Folkert Nanninga: Wählen in der Reichsgründungsepoche. Die Landtagswahlen vom 8. Juli 1868 und 5. Dezember 1870 im Königreich Württemberg (= Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg. Reihe B: Forschungen; Bd. 157), Stuttgart: W. Kohlhammer 2004, LVI + 684 S., 1 CD-ROM, ISBN 978-3-17-018495-4, EUR 52,00
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Die Jahre 1866 bis 1871 stellen für die moderne Geschichte Württembergs eine Schlüsselepoche dar, in der sich das Königreich innen- wie außenpolitisch neu positionierte. Ähnlich wie in Preußen spaltete sich auch dort der politische Liberalismus in zwei Parteien: Die kleindeutsch orientierte und sich immer mehr zu einer nationalliberal-konservativen, die Regierung stützende "Deutsche Partei" (DP) sowie die antipreußische, linksliberal-demokratische "Volkspartei" (VP), welche sich die Wahrung der Souveränität Württembergs und den freisinnigen Ausbau seiner Verfassung in der Tradition der Errungenschaften der Revolution des Jahres 1848 auf die Fahnen schrieb. Daneben gab es noch die ebenfalls regierungsoppositionell eingestellten konservativen Großdeutschen und die so genannten "Ministeriellen", gouvernemental eingestellte Abgeordnete, die die Regierung im Wahlkampf besonders unterstützte. Die Stimmung war in Württemberg nach 1866 stark antipreußisch, die Regierung Varnbüler musste deshalb auf einen Kooperationskurs einschwenken. Dies geschah zum Einen durch die erfolgreiche, verdeckte Unterstützung der preußenfeindlichen Kräfte bei den Zollparlamentswahlen im März 1868, zum Andern kam die Regierung der Opposition in der Frage der anstehenden Verfassungsreform entgegen. Es gelang dieser (v. a. der VP) zwar nicht, ihre weit gesteckten Absichten, eine grundsätzliche Revision der württembergischen Verfassung im Sinne der Einführung eines parlamentarischen Systems nach westeuropäischem Muster durchzusetzen, doch konnte wenigstens das Minimalziel einer Wahlrechtsänderung erreicht werden: Das indirekte wurde durch ein direktes, geheimes Wahlrecht ersetzt, dieses stand künftig allen volljährigen württembergischen Männern zu. Ein echtes allgemeines Wahlrecht (wie das zum Zollparlament) war dies allerdings streng genommen weiterhin nicht: Ausgenommen blieben (zeittypisch) die Frauen, ferner die Bezieher öffentlicher Armenunterstützung; erhalten blieben auch die 23 so genannten "privilegierten Mandate" der zweiten Kammer. Wie folgenreich diese bescheidenen Veränderungen dennoch waren, zeigte das Ergebnis der am 8. Juli 1868 stattfindenden Landtagswahlen, bei denen die Regierung erstmals die Parlamentsmehrheit verfehlte. Diese für das Ministerium Varnbühler prekäre Situation, in der implizit die Chance zu einer schleichenden Parlamentarisierung des württembergischen Verfassungssystems lag, änderte sich erst durch die vorgezogenen, unter dem Eindruck des deutsch-französischen Krieges stattfindenden Landtagswahlen vom 5. Dezember 1870, bei denen Großdeutsche und VP eine vernichtende Niederlage erlitten und die DP stärkste Fraktion im Landtag wurde. Der vorher fraglichen parlamentarischen Ratifizierung der Reichsgründungsverträge stand damit nichts mehr im Wege, weiter gehenden Parlamentarisierungstendenzen war faktisch ein Riegel vorgeschoben. Deshalb firmieren die Dezemberwahlen in der Forschung auch als "kritische Wahl", da sie die Mehrheitsverhältnisse im württembergischen Landtag und das Parteisystem des Königreichs bis zum Ende des Jahrhunderts prägten.
