Eckart Conze: Schatten des Kaiserreichs. Die Reichsgründung von 1871 und ihr schwieriges Erbe, München: dtv 2020, 288 S., ISBN 978-3-423-28256-7, EUR 22,00
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Das Deutsche Kaiserreich ist in letzter Zeit zum Gegenstand von mit harten Bandagen ausgetragenen Kontroversen unter Historikern geworden, die in manchem an den "Historikerstreit" der 1980er Jahre erinnern. In diesen Kontext gehört auch das hier zu besprechende Buch von Eckart Conze, das dieser als "historische Analyse und geschichtspolitische Intervention" (17) bezeichnet. Wir haben es hier also nicht mit einer klassischen historischen Untersuchung der Innen- und Außenpolitik des Kaiserreichs zu tun, sondern eher mit einer essayistisch angelegten, auf Polarisierung und argumentative Zuspitzung setzenden geschichtspolitisch motivierten Streitschrift. Der Band gliedert sich im Wesentlichen in drei Großkapitel: In Kapitel I "Der Weg zum Nationalstaat" legt Conze seine Sichtweise der Entstehung des kleindeutsch-preußischen Reiches dar. Kapitel II "Der autoritäre Nationalstaat" fasst bereits im Titel eine der maßgeblichen Grundthesen Conzes schlagwortartig zusammen, dass nämlich das Kaiserreich ein von politischem Autoritarismus geprägter, auf "der nationalen Ebene und politisch-konstitutionell nicht reformfähig[er]" Machtstaat gewesen sei (106). Kapitel III "Ein vergangenes Reich?" - eine unverkennbare Anspielung auf das wichtige, 1995 erschienene Buch von Klaus Hildebrand "Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler 1871-1945" - behandelt schließlich die Bewertung der Geschichte des Kaiserreichs vor dem Hintergrund geschichtspolitischer Fragestellungen und geht in diesem Zusammenhang auch ein auf den immer noch nicht entschiedenen Streit um Entschädigungsfragen betreffend den Besitz des Hauses Hohenzollern in der vormaligen Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands bzw. der DDR.
Vor allem in den Kapiteln I und II entwickelt Conze, dessen Forschungsschwerpunkte vor allem im 20. Jahrhundert liegen, auf der Basis ausgewählter einschlägiger Literatur seine düster grundierte und als Fluchtpunkt den Kriegsausbruch 1914 und das nationalsozialistische Deutsche Reich stets im Blick habende Sichtweise der Geschichte des Kaiserreichs. Auch wenn er immer wieder die grundsätzliche Offenheit der historischen Entwicklung betont, so handelt es sich hierbei bei näherem Hinsehen doch um rein rhetorische Bekenntnisse. So behauptet Conze beispielsweise, dass bereits im Reichsgründungsjahrzehnt die Konfliktsituation von 1914 Gestalt angenommen habe (168). Zwar wird sogleich nachgeschoben, dass der Weg dahin "weder zwangsläufig noch unausweichlich" gewesen sei, doch ist dies lediglich ein rhetorisches Zugeständnis. Man könnte bildhaft davon sprechen, dass Conze im Hinblick auf die Kernthesen seiner Streitschrift argumentativ immer zwei Schritte vorangeht und dann bisweilen einen Schritt zurück; so kommt man zwar langsamer, aber dennoch sicher ans Ziel.
