Rezension über:

Eckart Conze / Norbert Frei / Peter Hayes / Moshe Zimmermann (Hgg.): Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, 3. Auflage, München: Karl Blessing Verlag 2010, 880 S., ISBN 978-3-89667-430-2, EUR 34,95
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Rezension von:
Sebastian Weitkamp
Stiftung Gedenkstätte Esterwegen
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Sebastian Weitkamp: Rezension von: Eckart Conze / Norbert Frei / Peter Hayes / Moshe Zimmermann (Hgg.): Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, 3. Auflage, München: Karl Blessing Verlag 2010, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 4 [15.04.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/04/19020.html


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Eckart Conze / Norbert Frei / Peter Hayes / Moshe Zimmermann (Hgg.): Das Amt und die Vergangenheit

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Im Jahr 2005 beauftragte der damalige Bundesaußenminister Joschka Fischer eine Unabhängige Historikerkommission damit, die Geschichte des Auswärtigen Amts (AA) im Nationalsozialismus aufzuarbeiten sowie die Auswirkungen, Kontinuitäten und Diskontinuitäten nach 1945 zu untersuchen. Das Ergebnis wurde Ende Oktober 2010 publiziert. Die Studie Das Amt gliedert sich in zwei Teile, einen für die NS-Zeit und einen für die Bundesrepublik. Schon zu Beginn der Einleitung wird die Zielrichtung des ersten Teils deutlich. Mit Bezug auf den ehemaligen Diplomaten und SS-Führer Franz Krapf, der während des Krieges an der Botschaft Tokio arbeitete, wird konstatiert: "Über Krapfs Tätigkeit ist wenig bekannt, aber klar ist: Selbst im fernen Ostasien waren deutsche Diplomaten mit der 'Endlösung' der Judenfrage befasst." (9) In der Folge wird die Geschichte des AA im 'Dritten Reich' fast ausschließlich auf der Folie der sich bis zur Vernichtung radikalisierenden Judenverfolgung dargestellt. Abgesehen davon, dass sich die deutschen Vertretungen in Ostasien geographisch wie inhaltlich an der absoluten Peripherie der 'Endlösung' befanden, fehlt jeder Beleg, was Krapf konkret in diesem Zusammenhang getan haben soll. Damit sind die beiden großen Schwächen des ersten Teils angesprochen: die einseitige Fokussierung auf die Rolle des AA in der Vernichtungspolitik und ihrer Vorgeschichte sowie eine mitunter ungenügende Belegführung.

Bei der Lektüre verfestigt sich der Eindruck, dass die ersten Kapitel mit der Vorgabe konzipiert wurden, das AA und die Diplomaten zu Entscheidungsträgern des Holocaust zu stilisieren. Der Text beginnt folglich damit, welche Maßnahmen ergriffen wurden, um 1933 die Ausschreitungen im Zuge der Machtübernahme, insbesondere gegen jüdische Bürger, zu rechtfertigen und das Ausland zu beschwichtigen. Gefördert durch einen von den Autoren kaum näher spezifizierten, der Diplomaten-Kaste immanenten Antisemitismus habe das AA in den folgenden Jahren an der Ausgrenzung, Vertreibung und einsetzenden Vernichtung als Drahtzieher mitgearbeitet (13, 29 f., 34 f. und öfter).

