Klaus Garber (Hg.): Kulturgeschichte Schlesiens in der Frühen Neuzeit (= Frühe Neuzeit. Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext; Bd. 111), Tübingen: Niemeyer 2005, 2 Bde., XI + 1131 S., ISBN 978-3-484-36611-4, EUR 224,00
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Die Beschäftigung mit den ehemals zu Deutschland gehörenden oder von Deutschen besiedelten Gebieten Ost- und Südosteuropas hat seit dem politischen Umbruch von 1989/90 erfreulicherweise eine deutliche Intensivierung erfahren. Davon zeugen vor allem zahlreiche Publikationen; verwiesen sei nur beispielhaft auf das monumentale Sammelwerk "Deutsche Geschichte im Osten" (Berlin 1992 ff., 10 Bände). Einem etwas spezielleren Leserkreis gewidmet ist eine Serie von Bänden (1994 ff.), die sich in Form von Aufsatzsammlungen mit der frühneuzeitlichen Kulturgeschichte jener Gebiete befassen; sie gehen in der Hauptsache allesamt auf das beeindruckende Engagement Klaus Garbers (Osnabrück) zurück, der auf eine jahrzehntelange Beschäftigung mit diesem Thema zurückblicken kann. Nach Büchern zu Pommern, Ostpreußen, dem Baltikum und Westpreußen liegt jetzt ein fünfter Beitrag in zwei Teilbänden zu Schlesien vor. Im Gegensatz zu allen vorangegangenen Bänden sind es diesmal keine Aufsätze, die auf eine Tagung zurückgehen, die wohl geplant war, aber nicht durchgeführt werden konnte.
Der Band behandelt sieben Themenfelder, zu denen insgesamt 34 Aufsätze deutscher, polnischer und von Wissenschaftlern anderer Nationalitäten vorgelegt werden: historische Grundlagen der schlesischen Kulturgeschichte, Religion, Bildungswesen, Buchkultur, Bibliothekswesen, bildende Kunst und Musik, Literatur. Wie bei Sammelbänden dieser Art üblich, mischen sich Beiträge eher grundsätzlicher Natur mit oft sehr speziell wirkenden Abhandlungen. Quantitative und qualitative Kernstücke des Werkes bilden ohne Zweifel Klaus Garbers Darstellung der Breslauer Bibliotheksgeschichte und Lesław Spychałas Beschreibung der Handschriftenbestände der Universitätsbibliothek Breslau. Beide Texte zusammen umfassen mehr als zweihundert Seiten (zumeist in Petit). Allerdings wirken beide, die hauptsächlich Fakteninformationen in außerordentlicher Fülle und Dichte bieten, innerhalb des Werkes fast als Fremdkörper. Es sind Beiträge zum Nachschlagen, zur täglichen Benutzung des Spezialforschers, die übrigens quantitativ und qualitativ weit über das hinausgehen, was auf 24 Seiten des "Handbuchs deutscher historischer Buchbestände in Europa" (Band 6) geboten wurde. Eine separate Veröffentlichung dieser Repertorien, die so auch rascher von der interessierten Öffentlichkeit wahrgenommen werden könnten, wäre wohl günstiger gewesen. Eine weitere Materialzusammenstellung (fast 50 Seiten), die vor allem seitens der deutschsprachigen Benutzer dankbar in die Hand genommen werden dürfte, bildet ein Forschungsüberblick zur polnischen Literatur zur schlesischen Buchgeschichte (Anna Żbikowska-Migoń, Elźbieta Herden). Im Wesentlichen eine Bibliographie bietet auch Hans-Joachim Koppitz zum Breslauer Verlag Fellgiebel (68 S., davon 50 S. Druck- und Materialverzeichnisse). Eine (höchst verdienstvolle) Materialzusammenstellung liefert schließlich Manfred Komorowski mit einer Auflistung aller promovierten schlesischen Ärzte und Juristen des 17. Jahrhunderts (40 S.).
