Markus Cerman / Robert Luft (Hgg.): Untertanen, Herrschaft und Staat in Böhmen und im "Alten Reich". Sozialgeschichtliche Studien zur Frühen Neuzeit (= Veröffentlichungen des Collegium Carolinum; Bd. 99), München: Oldenbourg 2005, VIII + 369 S., ISBN 978-3-486-57586-6, EUR 39,80
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Robert Luft / Miloš Havelka / Stefan Zwicker (Hgg.): Zivilgesellschaft und Menschenrechte im östlichen Mitteleuropa. Tschechische Konzepte der Bürgergesellschaft im historischen und nationalen Vergleich, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014
Milan Hlavačka / Robert Luft / Ulrike Lunow (Hgg.): Tschechien und Bayern. Gegenüberstellungen und Vergleiche vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München: Collegium Carolinum 2016
Markus Cerman: Villagers and Lords in Eastern Europe, 1300-1800, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2012
Dieser Sammelband geht auf eine Tagung zurück, die im Rahmen des von der Volkswagen-Stiftung finanzierten internationalen Forschungsprojekts "Soziale Strukturen in Böhmen in der Frühen Neuzeit" im März 1999 am Collegium Carolinum in München durchgeführt wurde. Dabei wurden ausgewählte Ergebnisse des Forschungsprojekts zu den Beziehungen zwischen Staat, Grundherren, Dorfgemeinden und Untertanen, zur Übertragung untertänigen Besitzes, zu Erbschaftspraxis, Familien- und Haushaltsstrukturen sowie zu den Handlungsspielräumen der Untertanen im frühneuzeitlichen Böhmen referiert und diskutiert und mit gleichzeitigen Entwicklungen im "Alten Reich" und darüber hinaus verglichen. Zusätzlich zu den Druckfassungen der meisten Referate der Münchener Tagung enthält der Band eine Einleitung sowie einen Aufsatz von Tom Scott zur Leibeigenschaft in Südwestdeutschland.
Markus Cerman resümiert einleitend die wichtigsten Ergebnisse des 1999 zu Ende gegangenen Forschungsprojekts, stellt die einzelnen Beiträge des Sammelbandes vor und setzt sie zueinander und mit der internationalen Forschungsliteratur in Beziehung. Zu Recht betont er, unter anderem am Beispiel der Frage der Besitztransaktionen und der Erbschaftspraxis in Böhmen und Mähren, die Notwendigkeit regionaler Differenzierung.
Die Beiträge sind zu zwei Duos und einem Hauptblock zusammengefasst. Im ersten Duo ("Staat und Gutsherrschaft in Böhmen") skizziert zunächst Eduard Maur die Beziehungen zwischen dem Staat und den Gutsherrschaften in Böhmen vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts. Er betont, dass die Habsburger nach ihrem Sieg über die böhmischen Stände (1620) "den Gutsherren ohne jegliche Änderung die fast ausschließliche Befugnis über ihre Untertanen" beließen (40). Sheilagh Ogilvie analysiert in einer luziden Fallstudie am Beispiel der nordböhmischen Herrschaft Friedland / Frýdlant (1583-1692), gestützt auf eine Auswertung der herrschaftlichen Gerichts- und Amtsprotokolle, "Staat und Untertanen in einer lokalen Gesellschaft". Sie bezweifelt, "dass die Konfessionalisierung eine andere als die bloß formell zur Schau gestellte Einwilligung der widerständigen Untertanen in die Staatsreligion mit sich gebracht hat" (77), und betont, die Dorfbewohner seien im 17. Jahrhundert "keine verängstigten und sozialdisziplinierten Untertanen [gewesen], sondern schlaue und rationale Individuen, die das regulatorische System für ihre eigenen Interessen zu nutzen wussten" (80). Ihre folgende Einschätzung hat einiges für sich (78 f.): "Die böhmischen Gutsherren waren nichts als ein weiterer Agent und Nutznießer des aufsteigenden frühmodernen Staates. In mancher Hinsicht verkörperten sie den Staat, weil Adelige die meisten staatlichen Ämter in Böhmen einnahmen."