Im Sommer 1941 sorgte der Chef des Reichssicherheitshauptamts Reinhard Heydrich dafür, dass dem AA die Berichte über die Massentötungen der Einsatzgruppen in der Sowjetunion zugesandt wurden. Selbstverständlich konnten sie nicht ignoriert werden. Sie wurden zur Kenntnis genommen. Die Studie konstruiert daraus eine allgemeine Zustimmung des AA zur Vernichtung: "Ihre Aufnahme in der Wilhelmstraße signalisiert auch das Einverständnis des Amtes mit der 'Endlösung'." (188) Eine solche Schlussfolgerung geht völlig fehl. Die Kenntnisnahme der Tötungsberichte machte das AA zunächst einmal zu einem Mitwisser, nicht mehr und nicht weniger. Die Argumentationslinie kulminiert bereits einige Seiten zuvor in dem Satz: "An der Entscheidung über die 'Endlösung' war die Spitze des Auswärtigen Amtes direkt beteiligt. Das Schicksal der deutschen Juden wurde am 17. September 1941 besiegelt: An diesem Tag fand ein Treffen Hitlers mit Ribbentrop statt." (185) Der Satz ist oft zitiert und ebenso oft kritisiert worden - zu Recht. Eine solch bemerkenswerte Behauptung bleibt wiederum ohne Beleg. Der Leser erfährt weder etwas über den Inhalt des Gesprächs noch einen überzeugenden Grund, warum gerade dieses Treffen von so weitreichender Bedeutung gewesen sein soll. In Wirklichkeit stand Außenminister Ribbentrop an der Peripherie des NS-Führungszirkels, und die Institution, die den Massenmord ausführen sollte, war die SS Himmlers, nicht das AA Ribbentrops. Deutlich wurde dies auch bei der 1942 erfolgten 'Wannseekonferenz', die unter dem Vorsitz Heydrichs und nicht Ribbentrops abgehalten wurde. Das AA war lediglich eines von insgesamt elf Ressorts, deren bedingungsloser Mithilfe sich Heydrich versichern wollte. Der Auswärtige Dienst war zweifellos ein williger und willfähriger Komplize bei der Vernichtung der europäischen Juden, aber nicht einer der Entscheidungsträger. Es entwickelte ernsthafte Initiativen im Rahmen seiner Möglichkeiten und Aufgaben, nachdem die systematische Ermordung in Gang gesetzt worden war. Es traf aber nicht die Entscheidung, diese in Gang zu setzen.

Bei der thematischen Dominanz der Vernichtungspolitik werden andere wichtige Felder nur gestreift oder bleiben unerwähnt; etwa die Abschirmung der Kriegspolitik oder die Vertuschung von und Verstrickung in Kriegsverbrechen. Es wäre ebenfalls eine nähere Betrachtung wert gewesen, wie das AA im Laufe des Krieges begann, mithilfe von SD und Gestapo gegen die eigenen Diplomaten vorzugehen. So wurde etwa der Gesandte Erich Heberlein durch die SS und mit Zustimmung des AA 1944 aus Spanien nach Deutschland entführt. Zur gleichen Zeit bestellte das AA auch den Presse-Attaché Eckehard Tertsch zur Berichterstattung nach Berlin - er wurde bei der Ankunft verhaftet und in das KZ Sachsenhausen gebracht. Vor allem fehlt eine fundierte Einordnung des AA in das NS-Herrschaftssystem, wo es sich gegen para-diplomatische Parteiinstitutionen und nicht zuletzt gegen die beißende Kritik Hitlers am verstaubten Diplomatenstand behaupten musste. Man erfährt zwar von der starken Personalvergrößerung und dem Ausbau des AA. Warum dies geschah, bleibt aber weitgehend im Dunkeln. Für Erklärungen wird der Leser auch zukünftig noch zu Hans-Adolf Jacobsens Studie "Nationalsozialistische Außenpolitik 1933-1938" (Frankfurt a.M. / Berlin 1968) greifen müssen.

