Benjamin Frommer: National Cleansing. Retribution against Nazi Collaborators in Postwar Czechoslovakia (= Studies in the Social and Cultural History of Modern Warfare; Vol. 20), Cambridge: Cambridge University Press 2005, xv + 387 S., ISBN 978-0-521-00896-9, GBP 15,99
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In allen Teilen Europas, die während des Zweitens Weltkriegs unter der Knute des NS-Regimes geächzt hatten, stand nach der Befreiung die Abrechnung mit den Besatzern und Kollaborateuren ganz oben auf der Tagesordnung. Aus mehreren Gründen markiert die Tschechoslowakei dabei einen besonders interessanten Fall: Erstens waren Böhmen und Mähren das am längsten besetzte Gebiet in ganz Europa; dementsprechend hart fiel hier das Strafgericht aus. Zweitens gab es einen engen Konnex zwischen der Bestrafung von NS-Verbrechen und der Vertreibung der sudetendeutschen Bevölkerung. Drittens wurde vielfach behauptet, dass dieser schmerzhafte Prozess eine wichtige Rolle für die Machtübernahme der Kommunisten im Februar 1948 gespielt habe. Umso erstaunlicher mutet es an, dass die Historiografie bislang einen weiten Bogen um dieses Thema gemacht hat.
Diese Lücke schließt nun teilweise die Studie von Benjamin Frommer - teilweise deswegen, weil die Abrechnung mit dem Nationalsozialismus in der Slowakei ganz anders verlief als in den böhmischen Ländern, und Frommer sich aus guten Gründen ganz auf den westlichen Landesteil konzentriert. Gestützt auf eine Vielzahl von Archivquellen sowie die umfangreiche zeitgenössische Publizistik, analysiert Frommer nicht nur die Retributionsgesetze und ihre Entstehungsgeschichte sowie die Praxis der Abrechnung in Böhmen und Mähren, sondern auch die damit verbundenen politischen Konflikte und die weit reichenden Konsequenzen für die weitere politische Entwicklung der ČSR. Seine Ergebnisse und Interpretationen sind beeindruckend, denn es gelingt Frommer immer wieder, neue Akzente zu setzen und ältere Sichtweisen in Frage zu stellen.
Das gilt schon für die erste Phase der "wilden Abrechnung", die unmittelbar nach der Befreiung und dem Kollaps des deutschen Verwaltungsapparats im Mai 1945 einsetzte. Ohne jede Rechtsgrundlage bestraften tschechische Partisanen und selbst ernannte Sicherheitskräfte vermeintliche und tatsächliche Übeltäter auf eigene Faust. Tausende Deutsche, aber auch nicht wenige Tschechen wurden in Lager gepfercht und in Gefängnisse geworfen, in regelrechten Gewaltexzessen schwer misshandelt und nicht selten ermordet. Frommer erblickt darin nicht primär einen spontanen Ausbruch des aufgestauten Volkszorns, sondern ein bewusst eingesetztes Instrument zur Vorbereitung der Vertreibung der Deutschen: "Wild retribution was not simply an organic explosion of antipathy; it was consciously desired, planned, and executed by Czech leaders." (40) Und "[...] Czechoslovak leaders did not seek to suppress vigilantism. In fact, they repeatedly encouraged violence as a means to magnify the Wild Transfer and summarily reduce the country's German population." (61) Eine These, die für Zündstoff sorgen dürfte.
Dem blutigen Aufgalopp folgte ein langer und schmerzhafter Säuberungsprozess, der weite Teile der Gesellschaft erfasste. Die rechtliche Grundlage schuf das Dekret Nr. 16/1945 über die Bestrafung von Nazi-Verbrechern, Verrätern und ihren Komplizen und über die außerordentlichen Volksgerichte, das Präsident Beneš am 19. Juni 1945 unterzeichnete. Das so genannte "Große Dekret", das weitgehend von der Londoner Exilregierung ausgearbeitet worden war, enthielt eine Reihe schwerwiegender Geburtsfehler, die den Handlungsspielraum der Gerichte stark einschränkten und für viele Ungerechtigkeiten verantwortlich waren: Das Mindeststrafmaß betrug fünf Jahre Freiheitsentzug, die Berücksichtigung mildernder Umstände war ebenso ausgeschlossen wie eine Berufung gegen die Urteile, und Todesurteile mussten binnen drei Stunden vollstreckt werden. Die letztgenannte Bestimmung führte zu einer europaweit einmalig hohen Vollstreckungsquote von fast 95 Prozent. "As a result the Czech provinces, with only one fourth of the French population, executed almost as many defendants as France" (90) - das Land, in dem mit Abstand die meisten Todesurteile verhängt wurden.
Dabei waren die fünfköpfigen Außerordentlichen Volksgerichte, die aus einem Berufsrichter und jeweils einem Vertreter der vier in der "Nationalen Front" zusammengeschlossenen Parteien bestanden, alles andere als blutrünstig. Konfrontiert mit einer kaum zu bewältigenden Fülle von Fällen, entwickelten sich die Gerichte zu Garanten der Rechtsstaatlichkeit: Sie schlugen zahlreiche Verfahren nieder, in denen die Anklage lediglich auf erpressten Geständnissen oder falschen Zeugenaussagen basierte, sie berücksichtigten mildernde Umstände, obwohl dies im "Großen Dekret" nicht vorgesehen war, und sie blieben in ihren Urteilen nicht selten unter dem vorgeschriebenen Strafmaß, wie überhaupt die Urteile im Lauf der Zeit zunehmend milder ausfielen. Das trug den Gerichten scharfe Kritik der Kommunisten ein, die gehofft hatten, ihre bürgerlichen Opponenten auf diesem Weg entscheidend zu schwächen. So avancierte die Abrechnung mit dem Nationalsozialismus zu einer der zentralen politischen Auseinandersetzungen innerhalb der Allparteienkoalition.
