Rezension über:

Monika Grübel / Georg Mölich (Hgg.): Jüdisches Leben im Rheinland. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2005, XIX + 315 S., ISBN 978-3-412-11205-9, EUR 22,90
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Rezension von:
Susanne Lachenicht
Historisches Seminar, Universität Hamburg
Redaktionelle Betreuung:
Michael Kaiser
Empfohlene Zitierweise:
Susanne Lachenicht: Rezension von: Monika Grübel / Georg Mölich (Hgg.): Jüdisches Leben im Rheinland. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 9 [15.09.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/09/9778.html


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Monika Grübel / Georg Mölich (Hgg.): Jüdisches Leben im Rheinland

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Der zu besprechende Band vereint zwölf Aufsätze und einen einführenden Beitrag von Monika Grübel und Georg Mölich mit dem Ziel, "Rahmenbedingungen und Alltagswelt jüdischen Lebens im Rheinland vom Mittelalter bis zur unmittelbaren Gegenwart des frühen 21. Jahrhunderts" (VII) zu beschreiben. Im Rahmen einer im Oktober 2003 vom Landschaftsverband Rheinland (LVR) und der Bischöflichen Akademie des Bistums Aachen organisierten Fachtagung entstanden, bietet er eine explizit regionalhistorische Perspektive auf das Thema.

Christoph Cluses Beitrag "Juden am Niederrhein während des Mittelalters. Eine Bilanz" beschreibt minutiös die Entstehung jüdischer Siedlungen im Rheinland seit dem 10. Jahrhundert und ordnet sie in den Kontext des Urbanisierungsprozesses des frühen und hohen Mittelalters ein. Trotz Verfolgung und Auslöschung jüdischer Gemeinden zur Kreuzzugszeit vermochte sich jüdisches Leben im 12. und 13. Jahrhundert vor allem in Köln neu zu entfalten. Mit dem ausgehenden 13. Jahrhundert intensivierten sich Pogrome und Verfolgung erneut und kulminierten in der Vernichtung ganzer Judengemeinden in der Mitte des 14. Jahrhunderts. Zu untersuchen wäre im Kontext der rechtlichen Stellung jüdischer Gemeinden, inwieweit sich die rechtlich und administrativ exemte Stellung von Juden im mittelalterlichen Köln analog zu der anderer großer Judengemeinden in Europa wie etwa der Sephardim in Sevilla und Toledo (im 16. und 17. Jahrhundert dann auch in Bordeaux und Amsterdam) bzw. der Ashkenazim in Trier, Regensburg oder Prag herausbildete und inwieweit hier supranationale jüdische Vorstellungen von Gemeindeautonomie, juristischem Sonderstatus und Religionsausübung mit den zuständigen Autoritäten ausgehandelt werden konnten.

Dass die Trennung von jüdischen und christlichen Gemeinden, von jüdischen und christlichen Lebenswelten im Köln des 12. und 13. Jahrhunderts realiter weniger stark ausgeprägt war, als dies christliche und jüdische Normvorstellungen suggerieren, zeigt Manfred Groten eindringlich am Beispiel der Kölner Gemeinde St. Lorenz Ghettoisierung war nicht notwendigerweise die Folge eines geregelten Sonderstatus jüdischer Gemeinden.

Dem so genannten "Hofjuden" im Rheinland, der neben dem "aufgeklärten Juden", dem Vertreter der Haskalah, zu einer immer wieder zitierten Figur im Emanzipationsprozess der Ashkenazim avancierte und dem mittlerweile eine dritte Alternative, der sogenannte "Port Jew" zugesellt wurde[1], widmet sich der Beitrag Birgit E. Kleins. Seit spätestens dem 16. Jahrhundert an europäischen Höfen nachweisbar und durch besondere Privilegien an einen Fürsten und dessen Gunst gebunden, gab es auch an den Höfen rheinischer Territorialherren "Hofjuden". So ernannte Kurfürst Ernst von Köln ab 1583 den Juden Levi zu Poppelsdorff zum Aufseher über und Eintreiber von Bußgeldern und Steuern der jüdischen Gemeinde und griff damit in die Belange und Kompetenzen der kurkölnischen Judenschaft ein. Die Hofjudenpolitik der rheinischen Landesherren zeigt damit ebenso wie die etlicher anderer deutscher Fürsten ab dem 16. Jahrhundert den Versuch, über die Institution des Hofjuden und das Erlassen von Judenordnungen, die Autonomie jüdischer Gemeinden in Frage und unter obrigkeitliche Kontrolle zu stellen.