Überzeugender ist der zweite Teil der Studie über den Wiederaufbau des Auswärtigen Dienstes in der Bundesrepublik, der einen größeren Erkenntnisgewinn bietet, etwa über die dichten Netzwerke, die vielen ehemaligen Diplomaten den Wiedereinstieg ermöglichten. Dabei ist die Wirkung der lange kultivierten "Selbstentschuldigung" nicht zu unterschätzen, welche praktisch zwischen einem "guten, alten" Beamtenkörper und den "neuen" NS-Quereinsteigern unterschied. Auch das AA selbst machte sich diese Sichtweise sehr schnell zu Eigen. Sie bildete einen Schutzschirm, unter den sich nicht wenige belastete Berufskollegen flüchten konnten - sei es bei der Wiedereinstellung oder bei den wenigen Strafprozessen. Bei den Ermittlungsverfahren profitierten die Diplomaten davon, dass ihnen kein Wissen um den Massenmord nachgewiesen werden konnte. Die meisten Verfahren wurden ergebnislos eingestellt. Mehr Details hätte man sich noch zur "Zentralen Rechtsschutzstelle" gewünscht, welche praktisch Täterschutz betrieb, indem sie deutschen Kriegsverbrechern juristisch zur Seite stand und vor Reisen ins Ausland warnte. Das Schlusskapitel hinterlässt dann wieder einen seltsamen Eindruck. Wo man sich ein ergebnissicherndes Resümee gewünscht hätte, erfährt man viel über die Vorgeschichte der Kommissionseinsetzung, die bis in die Hausbesetzerjahre Joschka Fischers zurückreicht. Dies ist zwar erhellend, hat mit dem eigentlichen Thema aber kaum mehr zu tun.

Das Nachwort nutzt die Kommission zu einem bemerkenswerten Schlag gegen das Politische Archiv des AA, dessen Arbeit einem "demokratisch transparenten Archivzugang" zuwiderlaufe (719). Der Rezensent kann dies zumindest bezüglich der Recherche für seine 2008 erschiene Studie [1] über das AA und die "Endlösung" ausdrücklich nicht bestätigen. Ihm sind alle gewünschten Akten problemlos vorgelegt worden, und die hilfreiche Unterstützung durch Archivmitarbeiter war jederzeit gegeben. Die Kommission will sich hingegen letztlich nicht sicher sein, alle wesentlichen Unterlagen gesehen zu haben (719). Unausgesprochen wird damit der Generalverdacht erhoben, Akten seien womöglich absichtlich zurückgehalten worden. Dies lässt erahnen, dass es keine vertrauensvolle Kooperation von Kommission und Archiv gab, was allerdings einen nachhaltigen Schatten auf die Studie wirft.

Zusammenfassend lässt sich ein Unterschied zwischen den beiden Teilen der Studie konstatieren. Indem sich die Kommission im ersten Teil fast ausschließlich auf das Verhalten des AA in der Verfolgungs- und Vernichtungspolitik konzentriert, beschränkt sie sich auf eines der bereits am besten bearbeiteten Forschungsfelder (Christopher Browning, Hans-Jürgen Döscher u.a.). Die Folge ist, dass über weite Strecken der Darstellung Bekanntes lediglich neu erzählt wird. Dabei werden die Interpretationen zu oft maßlos überspitzt. Die Kommission hat es versäumt, eigene und neue Akzente zu suchen und zu setzen, etwa mit einer Analyse des Verhaltens einzelner Auslandsmissionen, die bisher noch nicht vorliegt. Auch hätte man sich der neueren Methoden der Täterforschung bedienen können, um individuelles Handeln und Grade weltanschaulicher Dispositionen zu untersuchen. Es wäre etwa möglich gewesen, Alterskohorten verschiedener Attaché-Jahrgänge aufzustellen, um deren Zusammensetzung und spätere Laufbahnen zu erforschen und Schlüsse daraus zu ziehen.