Bemerkenswert ist, dass Conze immer auch wieder mit zustimmender Rhetorik Ergebnisse der Forschungen von Thomas Nipperdey zitiert. Bei diesem hat Conze wohl auch Anleihen genommen für den Titel seines Buches: "Schatten des Kaiserreichs" rekurriert ganz offensichtlich auf den Begriff "Schattenlinien", den Nipperdey im Schlussteil seiner "Deutsche[n] Geschichte 1866-1918" verwendet hat: "Ist Hitler nicht das unüberspringbare Faktum, von dem all unser historischer Rückblick auf die jüngere deutsche Geschichte ausgehen muss? Ist das nicht das Erbe aus der Zeit des Kaiserreichs, gemischt aus Schuld und Verhängnis, Erbe seiner 'Schattenlinien'?" Conzes Versuche, Nipperdey in einem gewissen Umfang als Gewährsmann für seine Sicht des Kaiserreichs zu benutzen - ein anderes Beispiel ist etwa seine affirmative Zustimmung zu Nipperdeys programmatischem Band-Untertitel "Machtstaat vor der Demokratie" (106) - vermögen jedoch nicht wirklich zu überzeugen. Bezeichnenderweise ignoriert er Nipperdeys Warnung, die nur wenige Zeilen nach der Schattenlinien-Metapher folgt: "Aber wo diese Perspektive allein gelten will, ist sie auch ganz und gar einseitig, in die Irre führend." [1] Conze folgt argumentativ im Wesentlichen den Pfaden, die bereits in der Weimarer Republik Johannes Ziekursch und seit den späten 1960er Jahren Hans-Ulrich Wehler vorgegeben haben. Hinsichtlich der Kolonialpolitik des Kaiserreichs rezipiert er auch umfänglich Veröffentlichungen aus dem Umfeld der Postcolonial Studies, was insofern nicht verwundert, weil deren Protagonisten in besonderer Weise einen Zusammenhang von deutscher Kolonialpolitik und NS-Verbrechen behaupten.
Conze erblickt vor allem in dem von Christopher Clark verfassten, 2012 in englischer und 2013 in deutscher Sprache erschienenen Bestseller "Die Schlafwandler - Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog", eine Art Tabubruch. Clarks Buch habe, so Conze, indem jener den Ausbruch des Ersten Weltkriegs als Systemversagen deute, ein Bild des Kriegsbeginns gezeichnet, das "den breiten Konsens in Wissenschaft und Öffentlichkeit, national wie international, attackierte, der sich in der Beurteilung des Kriegsbeginns seither [seit den 1960er Jahren, MS] eingestellt hatte" (232). Hinzu kommt, dass das Kaiserreich für Conze keineswegs vergangen ist. Er postuliert vielmehr: "Geschichte ist immer Gegenwart" (197), und verbindet diese Aussage mit der These, dass sich Deutschlands politische und gesellschaftliche Eliten und auch die deutsche Geschichtswissenschaft seit den 1960er Jahren mehrheitlich von dem vorher konstitutiven, eher affirmativen Bezug auf das Kaiserreich und damit von der "nationalkonservativen Hegemonie" (213) gelöst habe. Die Forschungen Fritz Fischers, die Sonderwegs-These sowie die an der Vorstellung vom Primat der Innenpolitik orientierten Arbeiten Wehlers werden von Conze sehr positiv bewertet im Sinne einer Läuterung der deutschen Geschichtswissenschaft. Für die Gegenwart stellt Conze fest, dass das Bild der "Bielefelder" vom Kaiserreich "in seinen Kernelementen nach wie vor Bestand" habe (214). Diese Aussage ist insofern bemerkenswert, weil Conze, wie erwähnt, immer wieder bestrebt ist, seine Argumentation auch unter Berufung auf die Forschungen von Nipperdey abzusichern, der zu den schärfsten Kritikern von "Wehlers Kaiserreich" gehörte und diesen polemisch, aber effektvoll, als "Treitschke redivivus" bezeichnete. [2]
