es von einem geglückten Sammelband erwartet.
Der Aufsatz von Christoph Cornelißen hat den Titel: "Der lange Weg zur historischen Identität. Geschichtspolitik in Nordrhein-Westfalen seit 1946". Er untersucht, wie in Nordrhein-Westfalen versucht wurde, durch Maßnahmen von Seiten der Politik - insbesondere unter den Ministerpräsidenten Meyer und Rau - ein Bewusstsein eigener staatlicher Identität aufzubauen. Das war schwierig. Denn das Bindestrich-Bundesland Nordrhein-Westfalen ist erst nach 1945 durch den Willen der englischen Besatzungsmacht entstanden, ein geschichtsloses, künstliches Bundesland ohne eigenstaatliche historische Traditionen. Und so rückten nicht Staatstraditionen, sondern die Lebens- und Arbeitswelt der einfachen Menschen an Rhein und Ruhr und ihre Leistungen für die industrielle Entwicklung in das Zentrum einer identitätsstiftenden Geschichtspolitik. Dieser neue Ansatz wurde mit einigem Erfolg insbesondere unter dem sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Rau gefördert. Das in Sachen geschichtliche Identität für die nordrhein-westfälischen Politiker verdeckt als Vorbild fungierende Bayern konnte dagegen sehr leicht an seine über 1000-jährige Tradition als Staat anknüpfen.
Dies wird durch den Aufsatz von Thomas Mergel bestätigt: "Staatlichkeit und Landesbewusstsein. Politische Symbole und Staatsrepräsentation in Bayern und Nordrhein-Westfalen 1945-1975". Er vergleicht die so unterschiedlichen Länder Bayern und Nordrhein-Westfalen und untersucht unter anderem Staatsverständnis, Repräsentation und Protokoll der Regierungen, die Funktion von Wappen und Landesfarben als Integrationsfaktoren, die wechselvolle Instrumentalisierung der Bayernhymne als Ausdruck bayerischer Eigenstaatlichkeit, die Stilisierung der Ministerpräsidenten als Landesvater, die Funktion von Orden, Titel und Preisen und die Selbstdarstellung der Länder in Ausstellungen und Museen.
Den letzten Aspekt thematisiert auch Edgar Wolfrum in seinem Aufsatz: "Geschichtspolitik in Bayern. Traditionsvermittlung, Vergangenheitsbearbeitung und populäres Geschichtsbewusstsein nach 1945". Themen sind unter anderem das Verhältnis Bayerns zur linksrheinischen Pfalz, die nach 1945 verloren gegangen ist, die Gründung des Instituts für Zeitgeschichte in München, die unterschiedliche Ausrichtung des Instituts für Bayerische Geschichte unter ihren Leitern Max Spindler und Karl Bosl, die Kontroversen um das Haus der Bayerischen Geschichte, aber auch die vielen dezentralen Museen, welche die bayerische Museumslandschaft prägen, und die Renaissance der Geschichtsvereine. Dies alles wird im übergreifenden Kontext einer auf Wahrung der Eigenstaatstradition und des Eigenstaatsbewusstseins abzielenden bayerischen Geschichtspolitik behandelt.
Abseits von Geschichtskultur, aber immer noch im Zusammenhang von Politik und Kultur, beschäftigt sich ein weiterer Aufsatz mit Forschungspolitik: Helmuth Trischler: "Nationales Innovationssystem und regionale Innovationspolitik. Forschung in Bayern im westdeutschen Vergleich 1945-1980". Trischler untersucht den Mythos Bayerns als Forschungsland, thematisiert die Schlüsselindustrien Raum- und Luftfahrt, Kernenergie und Mikroelektronik und kommt zu dem überraschenden Schluss, dass Bayern keinen bayerischen Sonderweg in der Forschungspolitik ging. Es war nur insgesamt erfolgreicher als andere Länder, zum Beispiel als Nordrhein-Westfalen.
Dass Bayern im Sammelband einen Schwerpunkt bildet, darf man bei einem Band erwarten, der in der vom Institut für Zeitgeschichte in München herausgegebenen Reihe "Bayern in Bund" erschienen ist. Der Reihentitel eröffnet dem Leser einen besseren Zugang zum Werk als der schlecht gewählte Buchtitel, geht es doch explizit darum: "die Rolle Bayerns im Konzert der deutschen Länder zu beschreiben, Antworten auf die Frage nach Gestaltungsmöglichkeiten und alternativen Handlungsoptionen der Landespolitik im Dschungel des kooperativen Föderalismus zu geben und genauer zu untersuchen, welche Prozesse der gegenseitigen Beeinflussung es dabei über die Grenzen der Länder gegeben hat"(3). Damit wird die Fragestellung des Buches präziser beschrieben, und es ist auch ersichtlich, warum Nordrhein-Westfalen als quasi der Hauptkonkurrent Bayerns auf der föderalen Ebene mit in die Analyse einbezogen wird. Auch dieser immerhin noch großen Aufgabe können die sechs zusammengetragenen Aufsätze allein von ihrer Anzahl her nicht gerecht werden. Dieses Defizits sind sich auch die Herausgeber Thomas Schlemmer und Hans Woller bewusst, wenn sie bedauern, dass "nicht einmal jeder zweite der von ihnen initiierten Beiträge fertiggestellt werden konnte" (13).
Und so nimmt es nicht Wunder, dass sich an anderer Stelle in der Einleitung viel bescheidener und jetzt jedoch zutreffend als Anliegen des Buches genannt wird: "einige Bausteine [...] zu liefern für eine "Geschichte der Bundesrepublik von den Ländern her" (10/11), für die es allenfalls nur bescheidene Vorarbeiten gibt. Dem Letzteren kann man zustimmen, da die Geschichte der frühen Bundesrepublik meistens eine Geschichte Bonns ist. Die Herausgeber betreten mit dem Ansatz Geschichte der Bundesrepublik von den Ländern her in der Tat weitgehend Neuland. Und so bezeichnen sie diese wenigen sechs Bausteine auch als "Pilotstudien" (13), verbunden mit dem Wunsch, dass andere folgen und auf ihnen aufbauen, sie ergänzen und modifizieren.
Wenn man die Ansprüche so weit herunterschraubt, dann ist die Lektüre der sechs Beiträge, die allesamt auf mühseligen, kleinteiligen, originären, eigenen Forschungsarbeiten der Autoren beruhen, ein Gewinn. Aber warum wird weder im Titel noch in der Einleitung deutlich sichtbar, dass es sich bei diesem Sammelband nur um einzelne Pilotstudien zu einer Geschichte der Bundesrepublik nach 1945 von den Ländern her handelt? Die Hälfte der sechs Beiträge erarbeitet schwerpunktmäßig, wie nach 1945 sowohl in Bayern als auch in Nordrhein-Westfalen durch eine identitätsstiftende Geschichtspolitik versucht wurde, den Staatscharakter durch gezielte Maßnahmen zur Förderung des Eigenstaatsbewusstseins der Bevölkerung zu untermauern. Die andere Hälfte der Beiträge ist jedoch sehr disparat.
So bleibt insgesamt der Eindruck, dass es sich um einen von konzeptionellen Unvollständigkeiten nicht freien Sammelband mit einem den Inhalt nur höchst ungenau beschreibenden Titel "Politik und Kultur im föderativen Staat 1949-1973" handelt, dessen Einzelbeiträge allerdings wegen ihrer Qualität jede Zeitschrift auszeichnen würden.
Manfred Hanisch