Stephan Laux analysiert die "Herrschaftliche[n] Rahmenbedingungen jüdischen Lebens in den rheinischen Territorialstaaten vom 16. Jahrhundert bis zum Beginn der 'Emanzipationszeit'". Im Fokus seines Aufsatzes stehen zunächst die in den vorangegangen Beiträgen zu wenig thematisierten Ursachen und Anlässe für Ansiedlung, Judenverfolgung, Ausweisung und Wiederansiedlung. Das Oszillieren zwischen der Betonung der Wirtschaftskraft der Juden (ob nun de facto vorhanden oder als zu erfüllende Erwartungen des Territorialherren zu deuten) und populistischer Vertreibung auf Geheiß der Obrigkeit, mit dem Ziel Gravamina der Stände zu beseitigen, gehört zu den Konstanten in der "Judenpolitik" frühneuzeitlicher Staaten schlechthin. Ein weiteres wichtiges Thema ist die Diskrepanz zwischen so genannter geregelter "Judenpolitik" bzw. "Judenordnungen" und Detailverfügungen der Territorialherren, die - wie in Kurköln - gegen die Maximen ihrer eigenen "Judenpolitik" verstießen. Ein wichtiger Hinweis - nicht zuletzt in Hinblick auf die Entwicklung des Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts - ist der auf die Fragwürdigkeit der "Verrechtlichung" der Lebensbedingungen von Juden von obrigkeitlicher Seite, aber auch des so genannten "Toleranzgedanken[s]", der in der älteren Forschung als Möglichkeit zur "Emanzipation der Juden" gedeutet wurde (104 f.).

Dass "Emanzipation" und Assimilierung an die christliche Gesellschaft aus jüdischer Perspektive nicht unbedingt als Desiderat erscheinen musste, haben neuere Studien immer wieder betont. [2] Dementsprechend ist die von Suzanne Zittartz-Weber formulierte These, dass die Kehila (also die Institution der jüdischen Gemeinden) den christlichen Obrigkeiten "als nützliches Instrument zur Kontrolle, wirtschaftlichen Ausnutzung und Absonderung der Juden diente" (114), als zu einseitig zu bewerten. Der Widerstand jüdischer Gemeinden im Frankreich der Revolutionszeit (und damit auch in damals französisch verwalteten rechtsrheinischen Gebieten) gegen die Aufhebung ihres korporativen Status durch die Verfassung von 1791 zeigt, dass die Kehila durchaus als positive Institution zur Wahrung von Religion, jüdischer Kultur, administrativem und rechtlichem Sonderstatus bewahrt werden sollte. Inwieweit die mit dem Gesetz von 1847 geschaffene Neuordnung der Kehila im Rheinland wirklich konsensfähig war bzw. eher als staatlich oktroyiert empfunden wurde, bleibt zu diskutieren.

Dass die so genannte Emanzipation und Assimilierung der jüdischen Bevölkerung im Rheinland auch nach der bürgerlichen Gleichstellung problematisch war und blieb, zeigt der Beitrag Christoph Nonns, der für Geldern Chancen und Grenzen jüdischer Integration aufzeigt und für den zunehmenden Antisemitismus gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts die wirtschaftliche Depravierung breiter Bevölkerungsschichten, daraus resultierende soziale Konflikte sowie auch zunehmende religiöse Gegensätze verantwortlich macht.

In den Beiträgen Nicola Wenges und Tobias Arands geht es dann um jüdisch-nicht-jüdische Beziehungen und Wahrnehmungen in der Zeit der Weimarer Republik, die das Spannungsverhältnis zwischen Integration der jüdischen Bevölkerung und wachsendem Antisemitismus exzellent ausleuchten. Britta Bopfs Beitrag zur "'Arisierung' in Köln im 'Dritten Reich'" befasst sich als einziger mit dem dunkelsten Kapitel jüdischer Geschichte im Rheinland, auf das Donate Strathmanns Studie zum "Jüdische[n] Leben in Düsseldorf und Nordrhein zwischen 1945 und 1949", Jürgen Ziehers Beitrag zu Dortmund und Düsseldorf in den 1950er Jahren und Micha Guttmanns abschließender Essay zur "Entwicklung der jüdischen Gemeinden in Deutschland und Nordrhein-Westfalen von 1945 bis heute" folgen. Bopfs Beitrag bleibt weitgehend deskriptiv und erklärt für das Kölner Beispiel nicht ausreichend, warum die "Arisierung" so "erfolgreich" zu greifen vermochte. Strathmanns Studie geht differenziert auf das ambivalente Verhältnis von britischer Militärregierung und deutscher Bevölkerung zu den neu entstehenden jüdischen Gemeinden ein und thematisiert deutlich das problematische Demokratieverständnis der Briten in Nordrhein-Westfalen. Guttmanns Beitrag führt den Leser zurück in die heutige Problematik des kulturellen Pluralismus, zur möglichen und erfolgreichen Wahrung von kultureller und religiöser Identität in Kombination mit authentischem Patriotismus (Ignatz Bubis 1998: "Ich bin deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens", hier zitiert auf 304). Er macht deutlich, wie sehr Minderheiten und Mehrheiten von Kommunikation und Dialog profitieren können, und wirft letztendlich die Frage auf, ob nicht supranationale, nationale und regionale Identitäten miteinander vereinbar sind.

Insgesamt ein informativer Band, den eine über das Rheinland hinaus abschließend komparatistische Perspektive noch "runder" gemacht hätte.


Anmerkungen:

[1] David Cesarani (Hg.): Port Jews. Jewish Communities in Cosmopolitan Maritime Trading Centres, 1550-1950, London / Portland 2002.

[2] Besprechung von David Graizbord zu David Cesarani (Hg.): Port Jews: Jewish Communities in Cosmopolitan Maritime Trading Centres, 1550-1950, London / Portland 2002, in: H-Net / H-Atlantic, URN: http://www.h-net.msu.edu/reviews/showrev.cgi?path=72601121185556 [28.6.2006].

Susanne Lachenicht