Es geht Conze in seinem Buch offenbar weniger um wissenschaftliche Fragestellungen im engeren Sinne, als vielmehr um ein letztlich weltanschaulich-volkspädagogisches Anliegen, das wissenschaftspolitisch abgesichert werden soll: Er sieht in der Distanz zu "Bismarck und seiner Politik" einen "Gradmesser für die Liberalität in Politik und Gesellschaft." (230) Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Conze neuere, von ihm als revisionistisch apostrophierte Tendenzen in der Kaiserreich-Forschung - das diesbezügliche Kapitel hat den bezeichnenden Titel "Eine 'normale' Nation und ihre Interessen" (236-241) - polemisch nicht nur als "verblüffend verkürzt" und "einseitig" bezeichnet, sondern auch als "politisch gefährlich" (236); ausdrücklich erwähnt werden hier v.a. die Forschungen von Hedwig Richter. Im weiteren Verlauf seiner Argumentation, bei der sich Conze v.a. an Herfried Münkler, Dominik Geppert und Sönke Neitzel abarbeitet, wird er noch deutlicher: Vor dem Hintergrund der damaligen Krise in der Europäischen Union interpretiert er den von ihm scharf kritisierten "Revisionismus" im Hinblick auf die historische Bewertung des Kaiserreichs als interessengeleitet im Sinne eines Primats nationaler Interessen in der Außenpolitik. "Geschichtspolitische und europapolitische Diskussion vermischten sich. [...] Vor diesem Hintergrund waren das Buch und die Thesen Clarks gerade in Deutschland hoch willkommen." (241). Conze warnt geradezu pathetisch: "Die kritische Distanz, die seit den 1960er Jahren den Blick auf die Geschichte des Kaiserreichs in Deutschland bestimmte und die ein Indikator der politischen und kulturellen Liberalität des Landes ist, droht verloren zu gehen. Dahinter steht auch das Interesse von Rechtspopulisten und neuen Nationalisten, das Bild des Nationalstaats Kaiserreich so zu zeichnen, dass sich der Nationalstaat Bundesrepublik selbstbewusst und unbefangen in dessen Tradition stellen kann." (253f.)
Man fragt sich bei der Lektüre von Conzes Kaiserreich immer wieder, ob es, was seine alarmistischen Warnungen anbelangt, nicht auch eine Nummer kleiner geht. Ewald Frie hat in einem sehr lesenswerten Forschungsbericht mit Blick auf Conzes Buch zurecht davor gewarnt, dass die historische Analyse gegenüber der geschichtspolitischen Intervention nicht zu stark zurücktreten dürfe. "Warnhinweise und Stoppschilder, die sich daraus ergeben, sind nicht forschungsproduktiv." [3] Im Hinblick auf die retrospektive historische Bewertung des Kaiserreichs wäre manchmal, so scheint mir, eine ähnlich selbstbewusste Gelassenheit wünschenswert, wie sie Frankreichs Präsident Emmanuel Macron am 5. Mai 2021 an den Tag legte bei seiner Rede aus Anlass des 200. Todestags Napoleons I. [4], der in Frankreich angesichts der Zwiespältigkeit seines bis heute nachwirkenden historischen Erbes inzwischen durchaus ambivalent gesehen wird. Macron warnte ausdrücklich davor, die Vergangenheit mit den Maßstäben der Gegenwart zu beurteilen und bezeichnete die französische Nation als "une Nation-palimpseste qui reçoit les héritages sans testament. En peuple libre". Ein schönes Bild, das aber möglicherweise auch nur auf eine "Grande Nation" anwendbar ist.
Anmerkungen:
[1] Beide Nipperdey-Zitate in: Ders.: Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. II: Machtstaat vor der Demokratie, München 1992, 880.
[2] Thomas Nipperdey: Wehlers Kaiserreich. Eine kritische Auseinandersetzung, in: Geschichte und Gesellschaft 1 (1975), 539-560, hier 542.
[3] Ewald Frie: Rausch und Nation. Neuerscheinungen zum 150-jährigen Jubiläum der Reichsgründung, in: Historische Zeitschrift 313 (2021), 695-714, hier 713.
[4] https://www.elysee.fr/emmanuel-macron/2021/05/05/commemoration-du-bicentenaire-de-la-mort-de-napoleon-ier (14.4.2022).
Matthias Stickler