Otto von Bismarck: Schriften 1888-1890. Bearbeitet von Andrea Hopp (= Otto von Bismarck. Gesammelte Werke. Neue Friedrichsruher Ausgabe. Abt. III: 1871-1898. Schriften; Bd. 8), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2014, XCIV + 679 S., ISBN 978-3-506-76636-6, EUR 79,00
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Der 2014 erschienene, wieder (wie die Bände 1 und 4) von Andrea Hopp bearbeitete und eingeleitete Band 8 der "Neuen Friedrichsruher Ausgabe (NFA)" - Band 7 ist als einziger der Reihe III des Editionsprojekts noch nicht erschienen - behandelt mit den Jahren 1888 bis 1890 die letzte Phase der Kanzlerschaft Otto von Bismarcks. Über 3000 Dokumente wurden hierfür gesichtet, davon 553 für die Veröffentlichung ausgewählt, von denen 70% erstmals publiziert wurden. Auch dieser Band kann nicht mit grundstürzenden neuen Entdeckungen aufwarten, die geeignet wären, der Bismarck-Forschung eine völlig neue Richtung zu geben, aber er präsentiert viele interessante Quellen, die geeignet sind, das überkommene Bild der von Bismarck selbst nicht erwarteten "Kanzlerdämmerung" nach dem Tode Wilhelms I. und Friedrichs III. und der Thronbesteigung Wilhelms II. genauer und facettenreicher hervortreten zu lassen. Über letzteren machte sich Bismarck anfangs durchaus Illusionen. Etwa, wenn er unter Berufung auf die Geschichte Brandenburg-Preußens bzw. des Hauses Hohenzollern seit den Tagen des Großen Kurfürsten in einem Promemoria vom 3. Oktober 1888 es als eine geschichtliche Tatsache bezeichnete, "daß der Nachfolger, sobald er wirklich zur Regierung und zur Verantwortlichkeit auf dem Thron gelangte, jederzeit die früher gemißbilligten Wege des Vaters oder Vorgängers wiedergefunden und festgehalten hat" (237).
Das schwierige Verhältnis zwischen Bismarck und dem jungen Kaiser lässt sich in dem Band auch deshalb quellenmäßig so gut nachzeichnen, weil, bedingt durch die langen Abwesenheiten Wilhelms als Folge der notwendigen Antrittsbesuche, aber auch Bismarcks, der sich demonstrativ nicht in Berlin aufhielt, umfangreicher Schriftverkehr schlicht und ergreifend notwendig war. Interessant sind in diesem Zusammenhang zwei Schriftwechsel des Reichskanzlers vom November 1888 mit seinem Sohn Herbert betreffend die sogenannte "Affäre Love" (Dokumente 254 und 255). Dabei ging es um die Straßburger Edelprostituierte Emilie Klopp, mit der Wilhelm II. als Prinz eine Affäre gehabt hatte und die daraus nach dessen Thronbesteigung finanziell Kapital schlagen wollte. Selbstverständlich versuchte Bismarck, einen Skandal nach Möglichkeit zu vermeiden, doch war dem Kaiser klar, dass der greise Kanzler mehr Kompromittierendes über ihn wusste als er mit seinem ausgeprägten herrscherlichen Selbstverständnis für vereinbar hielt. Die tödliche Krankheit Kaiser Friedrichs III. hatte verhindert, dass dieser in den 99 Tagen seiner Herrschaft eigene Akzente setzen konnte. Die sogenannte Battenberg-Affäre, in der Bismarck mit Rücksicht auf Russland gegen den Kaiser und dessen englische Ehefrau, die ihre Tochter Viktoria mit Alexander von Battenberg verheiraten wollten, Position bezog (Dokumente 92-95, 98, 99, 104, 288, 330), war im Grunde der einzige größere Konflikt dieser kurzen Ära. Die Friedrich nachgesagte liberale Gesinnung hielt Bismarck wohl nicht ganz zu Unrecht für eine Illusion von dessen linksliberalen Verehrern (Dokument 215). Bemerkenswert ist Bismarcks vehementer Kampf gegen die Veröffentlichung von Auszügen der Tagebücher Friedrichs nach dessen Tod durch den Hamburger Publizisten und Staatsrechtslehrer Friedrich Heinrich Geffcken (Dokumente 189-191, 194, 195, 198, 199, 202, 204, 206, 207, 213, 218, 235, 257, 300). Bismarck erlitt hier letztlich eine Niederlage. Die ganze Affäre wirft ein bezeichnendes Licht auf die Art und Weise, wie er an seiner eigenen Legende strikte. Auch wenn es zutrifft, dass die Auszüge viele Aussagen des damaligen Kronprinzen Friedrich Wilhelm zuspitzten, so ging es Bismarck doch vor allem darum, keinen Schatten fallen zu lassen auf sein Werk der Reichsgründung 1870/71. Geradezu beschwörend wies er am 18. Oktober 1888 in einem Brief an den Oberreichsanwalt Herrmann Tessendorff darauf hin, dass "Verstimmungen einzelner unserer Bundesgenossen oder des Papstes [...] entstehen können ... [weil] der damalige Kronprinz Ausdrücke von ungerechter Härte gebraucht, die europäische Situation irrthümlich beurteilt und unausführbare und vom politischen oder sittlichen Standpunkte unrichtige Maßregeln erwogen hat." (265).