Die übrigen 29 "normalen" Aufsätze können hier nicht im Einzelnen vorgestellt werden. Ich behandele anhand einiger Beispiele einige grundsätzliche Probleme. Im Unterschied zu den bisher berücksichtigten ostdeutschen bzw. osteuropäischen Territorien, deren kulturelle Bedeutung damit nicht geschmälert werden soll, war Schlesien eine "führende Landschaft des alten deutschen Sprachraums" (so Klaus Garber im Vorwort). Das gilt für fast alle der angesprochenen sieben Themenkomplexe. Es wäre daher sicher hilfreich gewesen, wenn Beiträge grundsätzlicher Natur in die einzelnen Felder eingeführt hätten. Das ist nicht geschehen (mit bedingten Ausnahmen zur Religions- und zur Kunstgeschichte); es dominiert die Beschäftigung mit Spezialia und Spezialissima. Umso mehr erhofft man sich vom Einführungsaufsatz "Kulturgeschichte Schlesiens in der Frühen Neuzeit - Eine historische Grundlegung" von Andreas Rüther. Man wird nur partiell befriedigt. Das ist schon bedingt durch das irritierende Schwanken zwischen thematischer Abhandlung und einem Referat zu den in letzter Zeit über schlesische Geschichte erschienenen Büchern. Es geht auch nicht (wie im Titel versprochen) um die Frühe Neuzeit - nur vereinzelt werden Jahre aus der Zeit nach 1500 erwähnt -, sondern allein um das mittelalterliche Schlesien. Das historische Umfeld des 16. bis 18. Jahrhunderts wird nicht recht erkennbar (Gleiches gilt für die entsprechende Sekundärliteratur). Reformation, Calvinismus, Konfessionalisierung, Späthumanismus, Rekatholisierung, Aufklärung und andere zentrale Phänomene werden so nicht oder kaum sichtbar. Einige dieser Aspekte werden stattdessen in dem überzeugenden Aufsatz "Religion, Politik und Späthumanismus. Zum Wandel der schlesisch-böhmischen Beziehungen im konfessionellen Zeitalter" von Joachim Bahlcke wenigstens angesprochen. Gleiches gilt für Detlef Haberlands Aufsatz zu "Oberschlesien in der Frühen Neuzeit. Überlegungen zur Perspektive der Erforschung seiner Literatur- und Kulturgeschichte".
Die Forschungen zur schlesischen Geschichte werden aus nahe liegenden Gründen heute insbesondere von polnischen Forschern betrieben. Seit der eingangs erwähnten politischen Wende hat sich das Verhältnis zwischen deutscher und polnischer Wissenschaft sichtlich entkrampft. Das Zustandekommen der vorliegenden Bände bietet dafür selbst ein Beispiel. Dennoch fehlt es nicht an Problemen. Insbesondere verharren deutsche und polnische Forschungen immer noch zu sehr in ihrem eigenen Kultur- und Sprachkreis. Von deutscher Seite sind es oft die fehlenden polnischen Sprachkenntnisse, die kommunikationshemmend wirken. Bei der Kenntnisnahme polnischer Arbeiten wird man mitunter an eine Stelle in den Memoiren des gebürtigen Breslauers Norbert Elias erinnert, wo seine Interviewpartner (zwei Holländer) die naive Frage stellen, ob Breslau, das jetzt "wieder zu Polen" gehöre, um 1900 eine deutsche Stadt gewesen sei. [1] Solche auch heute noch lebendigen Vorstellungen bilden das Ergebnis einer unter politischen Aspekten nicht unverständlichen, aber historisch abwegigen, im Polen der Nachkriegszeit propagierten Auffassung, es handele sich bei den ehemaligen deutschen Ostgebieten letztendlich um polnische Territorien, die über Jahrhunderte unter deutscher Fremdherrschaft standen. Das ist heute kein offizieller Standpunkt mehr, scheint aber im Hintergrund immer noch eine Rolle zu spielen. So vermitteln verschiedene Aussagen im vorliegenden Buch den Eindruck, das frühneuzeitliche Schlesien sei weniger eine