Vor allem auf Druck der Kommunisten wurde die Säuberung im Oktober 1945 wesentlich ausgeweitet: Das "Kleine Dekret", das ausschließlich Tschechen betraf, schuf unter dem Rubrum "Vergehen gegen die nationale Ehre" eine Fülle neuer Straftatbestände, darunter die formale Mitgliedschaft in faschistischen Organisationen, den Wechsel der Nationalität und soziale Beziehungen zu Deutschen. Am schwersten wog jedoch, dass der Zeitraum, in dem diese "Vergehen" strafbar waren, bis Ende Dezember 1946 ausgedehnt wurde. Das "Kleine Dekret" bedrohte somit potenziell auch all diejenigen, die nach der Befreiung Deutsche bzw. Kollaborateure unterstützt oder sich gegen die Willkür der Sicherheitsorgane ausgesprochen hatten. Frommer sieht darin strukturelle Parallelen zur NS-Judenpolitik: "In deterring Czechs from violation newly drawn national boundaries, the Small Decree thus isolated the Germans and thereby facilitated their deportation, just as the Nuremberg Laws and subsequent Nazi polices had criminalized contacts with Jews and thereby paved the way for their extermination. As such, the honor commissions illustrate how auxiliary laws and institutions can provide the conditions necessary for 'ethnic cleansing' to occur." (242)
Dies war freilich nur eine der vielen Verbindungslinien zwischen Abrechnung und Vertreibung. Während die Aburteilung exponierter sudetendeutscher Funktionsträger die kollektive Bestrafung der deutschen Bevölkerung rechtfertigen sollte, unterminierte die zügige Durchführung der Vertreibung den erklärten Willen der tschechoslowakischen Regierung, alle NS-Straftäter zu belangen. Nicht wenige hoch belastete Deutsche entgingen durch ihre Ausweisung der juristischen Verfolgung, in anderen Prozessen fehlten wichtige Zeugen. Daraus resultierten gravierende Ungerechtigkeiten in der Abrechnung mit NS-Tätern: Während viele kleine Nazis schon in der Anfangszeit abgeurteilt worden waren, kamen andere, denen weit größere Vergehen zur Last gelegt wurden, ungeschoren davon.
Dass es aber auch Lichtblicke in diesem insgesamt dunklen Kapitel gab, verdeutlicht Frommer am Beispiel des Prozesses gegen die Herausgeber und Redakteure der Zeitung "Áriský boj" (Arischer Kampf). Diese Hetzpostille im Stil des "Stürmer" verfügte über eine eigene Rubrik für die Denunziation von Juden und ihren "Unterstützern" und hatte eine wichtige Hilfsfunktion für die Entrechtung und Ermordung der Juden im Protektorat, da die Gestapo das Blatt gezielt auswertete. Angesichts der Konsequenzen für die Denunzierten, die den beteiligten Redakteuren klar gewesen sein dürften, waren die Todesurteile und langjährigen Haftstrafen alles andere als ein Ausfluss "politischer Siegerjustiz". "Despite its undeniable shortcomings, postwar Czech retribution represented a serious and thorough attempt to face the crimes of the past, including those committed by Czechs themselves." (347)
Die Kehrseite der Medaille stellte die Perpetuierung des Denunziantentums nach der Befreiung dar, die ein Klima von Unsicherheit und Angst schuf bzw. konservierte. Insbesondere die Kommunisten riefen zur Denunziation auf, die sie als "patriotische Pflicht" deklarierten. Wie schon in der Besatzungszeit, war die Denunziation aber auch ein probates Mittel, um private Rechnungen zu begleichen - mit weit reichenden Folgen: "The wave of baseless accusations after the war arguably retarded society's recovery from the occupation and thus facilitated the consolidation of a totalitarian regime after 1948." (184) Zwar erfüllten sich die Hoffnungen der Kommunisten, ihre politischen Widersacher aburteilen zu lassen, nicht. Dennoch trug die Abrechnung mit dem Nationalsozialismus wesentlich zur Erosion der Rechtsstaatlichkeit und der Rechtssicherheit in der Nachkriegstschechoslowakei bei, was die Machtübernahme der KPČ im Februar 1948 wesentlich erleichterte.
Frommers brillante Studie besticht erstens durch ihre abgewogene Argumentation. Obwohl nie um pointierte Wertungen verlegen, zeichnet er ein sehr differenziertes Bild der Abrechnung mit dem NS in Böhmen und Mähren. Zweitens ist die Arbeit hervorragend geschrieben. Dazu tragen nicht zuletzt die vielen Fallbeispiele bei, die Frommer nicht nur illustrativ verwendet, sondern geschickt in die Argumentation integriert. Drittens, und das ist vielleicht die größte Leistung, analysiert Frommer die Etappen, die vom liberalen Rechts- zum staatssozialistischen Unrechtsstaat führten: Dies geschah nicht über Nacht im Februar 1948, sondern in einem langen Prozess, der mit der deutschen Okkupation begann und erst gegen Ende der 1940er-Jahre abgeschlossen war. Ben Frommer hat damit nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der Tschechoslowakei im entscheidenden Jahrzehnt von 1938 bis 1948 und zur Abrechnung mit der deutschen Besatzungsherrschaft geliefert, sondern auch zur Transformationsforschung. Ein großer Wurf.
Jaromír Balcar