Michael Burleigh: Earthly Powers. Religion and Politics in Europe from the Enlightenment to the Great War, London: HarperCollins 2005, xiii + 530 S., ISBN 978-0-00-719572-5, GBP 25,00
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Der Autor erfolgreicher Bücher und Medienbeiträge zur jüngeren deutschen Geschichte, insbesondere zum Nationalsozialismus, wendet sich mit dem vorliegenden Werk dem langen 19. Jahrhundert als historischem Hintergrund zu, und zwar europaweit. Die drei vorangestellten Mottos lassen bereits erkennen, worum es gehen soll: die Zuwendung der Europäer zu anderen Göttern mit blutrünstigen Folgen, vor allem zum Götzen Nationalismus.
Aber das Buch überzeugt inhaltlich wie methodisch dadurch, dass diese Vorgänge nicht als lineare und eindeutige Säkularisierung geschildert werden, sondern als vielgestaltige und mehrdeutige Prozesse. Es geht eben nicht nur um "politische Religionen" im Sinne von Voegelin und deren Messianismus (wobei übrigens durchaus zu Recht auch der moderne Daseinsvorsorgestaat als dem Totalitarismus verwandter Fall von utopischem Messianismus betrachtet wird) oder allenfalls noch um das Verhältnis von Aufklärung und utopischen Denkern zur Religion. Vielmehr geht es auch um die Selbstbehauptung und den Wandel des Christentums und der Kirchen angesichts der intellektuellen, sozialen und politischen Herausforderungen des Zeitalters und im Zusammenhang damit um die verschiedenartige Entwicklung des Verhältnisses von Staat und Kirche.
Das erste der zehn Kapitel behandelt die französische Kirche des Ancien Régime, ihre internen Spannungen und den Konflikt mit der Aufklärung. Kapitel 2 schildert die Kirchenpolitik der ersten Phase der Revolution und wie sie durch Verlassen der traditionellen Linie des Gallikanismus zum unausweichlichen Konflikt führte. Kapitel 3 stellt die Pariser Jakobiner als puritanische Möchtegern-Spartaner und terroristische Amokläufer dar, die in der Vendée den ersten Völkermord der neueren Geschichte veranstaltet haben. Es beginnt mit einer ausführlichen Behandlung des Malers und Propagandisten Jacques-Louis David und endet mit dem napoleonischen staatskirchlichen Arrangement.
Kapitel 4 handelt vom Bündnis von Thron und Altar nach 1815, der Rolle des bigotten Zaren Alexander I. und der Problematik des anglikanischen Establishment, um sich dann der kirchenpolitischen Entwicklung in Frankreich und Belgien zuzuwenden, mit ausführlicher Behandlung des Denkens von de Maistre und Lammenais. Hier und anderswo wird außerdem immer wieder auf die Päpste und ihren Dauerkonflikt mit den Tendenzen des Zeitalters eingegangen. In Kapitel 5 geht es um den aufkommenden Nationalismus und seinen genetischen Zusammenhang mit der Religion, anschließend um die Entstehung der Geheimgesellschaften, besonders um ihre Rolle im griechischen Unabhängigkeitskampf, dann um die "victim nations" Polen und Irland, mit ausführlicher Berücksichtigung der Aktivitäten von Adam Mickiewicz und Daniel O'Connell. Zum Schluss geht es um Nationalismus Mazzinis und um die Konflikte im Italien der Jahrhundertmitte.