Der Hauptblock ("Aspekte der sozialen Praxis in Gutsherrschaftsgesellschaften in Böhmen und im 'Alten Reich'") versammelt sieben mikrohistorische Fallstudien zu verschiedenen, teils stärker agrarisch, teils stärker gewerblich bzw. protoindustriell geprägten Herrschaften, Städten, Märkten und Dörfern Böhmens und Mährens mit unterschiedlich starker Marktintegration sowie einen Beitrag zu ostelbischen Territorien. Bronislav Chocholáč analysiert die finanziellen Transaktionen und die daraus resultierende Verschuldung der Untertanen in ausgewählten Dörfern und Märkten Westmährens im späten 16. und im 17. Jahrhundert. Die beobachteten Veränderungen erklärt er mit der wachsenden Intensität der Gutswirtschaft und den steigenden Steuerforderungen des Staates. Josef Grulich diskutiert die strukturellen Wandlungen im Besitztransfer und in der regionalen Mobilität der untertänigen Bevölkerung in einem zu der südböhmischen Herrschaft Chejnow / Chýnov gehörenden Gericht im 17. und 18. Jahrhundert im Spannungsfeld der Interessen der Untertanen, der Gutsherrschaft und des Staates. Im Laufe des 18. Jahrhunderts kam es zu einer Stabilisierung der Besitzverhältnisse, als deren Folge der Anteil von Besitzübertragungen zugunsten von Verwandten deutlich gestiegen ist. Alice Velková thematisiert am Beispiel der Entwicklung des Erbrechts und der ländlichen Familienstruktur in einem Markt und drei Dörfern der westböhmischen Herrrschaft Stahlau / Štáhlavy das Eingreifen des Staates in die Beziehungen zwischen Gutsherrschaft und Untertanen. Im Zentrum ihres Interesses steht das auch in anderen Beiträgen vorkommende Patent Kaiser Josephs II. vom 3. April 1787, durch das bestimmt wurde, dass künftig jeweils der älteste Sohn das untertänige Anwesen erben sollte, eine Bestimmung, die sich mit einiger Verzögerung tatsächlich durchsetzte. Alena Pazderová behandelt die Beziehungen zwischen Gutsherrschaft und Untertanen, vor allem im Zusammenhang mit Besitztransfers und Teilungen untertäniger Güter, am Beispiel zweier Dörfer der Herrschaft Reichenau an der Kněžna / Rychnov nad Kněžnou in Nordostböhmen im 18. Jahrhundert. Abschließend schlägt sie zur Charakterisierung der Verhältnisse in der Herrschaft Reichenau im 18. Jahrhundert den Begriff "gefestigte Erbuntertänigkeit" vor.
Der einzige weder böhmische noch mährische Beispiele behandelnde Beitrag des Hauptblocks stammt von Werner Troßbach. Er geht davon aus, "dass es bisher nicht gelungen ist, die Bedeutung von bäuerlichem Widerstand im Geflecht der Ursachen, die das jeweilige Gesicht der Agrarstruktur geprägt haben, exakt zu bestimmen" (204), und untersucht zu diesem Zweck "'Protest' und 'Abwehrverhalten' in Territorien zwischen Elbe und Oder, 1550-1789". Er diskutiert die unterschiedlichen Begrifflichkeiten, Herangehensweisen und Ergebnisse neuerer mikrohistorischer Forschungen zu "Klassenkampf", "Widerstand", "(sozialem) Protest" und "Abwehrverhalten" und regt an, die Sichtweisen der DDR-Historiografie, die den bäuerlichen Widerstand vor allem mit der Agrarstruktur in Zusammenhang gebracht habe, und der bundesdeutschen Historiografie, wo zunächst das administrativ-juristische System ausgewählt worden sei, zu integrieren (215). Für bestimmte, von der DDR-Historiografie seinerzeit unter die Kategorie "niedere Formen des Klassenkampfes" rubrizierte Aktivitäten und Maßnahmen von Untertanen schlägt Troßbach die Begriffe "Selbsterhaltung" und "Selbsterhaltungsverhalten" vor. Er betont "die zentrale Stellung von Kommunikationsprozessen für das Thema insgesamt" (229) und die Dialektik von "Widerständigkeit" und "Untertänigkeit" (230).