Was Bismarck Außenpolitik anbelangt, so bestätigen die einschlägigen Dokumente sein unbedingtes Eintreten für die Erhaltung des Friedens, was auch hieß, österreichische Bestrebungen, einen Präventivkrieg vorzubereiten, die von Generalstabschef Alfred von Waldersee unterstützt wurden, ins Leere laufen zu lassen. Dem Austarieren der deutschen Außenpolitik zwischen der Notwendigkeit, einerseits Russland nicht zu verprellen und andererseits die Sonderbeziehungen mit Österreich-Ungarn zu pflegen, kam hierbei eine besondere Bedeutung zu. Die Veröffentlichung des Textes des Zweibundvertrags erfolgte - sozusagen als vertrauensbildende Maßnahme gegenüber Russland - vor diesem Hintergrund (Dokumente 25, 32-34, 36), ebenso die Aufrechterhaltung des Prinzips, dass das Deutsche Reich auf dem Balkan keine genuinen machtpolitischen Interessen habe. Die unbedingte Wahrung der staatlichen Existenz der Habsburgermonarchie als Grundaxiom der deutschen Außenpolitik gehört ebenfalls in diesen Kontext. Deshalb war Bismarck auch daran gelegen, wie er am 12. Dezember 1888 an den preußischen Innenminister Ernst Ludwig Herrfurth schrieb, den Bruderkrieg von 1866 und die sich daran knüpfenden Emotionen gleichsam vergessen zu machen (Dokument 268). Es verwundert daher nicht, dass Bismarck sich auch zu den innenpolitischen Problemen Österreich-Ungarns intern dezidiert äußerte. In einer Weisung vom 11. Oktober 1888 an den deutschen Botschafter in Wien Prinz Reuß (Dokument 208) sprach der Reichskanzler sogar davon, Cisleithanien bedürfe wegen des Vielvölkercharakters der westlichen Reichshälfte der Monarchie eines "Staatsstreichs zu Gunsten des Kaiserlichen Regiments" (252). Der Parlamentarismus könne die innenpolitischen Probleme nicht lösen, sondern verschärfe sie noch.
Diese Aussagen korrelieren mit vergleichbaren Vorstellungen in Bezug auf das politische System des Kaiserreichs. Bismarck verknüpfte - hier blieb er stets der alte Konservative, der als Greis, wie Andrea Hopp zutreffend bemerkt, ein immer mehr konservierendes Denken an den Tag legte (XXIX) - demokratische oder gar republikanische Bestrebungen mit der Vorstellung, dass diese zum Umsturz der Verhältnisse und damit zum Krieg führen mussten. Insofern verstand er seinen Kampf gegen die "Reichsfeinde" im Innern auch als praktische Friedenspolitik. So schrieb er in einer Weisung zur Pressearbeit vom 21. Januar 1890 (Dokument 518), "es sei charakteristisch für republikanische Verhältnisse, daß die Republikaner damit begännen, die Armee zu vermehren ... Die ungeheuren Massen, zu deren Unterhaltung die europäischen Staaten sich genöthigt sehen, beruhten doch wahrscheinlich auf republikanischem Beispiel" (614). Deshalb war Bismarck die abermalige Verlängerung des Sozialistengesetzes, diesmal unbefristet, auch ein wichtiges Anliegen, welches indes letztlich seinen Sturz einleitete. Dass dieses Vorhaben im Reichstag abgelehnt wurde und die Reichstagsneuwahl vom 20. Februar 1890 nicht nur den Kartellparteien eine schwere Niederlage einbrachte, sondern zudem der Sozialdemokratie einen fulminanten Sieg bescherte, leitete schließlich die letzte Phase, Andrea Hopp spricht zu Recht von "Abgesang" (XXVIII), der Amtszeit des "Eisernen Kanzlers" ein, was dieser allerdings zunächst überhaupt nicht erkannte. Die Edition hat dankenswerterweise einen von mehreren existierenden Entwürfen des Entlassungsgesuchs Bismarcks an Wilhelm II. abgedruckt (Dokument 552). Der Vergleich mit der endgültigen Fassung vom 18. März 1890 (Dokument 553) zeigt eindrucksvoll, wie sehr Bismarck mit sich rang und wie er bis zuletzt bestrebt war, sein Ausscheiden aus dem Amt des Reichskanzlers nicht als persönliche Niederlage erscheinen zu lassen. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass der vorliegende Band die "Neue Friedrichsruher Ausgabe" in bewährter Weise souverän fortsetzt. Es ist zu hoffen, dass der noch fehlende Band 7 baldmöglichst nachgeliefert wird.
Matthias Stickler