Das ausführliche Kapitel 6 könnte als Herzstück des Buches gelten, präsentiert es doch das Jahrhundert als eines, das in vielfältiger Weise glauben will, aber zugleich von Zweifeln geplagt ist, die Transformationen des Christentums hervorbringen. Dazu gehören skeptische Anglikaner, der bourgeoise Katholizismus des 2. Empire und die historische Kritik eines David Friedrich Straus und Ernest Renan, die sich als viel folgenreicher erwies als die neuen Erkenntnisse der Naturwissenschaften. Letztere spielen ihre Rolle in den Utopien Saint-Simons, Comtes, Fouriers und Owens, für die Burleighs Darstellung allerdings noch weniger Sympathie aufbringt als für Marx und die Marxisten, die er anschließend behandelt. Im Folgenden wird das Problem der Säkularisierung diskutiert, mit dem erwarteten widersprüchlichen Befund, und ein Blick auf den Sozialismus als Religion der Arbeiter sowie auf den Musikgenuss als Religion der Bourgeoisie geworfen, u. a. auf Richard Wagner. Auf ihre Art religiös waren auch die "neuen Menschen" Russlands mit ihrem illusionären, aber folgenreichen Terrorismus, die Kapitel 7 mit Rekurs auf die Literatur der Zeit schildert, nicht zuletzt auf Dostojewski.
In Kapitel 8 geht es um Kirche und Staat, zunächst in England, dann im Italien Pius' IX. Der Kulturkampf wird ebenso ausführlich und kenntnisreich dargestellt wie die Eskalation des Konflikts zwischen Kirche und Staat in Frankreich während und nach der Pariser Kommune, unter der 3. Republik und im Zeichen der Dreyfus-Affäre. Gleichzeitig, in England schon länger, bekamen die Kirchen mit den Folgen der industriellen Revolution zu tun, und reagierten laut Kapitel 9 in England und Frankreich, in Italien und Deutschland auf höchst unterschiedliche Weise. Von den verschiedensten Versuchen der Engländer, der sozialen Frage zu begegnen ist ebenso die Rede wie vom sozialen Katholizismus Frankreichs. Die Enzyklika "Rerum novarum" wird im Rahmen der klugen Politik Leos XIII. analysiert und ein Versuch gemacht, dem nicht nur antisemitischen, sondern auch sozial engagierten deutschen Hofprediger Stoecker gerecht zu werden.
Unter "Apocalypse 1914" behandelt Kapitel 10 zunächst die vom 19. ins 20. Jahrhundert weisenden Ideologen Charles Maurras und Paul de Lagarde, anschließend die Wiederauferstehung der brutalen alten Kriegsgötter im europaweiten Kriegskult, der zur Schande der christlichen Kirchen auch diese, ihre Amtsträger und Gläubigen erfasst hat, von wenigen Ausnahmen abgesehen.
Wie es sich neuerdings gehört, erzählt Burleigh nicht eine Geschichte, sondern verschiedene Geschichten. Und er erzählt sie gut, zwar weitgehend aus zweiter Hand, wie die Anmerkungen zeigen, aber breit, solid und gleichmäßig informiert. Er versteht es geschickt, in seine souveräne Schilderung der großen Entwicklungslinien zur weiteren Verdeutlichung illustrative Details oder aufschlussreiche Quellenzitate einzuflechten. Die in anderen seiner Bücher vermissten sozialgeschichtlichen Angaben sind hier durchaus vorhanden.
Sicher werden seine behutsam konservative Einschätzung der Dinge und seine gelegentlichen Hinweise darauf, dass das 19. Jahrhundert trotz allem bisweilen zivilisierter und humaner war als die Gegenwart, nicht allgemeine Zustimmung finden. Aber sachliche Fehler sind ihm kaum nachzuweisen, höchstens kleine Schlampereien, wenn z. B. Virchow zur Abwechslung einmal im Text und dann im Register "Virschow" geschrieben wird, oder wenn der Buchumschlag einen anderen Untertitel aufweist als das Buch selbst. Aber der Autor bietet ein überzeugendes und höchst lesbar dargebotenes Gesamtbild von Phänomenen des langen 19. Jahrhunderts, die neuerdings im Zeichen der Falsifizierung der Säkularisierungsthese erhöhtes Interesse beanspruchen dürfen, aber zusammenhängend bisher nicht dargestellt wurden. Ein lehrreiches Lesevergnügen!
Wolfgang Reinhard