Dieser hier knapp skizzierte verfassungsgeschichtliche Rahmen wird von Folkert Nanninga leider nur am Rande und kaum über die allernotwendigsten Fakten hinausgehend behandelt. Dies ist angesichts der Komplexität und des Umfangs des Themas zwar verständlich, aber insofern etwas bedauerlich, als dadurch die wissenschaftliche Relevanz der Arbeit jenseits wahlgeschichtlicher Fragestellungen im engeren Sinne verdunkelt und zudem der mit den zentralen Themen der württembergischen Geschichte des 19. Jahrhunderts nicht vertraute Leser vom Autor ein wenig im Stich gelassen wird. Dennoch handelt es sich bei dem umfangreichen Band um eine beeindruckende Pionierleistung, die sowohl für die vergleichende historische Wahlforschung als auch für die Rechts- und Verfassungsgeschichte von erheblicher Bedeutung ist und auch bleiben wird. Nanninga verfolgt das Ziel, anhand einer Detailanalyse der Landtagswahlen von 1868 und 1870 "mögliche Zusammenhänge zwischen Sozialstruktur und politischer Struktur bis hinunter zur mikrohistorischen Ebene zu erhellen" (11). Er geht hierbei von der klassischen Fragestellung der Wahlforschung ("wer was wann/wo warum gewählt hat") aus, untersucht aber ebenso das gerne vernachlässigte Thema des Nichtwählens (1868 ließen sich 18 % der Wahlberechtigten nicht in die Wahllisten eintragen) sowie die Ausbildung lokaler Wahltraditionen. Dies geschieht, was angesichts der Fülle des vorhandenen Materials verständlich ist, auf der Basis ausgewählten Quellenmaterials. Verwendet hat Nanninga neben den einschlägigen Quellen im Stuttgarter Hauptstaatsarchiv v. a. die Bestände der Stadtarchive von Bad Buchau, Esslingen, Göppingen, Kirchheim u. T., Künzelsau, Marbach, Münsingen und Urach sowie der Staatsarchive Ludwigsburg und Sigmaringen; ferner umfangreiches zeitgenössisches publizistisches Material. Für beide Landtagswahlen untersucht Nanninga zunächst die Ebene der Wahlkreise (v. a. Kandidaten, Wahlrecht, Wahlkampf, Wahlkultur, Wahlprogramme, Wahlbeteiligung, Konfessionsstruktur und Schwerpunkte der Parteien sowie deren Stimmenanteile und Sozialstruktur), dann die Ebene der Wahlbezirke und Gemeinden sowie die der Individualdaten. Gemessen am Umfang des aufbereiteten Quellenmaterials bleiben allerdings die präsentierten Ergebnisse überraschend vage und knapp. Man vermisst an der Darstellung ein wenig den analytischen Zugriff, über weite Strecken kommentiert der Autor lediglich seine Daten und begnügt sich mit einer rein narrativen Wiedergabe des Wahlkampfgeschehens, ohne dies alles im Sinne seiner ja formulierten Fragestellung systematisch aufzubereiten und in Gestalt griffiger Thesen auf den Punkt zu bringen. Insofern fallen seine "Ergebnisse" (233-235 bzw. 559-570) auch überraschend knapp aus.
Aus den Einzeluntersuchungen schließt Nanninga für Landtagswahlen von 1868, dass diese trotz des partiellen Weiterwirkens älterer, auf den überkommenen Honoratiorenstrukturen fußender Mechanismen (z. B. bei der Kandidatenauswahl) durch einen Partizipationsschub, v. a. im Wahlkampf gekennzeichnet sind; dies nicht zuletzt deshalb, weil der Politisierungsgrad der Wähler außerordentlich hoch war. Als bestimmende Faktoren der Wahlentscheidung ermittelte Nanninga auf der Ebene der Wahldistrikte v. a. die Zugehörigkeit zum katholischen Milieu, die Gemeindegröße und (mit gewissen Einschränkungen) die Landwirtschaftsstruktur. Vor diesem Hintergrund interpretiert er das württembergische Parteiensystem als "ansatzweise" modern, weil es sozioökonomisch strukturiert gewesen sei. Im Hinblick auf die Wahlen von 1870 bestreitet der Autor allerdings die Annahme einer "kritischen Wahl", weil es sich bei der Wahl des Jahres 1868 um keine für eine vergleichende Bewertung geeignete "normale" Wahl gehandelt habe. Nanninga weist in diesem Zusammenhang v. a. darauf hin, dass Verluste und Gewinne von Großdeutschen bzw. VP auf der einen und der DP auf der anderen Seite in erheblichem Umfang auf Wahlenthaltung bzw. Mobilisierung von vormaligen Nichtwählern zurückzuführen seien, nicht in erster Linie auf Wählerwanderungen. Zudem habe sich ein Teil der Wechselwähler bereits 1876 wieder von der DP abgewandt. Konfessionelle Prägungen erweisen sich für Nanninga auch 1870 als die bedeutendsten Ausgangspunkte von Konfliktlinien für das im Wandel begriffene württembergische Parteiensystem; v. a. die Katholiken wählten im Vorfeld der Reichsgründung weiter großdeutsch. Bemerkenswert bleibt, dass trotz der Konstituierung der "Katholischen Landespartei" und der Abspaltung der Deutschkonservativen von der DP im Jahr 1876 Ansätze zur Ausbildung eines "modernen", vom Gegensatz katholisch-konservativ/liberal geprägten Parteiensystems - nicht zuletzt wegen des weit gehenden Fehlens eines spezifisch württembergischen Kulturkampfs - versandeten: Die Parteiorganisationen von VP und DP zerfielen und Honoratiorenkandidaturen alten Stils, auf Seiten der DP meist unterstützt durch die Regierung, nahmen wieder zu; die Mehrheitsverhältnisse änderten sich während der nächsten gut 25 Jahre kaum.
Zusammenfassend gilt es noch einmal festzustellen, dass es sich bei der vorliegenden Arbeit trotz der erwähnten vereinzelten Schwächen in der Darstellung um eine sehr verdienstvolle Studie handelt, deren Ertrag vor allem darin besteht, dass sie für die weitere Forschung umfangreiches Material aufbereitet und unser Wissen um die Praxis der Landtagswahlen in einem wichtigen deutschen Mittelstaat auf detailliert ausgewerteter Quellenbasis erheblich erweitert hat. Zum Textband gehört noch eine CD mit weiterführendem Datenmaterial, die Korrelationstabellen der Landtagswahlen von 1868 bis 1895, die Wahldaten der 70 württembergischen Wahlkreise von 1876-1900, Kurzbiografien der Landtagskandidaten und Abgeordneten von 1876 bis 1900 sowie sozialstatistische Daten der Oberämter, Gemeinden und Wahldistrikte für den Zeitraum 1867 bis 1871 (bzw. 1895) enthält.
Matthias Stickler