Rezension über:

Robert Luft / Miloš Havelka / Stefan Zwicker (Hgg.): Zivilgesellschaft und Menschenrechte im östlichen Mitteleuropa. Tschechische Konzepte der Bürgergesellschaft im historischen und nationalen Vergleich (= Veröffentlichungen des Collegium Carolinum; Bd. 109), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, XIV + 434 S., ISBN 978-3-525-37306-4, EUR 69,99
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Rezension von:
Jaromír Balcar
Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Jaromír Balcar: Rezension von: Robert Luft / Miloš Havelka / Stefan Zwicker (Hgg.): Zivilgesellschaft und Menschenrechte im östlichen Mitteleuropa. Tschechische Konzepte der Bürgergesellschaft im historischen und nationalen Vergleich, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 7/8 [15.07.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/07/25528.html


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Robert Luft / Miloš Havelka / Stefan Zwicker (Hgg.): Zivilgesellschaft und Menschenrechte im östlichen Mitteleuropa

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Seit der Epochenwende von 1989/91, die mit dem Zusammenbruch der realsozialistischen Regime in Ost-, Südost- und Ostmitteleuropa einherging, hat das Konzept der "Zivilgesellschaft" oder "Civil Society" nicht nur in der historischen und politikwissenschaftlichen Forschung, sondern auch in Politik und Öffentlichkeit Konjunktur. Dabei ist der Begriff unscharf und wird recht unterschiedlich verwendet. Im Kern geht es um "die Vision einer modernen, pluralistischen Gesellschaft freier und selbständiger Individuen (Bürger), die auf der Basis der Menschen- und Bürgerrechte bzw. im Rahmen eines Rechtsstaats das politische Geschehen und die gesellschaftlichen Fragen gestalten oder zumindest in freiem Zusammenschluss das staatliche Agieren zum Wohl der Gemeinschaft modifizieren und kontrollieren." (X-XI) Wer von "Zivilgesellschaft" spricht, erhebt in der Regel entweder die Forderung nach einer Demokratisierung politischer und gesellschaftlicher Strukturen oder versucht, einen bereits erfolgten Transformationsprozess zu erklären.

Der hier zu besprechende Band präsentiert die Ergebnisse eines deutsch-tschechischen Forschungsprojekts, das unter dem Rahmenthema "Die Integration des östlichen Europa: Zwischen Anspruch und Wirklichkeit" des Bayerischen Forschungsverbunds Ost- und Südosteuropa (FOROST) am Münchner Collegium Carolinum durchgeführt wurde. Er stellt nicht nur neuere Debatten und Konzeptionen der Zivil- bzw. Bürgergesellschaft im östlichen Europa vor, sondern verknüpft diese auch mit älteren Diskursen der Menschen- und Bürgerrechte, die in den böhmischen Ländern und benachbarten Regionen geführt wurden.

Die Beiträge, die aus zwei Konferenzen hervorgegangen sind, gliedern sich in drei Abschnitte. Im ersten geht es um "Zivilgesellschaftliche Konzepte vom Dissens in den spätsozialistischen Systemen bis zu neueren Auseinandersetzungen im östlichen Europa". Dieser Teil ist der schwächste, denn so schwammig wie seine Überschrift bleiben auch die meisten der hier versammelten Texte. Historische Konkretion sucht der Leser zu oft vergeblich. Und nach langem Räsonieren stehen dann Ergebnisse wie die - im Grunde doch recht banale - Feststellung, dass sich der tschechische Diskurs um Zivilgesellschaft von derjenigen "im Westen" unterschieden habe. Wer hätte das gedacht?

Hinzu kommt, dass mancher Autor der Versuchung nicht widerstehen konnte, sich durch die längliche Zitation eigener Texte aus der Wendezeit zum zivilgesellschaftlichen Akteur zu stilisieren - eine wenig subtile Form der Selbstbeweihräucherung.