deutsche Kulturlandschaft gewesen, sondern eher ein Teil des polnischen Kulturkreises. Beispielsweise konstatieren die beiden Autorinnen des bereits erwähnten, sehr kompetenten Beitrages zur Forschungsliteratur zum schlesischen Buchwesen immer wieder, dass die (durchaus zahlreichen) Arbeiten sich weitgehend auf "polnische Belange" konzentrieren; polnische Darstellungen, die die Multikulturalität Schlesiens wahrnehmen, seien von "Seltenheitswert". Eine einseitige Betrachtungsweise dokumentiert auch der einige Erwartungen auslösende Aufsatz von Mirosńawa Czarnecka mit dem anspruchsvollen Thema "Deutsch-polnische Kommunikation im plurinationalen Kulturkontext des Barock". Nach den Ausführungen der Autorin handelte es sich damals jedoch eher um einen einseitigen Prozess der Übernahme polnischer Kultur: Allenthalben verbreitet sich die Kenntnis der polnischen Sprache, die als lingua franca Osteuropas charakterisiert wird. Die behauptete konfessionelle Indifferenz von Martin Opitz z. B. sei in der religiösen Toleranz in Polen begründet gewesen, die das Land "zum vorbildlichen fortschrittlichen Staat Europas" machten. Dass es mit dieser zum Mythos erhobenen Toleranz ab Mitte des 17. Jahrhunderts ziemlich deutlich am Ende war und grausame Religionsverfolgungen an deren Stelle traten, wird nicht berichtet. Das "ganze 17. Jahrhundert" über sei, heißt es dagegen, Polen ein "Refugium" der religiös Verfolgten gewesen. Irritierende Feststellungen findet der Leser im Beitrag des Finnen Ilpo Tapani Piirainen ("Frühneuhochdeutsche Handschriften in Schlesien"): 1409 vertreibt der "deutsche König" Wenzel (1400 abgesetzt!) alle Deutschen aus Böhmen; die Stadt Oppeln war "Privatbesitz" (wessen?); Oberschlesien gehörte um 1700 zu Österreich; die "Kanzleisprache" in Sorau war bis zum 2. Weltkrieg deutsch (sprach man in dieser deutschen Stadt sonst polnisch?). [2] Leibniz habe in seiner unter dem Pseudonym Georgius Ulicovius Lithuanus 1669 veröffentlichten Schrift über die Wahl eines neuen polnischen Königs die Idee der Toleranz vertreten. Dort heißt es u. a. jedoch über einen jeden Nichtkatholiken in unmissverständlicher Deutlichkeit: "Ergo damnandus nisi mutetur". [3]
Das vorliegende Werk thematisiert eindrücklich die Bedeutung der schlesischen Kulturgeschichte und treibt die Forschung in vielen Einzelfragen voran. Er zeigt aber zugleich mal mehr, mal weniger deutlich die zahlreichen weißen Flächen auf, die der Erschließung noch harren. Insofern kann der im Buchtitel gegebene hohe Anspruch, eine "Kulturgeschichte Schlesiens" zu bieten, nicht eingelöst werden. [4]
Anmerkungen:
[1] Norbert Elias über sich selbst. A. J. Heerma van Voss / A. van Stolk: Biographisches Interview mit Norbert Elias, Frankfurt a. M. 1996, 12. Elias' Antwort lautete: "Ganz und gar deutsch ... Ich habe dort nie ein polnisches Wort gehört."
[2] Es wird keine deutsche Übersetzung dieses Textes aus dem Finnischen erwähnt. Man wäre sonst geneigt, manche der zahlreichen Schnitzer der Unkenntnis des Übersetzers zuzuschreiben.
[3] Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Sämtliche Schriften und Briefe. Vierte Reihe: Politische Schriften, Bd. 1, 3. Aufl., Berlin 1983, 20.
[4] Die kunstgeschichtlichen Beiträge enthalten zahlreiche Fotos (insgesamt 54, immer ganzseitig), deren Wiedergabe (auch aktueller Aufnahmen) in ihrer Qualität teilweise kaum dem Niveau des ausgehenden 19. Jahrhunderts entspricht. Bei dem geforderten Verkaufspreis der Bände kann der Leser hier mehr erwarten.
Detlef Döring