Abgesehen von den inhaltlichen Schwächen leidet die Studie massiv unter einem schlechten "Management" der Texte. Diese sind nicht nur von den vier auf dem Umschlag genannten "Autoren" (in Wirklichkeit: Herausgeber) geschrieben worden, sondern von mindestens zwölf Mitarbeitern und unterscheiden sich teilweise deutlich in Stil und Gehalt. Insbesondere die schwächeren Texte gehen so zu Lasten der guten. Während beispielsweise die Einleitung zum AA im Krieg einen ausgewogenen und lesenswerten Überblick gibt, folgt eine Seite später eine Passage, welche beschreibt, dass sich bereits im Sommer 1938 alle Anzeichen verdichtet hätten, dass Hitler in der "Judenfrage" "zur 'radikalsten' aller Lösungen entschlossen war" (172). Beleg oder Beweisführung für eine solch interessante Aussage? Fehlanzeige. Beide Texte stammen von unterschiedlichen Autoren. Durch die wechselnde Autorenschaft wirkt leider auch manches im stärkeren zweiten Teil aneinandergereiht, so dass es nicht ganz gelingt, einer durchgängigen Interpretation zu folgen. In sich geschlossene Aufsätze einzelner Autoren wären insgesamt vielleicht hilfreicher gewesen.

Hinzu kommen zahlreiche handwerkliche Mängel und Ungenauigkeiten, die den Eindruck vermitteln, als sei das Buch zu rasch zum Druck frei gegeben worden. So wird beispielsweise die Referatsgruppe Inland II, welche ab 1943 der SS in der Vernichtungspolitik assistierte, in den Texten zur Nachkriegsgeschichte fälschlicherweise zur "Abteilung Inland II" oder "Abteilung Inland" befördert, was institutionell einen erheblichen Unterschied darstellt. Ferner werden drei Aktenbestände des Hauptstaatsarchivs Düsseldorf im Quellenverzeichnis aufgeführt, aber weder im Text noch im wissenschaftlichen Apparat genannt. Auf Seite 486 findet sich der Rang eines "SS-Untersturmbannführer", den es bei der SS nie gegeben hat. Der mit Unterstützung des AA ermordete kriegsgefangene französische General hieß Maurice Mesny, nicht Louis Mesny. Auf Seite 258 wird geschrieben, der Diplomat Hermann Neubacher sei mit der "'einheitliche[n] Führung des Kampfes gegen den Kommunismus im Südosten'" beauftragt worden. So lautete jedoch nur die Betreffzeile des Dokuments, keineswegs der Auftrag an Neubacher, der ihn mit der "politischen Führung dieser Gegenaktion" betraute. [2] Das ist ein Unterschied, der verborgen bleibt, da wissenschaftlich unsauber gearbeitet wird. Bemerkenswert ist auch, dass die Publikation ohne einen Geschäftsverteilungsplan auskommt, der die komplexe und sich im Laufe der Zeit wandelnde Struktur des AA transparent gemacht hätte.

Man musste kein Hellseher sein, um abschätzen zu können, dass die Studie ein sehr hohes mediales und öffentliches Aufsehen hervorrufen würde. Umso unverständlicher sind die gravierenden Mängel, mit denen sich die Kommission eine breite Angriffsfläche gegen ihre Arbeit geschaffen hat. Von einer millionenschweren Förderung, einem Stab von zwölf wissenschaftlichen Mitarbeitern und einer nicht genannten Zahl studentischer Hilfskräfte hätte man einfach mehr erwarten können. Ähnlich wie die erste Wehrmachtsausstellung von 1995 hat auch Das Amt ein wissenschaftliches Spezialthema ins helle Licht der Öffentlichkeit gestellt und abseits der Fachkreise eine breite gesellschaftliche Aufmerksamkeit geweckt. Das ist äußerst positiv zu vermerken. Die erwartete solide und vor allem ausgewogene Studie zum AA im 'Dritten Reich' und in der Bundesrepublik ist dabei jedoch nur teilweise herausgekommen.


Anmerkungen:

[1] Sebastian Weitkamp: Braune Diplomaten. Horst Wagner und Eberhard von Thadden als Funktionäre der "Endlösung", Bonn 2008. Vgl. hierzu die Rezension von Annette Weinke, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 4; URL: http://www.sehepunkte.de/2009/04/14627.html

[2] Akten zur deutschen auswärtigen Politik 1918-1945, Serie E, Band 7, Göttingen 1979, Dok. 68.

Sebastian Weitkamp