Dana Štefanová untersucht die (alles in allem wohl schrumpfenden) Handlungs(spiel)räume von Dorfgemeinden und Dorfrichtern in Gutsherrschaften am Beispiel dreier Dörfer der Herrschaft Friedland / Frýdlant von der Mitte des 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts. Hermann Zeitlhofer widmet sich sozialhistorischen Aspekten des Heiratsverhaltens von Untertanen in der südböhmischen Pfarre Kapellen / Kapličky von der Mitte des 17. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Zu den Hauptergebnissen der ertragreichen Studie zählt die Erkenntnis, dass es im Untersuchungsgebiet "während der gesamten Neuzeit eine zahlenmäßig starke haus- und landlose, dennoch aber verheiratete Bevölkerungsgruppe" gab (275). Der Beitrag von Lenka Matuūíková schließlich ist der Entwicklung des ausschließlich auf lokale Märkte orientierten Handwerks in der böhmischen Kammerherrschaft Podiebrad / Poděbrady im 17. und 18. Jahrhundert gewidmet.
Das den Band, abgesehen von der Liste der zwischen 1996 und 2004 erschienenen Publikationen des Forschungsprojekts "Soziale Strukturen in Böhmen", beschließende Duo "Untertänigkeit und soziale Strukturen in langfristiger Perspektive" vereint einen räumlichen und einen zeitlichen Ausreißer. Tom Scotts höchst anregender und facettenreicher, in dem Band aber doch etwas isoliert wirkender Aufsatz über "die südwestdeutsche Leibherrschaft / Leibeigenschaft in komparativer Sicht" ist nicht zuletzt eine weit ausholende Fundamentalkritik an Robert Brenners Thesen über Entwicklung und Typologie des Feudalismus und der Leibeigenschaft in Europa. Scott plädiert für stärkere sachliche und begriffliche Differenzierungen und die Suche nach multikausalen Erklärungen für Entstehung und Fortbestand unterschiedlicher Formen dinglicher, persönlicher und territorialer Unfreiheit in Europa. Er kommt unter anderem zu dem Schluss (310): "Die für den Südwesten [Deutschlands] getroffene scharfe Unterscheidung zwischen Grundherrschaft [...] und Leibherrschaft [...] verbaut den Zugang zu anderen Formen der Abhängigkeit, die grundherrschaftlich verankert waren und somit einen Bogen zur Untertänigkeit in Osteuropa schlagen." Im letzten Beitrag geht Markus Cerman den Ursachen für die Etablierung und Verbreitung unterbäuerlicher Schichten (Landarme und Landlose) in den böhmischen Ländern, Brandenburg und Pommern im Laufe des Spätmittelalters nach. Der wohl wichtigste Ursachenkomplex für die Entstehung unterbäuerlicher Schichten im Untersuchungsgebiet dürfte in ihren ökonomischen Funktionen für die Eigenwirtschaften der adeligen und geistlichen Grundherrschaften sowie der Pfarrer und der Dorfrichter (sei es in Gestalt von Frondiensten oder von Lohnarbeit oder von beidem bzw. von Mischformen), aber auch für die Landwirtschaft der untertänigen (Groß-)Bauern sowie von grundbesitzenden Bürgern zu suchen sein. Jedenfalls müsse "die Präsenz unterbäuerlicher Schichten in Verbindung mit ökonomischen und nicht mit demographischen Faktoren gesehen werden" (340). Überdies diskutiert Cerman die Rolle des Landmarktes und seiner Struktur (Teilungen von Bauerngütern und unterbäuerlichen Besitzungen, Parzellierungen von Meierhöfen, Dorferweiterungen auf bisher ungenütztem oder neu gerodetem Land sowie auf Gemeindeland, Wiederbesiedlung von Wüstungen etc.) bei der Bildung unterbäuerlicher Schichten im Spätmittelalter.
Der Band ist ein wichtiger Beitrag zur internationalen Forschungsdiskussion über Typologie und Funktionsweise von Agrargesellschaften in der Frühen Neuzeit. Er ist sorgfältig redigiert und enthält nicht allzu viele Übersetzungsfehler. Leider wird er weder durch ein Orts- noch durch ein Sachregister erschlossen.
Thomas Winkelbauer