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Nils Freytag: Umweltgeschichte. Einführung, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 7/8 [15.07.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/07/forum/umweltgeschichte-44/

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Umweltgeschichte

Einführung

Von Nils Freytag

Obgleich die Umweltgeschichte seit den ersten Ausgaben auf der Agenda der sehepunkte steht, ist es erst jetzt erstmals gelungen, ein facettenreiches umweltgeschichtliches FORUM zusammenzustellen.[1] Dies hat in erster Linie damit zu tun, dass die Zahl umwelthistorischer Monografien und Sammelbände enorm angewachsen ist und dass sich das junge, innovative und produktive geschichtswissenschaftliche Teilfach gerade in jüngster Zeit erheblich ausdifferenziert hat. Davon zeugen neben den Publikationen der zurückliegenden Jahre gleichfalls zahlreiche Tagungen und diverse laufende Forschungsprojekte. Dabei lassen sich in besonderer Weise drei grundsätzliche Trends erkennen, denen sich auch dieses FORUM verpflichtet weiß.

Erstens sind umweltgeschichtliche Themen zwar durchaus auch Untersuchungsgegenstand von Forschungen zur alten oder mittelalterlichen Geschichte, aber dennoch liegt insgesamt ein greifbarer Akzent auf der neueren und neuesten Geschichte sowie insbesondere auf der Zeitgeschichte. Das dokumentieren nicht nur zahlreiche in vorangegangenen sehepunkte-Ausgaben erschienene Besprechungen - etwa über Studien zu den Anfängen des Heimat- und Naturschutzes seit dem Deutschen Kaiserreich oder zum Verhältnis von Naturschutz und Nationalsozialismus.[2] Einen offensichtlichen Schwerpunkt auf den Epochen nach 1500 haben bisher auch die drei in Deutschland erscheinenden teilfachspezifischen Publikationsreihen: Das gilt für die seit 1996 bei Waxmann verlegten Cottbuser Studien zur Geschichte von Technik, Arbeit und Umwelt ebenso wie für die seit 2003 bei Campus im Auftrag der Stiftung Naturschutzgeschichte in Deutschland herausgegebene Reihe Geschichte des Natur- und Umweltschutzes und die seit knapp zwei Jahren im Böhlau-Verlag (Köln) publizierten Umwelthistorischen Forschungen.

Zweitens ist eine kulturgeschichtliche Öffnung, ja teilweise Ausrichtung der Umweltgeschichte zu beobachten, was zu einem beträchtlichen Teil auch damit zu tun hat, dass sie sich gegenüber zahlreichen Methoden aufgeschlossen zeigt. Während sich die erste Generation von Umwelthistorikern noch intensiv der Rolle des Staates und der Politik gewidmet und nach deren Verhältnissen zur Industrie, zu sozialen Gruppen sowie zu Natur und Umwelt gefragt hat, so nimmt man nun verstärkt die Anfänge des Umweltschutzes und damit auch den Ursprung der eigenen Disziplin in den Blick, denn ohne die umweltbewegten Auf- und Umbrüche seit den späten 1960er-Jahren ist das geschichtswissenschaftliche Interesse an dem Thema nicht zu verstehen. Auch wenn Staat und Industrie sowie die Beschäftigung mit Rechtsetzung und öffentlicher Verwaltung nicht völlig aus dem Blickfeld entschwunden sind, so lassen sich neue Zugänge doch als eine kulturgeschichtliche Akzentuierung der Umweltgeschichte fassen, mit der gesellschaftliche und soziale Bewegungen, Umweltkonflikte, deren Deutungen oder Konstruktionen analysiert werden. Dafür stehen nicht nur die hier besprochenen Studien zum Umgang mit Naturkatastrophen, sondern auch die Habilitationsschrift von Jens Ivo Engels oder einige Beiträge in dem von Christof Mauch herausgegebenen Band Nature in German History.

Drittens belegen mehrere der hier versammelten Besprechungen anschaulich, dass umweltgeschichtliche Fragestellungen in den Kernbereich der Geschichtswissenschaft vorstoßen und aus ihm nicht mehr wegzudenken sind. Der von Wolfgang Behringer, Hartmut Lehmann und Christian Pfister herausgegebene Band über die kulturellen Konsequenzen der kleinen Eiszeit führt nachdrücklich das erhebliche Forschungspotenzial der Umweltgeschichte vor Augen, erweitert der Blick auf die Basisdimension Umwelt doch die grundsätzliche und altbekannte Debatte um die Krise des 17. Jahrhunderts und verknüpft diese mit dem Problem einer Gesamtdeutung der Frühen Neuzeit insgesamt. Den Anschluss an grundlegende Debatten des Faches sucht und findet auch die Umweltzeitgeschichte - etwa mit der als "1970er-Diagnose" (Patrick Kupper) diskutierten Ökowende, die den gesellschaftlichen Wandel im Umgang mit der natürlichen Umwelt und ihren Energieressourcen beschreiben soll. Im von Franz-Josef Brüggemeier und Jens Ivo Engels herausgegebenen Band über Natur- und Umweltschutz nach 1945 wird diese Zäsur nicht nur kontrovers erörtert, sondern zugleich eng verbunden mit der von Ulrich Herbert und anderen angestoßenen Diskussion um die kulturell-politische Liberalisierung der Bundesrepublik seit den 1960er-Jahren.

Diesen Trends und Akzentuierungen trägt das FORUM Rechnung und nimmt mit der historischen Katastrophenforschung, der "urban environmental history" sowie der kulturgeschichtlichen Öffnung drei besonders ertragreiche umweltgeschichtliche Themenfelder der neueren und neuesten Geschichte in den Blick. Zugleich bietet die hier präsentierte Auswahl einen vorzüglichen Einstieg in die Thematik und führt grundlegende Debatten um umweltgeschichtliche Kernprobleme und Zäsuren ebenso erhellend vor Augen wie Erträge und offene Fragen.

Anmerkungen:
[1] Klaus Ecker / Franz Michael Grünweis / Andreas Müllner: Projektgruppe Umweltgeschichte: Kulturlandschaftsforschung: Historische Entwicklung von Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft und Natur, Wien: Bundesministerium für Wissenschaft und Verkehr 2000, sowie Karl Ditt / Rita Gudermann / Norwich Rüße (Hg.): Agrarmodernisierung und ökologische Folgen. Westfalen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Paderborn: Schöningh 2001. Rüdiger Glaser: Klimageschichte Mitteleuropas. 1000 Jahre Wetter, Klima, Katastrophen, Darmstadt: Primus 2001.

[2] Hingewiesen sei hier nur auf: Friedemann Schmoll: Erinnerung an die Natur. Die Geschichte des Naturschutzes im Deutschen Kaiserreich, Frankfurt/M.: Campus 2004. Willy Oberkrome: "Deutsche Heimat". Nationale Konzeption und regionale Praxis von Naturschutz, Landschaftsgestaltung und Kulturpolitik in Westfalen-Lippe und Thüringen (1900-1960), Paderborn: Schöningh 2004. Joachim Radkau / Frank Uekötter (Hg.): Naturschutz und Nationalsozialismus, Frankfurt/M.: Campus 2003.

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