Von alldem hebt sich der Aufsatz von Stefan Garsztecki wohltuend ab, der zugleich der einzige in dieser Sektion ist, der sich nicht mit der Tschechoslowakei bzw. den böhmischen Ländern beschäftigt, sondern mit Polen. Die "dreifache Entzauberung" (177), die die polnische Zivilgesellschaft nach dem Ende der friedlichen Revolution mit dem Zerfall der Oppositionsbewegung, der Entstehung wachsender sozialer Ungleichheiten und dem Kampf um die Privatisierung erlebte, liefert indes eine Matrix, die sich wohl auch auf die Entwicklung in anderen Postkommunistischen Staaten - zumindest auf die in der Tschechoslowakei bzw. der Tschechischen Republik - anwenden ließe.

Im Zweiten Abschnitt geht es um "Menschenrechte und Konzepte der Bürgergesellschaft: Historische Wurzeln in den böhmischen Ländern seit dem 19. Jahrhundert". Hier ist besonders der Beitrag von Robert Luft hervorzuheben, der die zivilgesellschaftliche Praxis im 19. Jahrhundert in gewohnter Souveränität darlegt: Er bietet auf 20 Seiten eine bestens informierte Sozial- und Kulturgeschichte der Entstehung und Entwicklung der Zivilgesellschaft in den böhmischen Ländern. Karel Malys Analyse der allgemeinen Rechte der Staatsbürger in Österreich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts liefert dazu eine gute Ergänzung.

Der dritte Abschnitt, der etwas mehr als ein Viertel des Bandes ausmacht, besteht aus einer Reihe wichtiger Quellentexte, von denen die meisten hier erstmals in einer deutschen Übersetzung zugänglich gemacht werden. Die Auswahl erfolgte mit Bedacht: Sie umfasst Schlüsseltexte von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis ins Jahr 1980, die u.a. die Besonderheiten des tschechischen Diskurses um die "Bürgergesellschaft" deutlich hervortreten lassen wie etwa das Konzept der "nichtpolitischen Politik", das bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden war und in der Dissidentenbewegung der 1970er und 1980er Jahre eine erstaunliche Renaissance erlebte. Ein weiterer Pluspunkt der von Miloš Havelka einfühlsam eingeleiteten Auswahl liegt darin, dass sie mit der - zumal in Deutschland nach wie vor zu beobachtenden - Fixierung auf Václav Havel bricht.

Insgesamt dominiert der diachrone Vergleich zwischen zivilgesellschaftlichen Konzepten in den böhmischen Ländern im 19. und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Vergleich mit anderen Staaten oder Regionen Ostmitteleuropas ist dagegen nur schwach ausgeprägt - hier wäre Raum für weitere Forschungen, die das heute beinahe ubiquitär verwendete Adjektiv "transnational" verdienten.

Die Stärke des Bandes liegt darin, dass er die neueren Debatten um Zivil- bzw. Bürgergesellschaft überzeugend an ältere Diskurse um Menschen- und Bürgerrechte in der tschechischen Gesellschaft rückbindet. Diese Kontextualisierung wirft indes eine weiterführende Frage auf, die nicht an das Ende, sondern an den Anfang der realsozialistischen Diktatur verweist: Wenn die böhmischen Länder am Ende des Zweiten Weltkriegs auf eine starke und weit zurückreichende zivilgesellschaftliche Tradition zurückblicken konnten, warum war dann gerade in der Tschechoslowakei der "Eigenanteil" auf dem Weg in den Staatssozialismus so groß?

Die Klärung dieser Frage scheint mir nicht zuletzt deswegen so wichtig, weil sie zum Ergebnis haben könnte, dass etablierte zivilgesellschaftliche Strukturen eine Gesellschaft bzw. ein Gemeinwesen mitnichten gegen totalitäre Vereinnahmungen oder "feindliche Übernahmen" durch diktatorische Regime imprägnieren. Zumindest veranschaulicht die Entwicklung der Tschechischen Republik in den letzten Jahren, in denen ihre politische Klasse einen Offenbarungseid nach dem anderen leisten musste und die Politikverdrossenheit in weiten Teilen der Bevölkerung beängstigende Dimensionen annahm, dass weit zurückreichende zivilgesellschaftliche Traditionen nach der Überwindung totalitärer Regime noch längst nicht automatisch in ein reibungslos funktionierendes demokratisches Gemeinwesen münden.

Jaromír Balcar