Andreas Mahler / Cornel Zwierlein (Hgg.): Zeiten bezeichnen / Labelling Times. Frühneuzeitliche Epochenbegriffe: europäische Geschichte und globale Gegenwart / The 'Early Modern' - European Past and Global Now (= Wolfenbütteler Forschungen; 177), Wolfenbüttel: Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 2023, 388 S., 7 s/w-Abb., ISBN 978-3-447-12072-2, EUR 74,00
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Horst Gründer: Eine Geschichte der europäischen Expansion. Von Entdeckern und Eroberern zum Kolonialismus, Stuttgart: Theiss 2003
Jennifer D. Selwyn: A Paradise Inhabited by Devils. The Jesuits' Civilizing Mission in Early Modern Naples, Aldershot: Ashgate 2004
Bernd Hausberger: Die Verknüpfung der Welt. Geschichte der frühen Globalisierung vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Wien: Mandelbaum 2015
Cornel Zwierlein: The Political Thought of the French League and Rome 1585-1589. De justa populi gallici ab Henrico tertio defectione and De justa Henrici tertii abdicatione (Jean Boucher, 1589), Genève: Droz 2016
Cornel Zwierlein: Discorso et Lex Dei. Die Entstehung neuer Denkrahmen im 16. Jahrhundert und die Wahrnehmung der französischen Religionskriege in Italien und Deutschland, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006
Es handelt sich um das Gründungssymposium 2021 des neuen Wolfenbütteler Arbeitskreises Frühneuzeitforschung, in dem die älteren Arbeitskreise für Renaissance- und für Barockforschung aufgegangen sind. Romanistik und Germanistik hatten dort die Schrittmacherrolle gespielt.
Einleitend entwirft Daniel Woolf ein Panorama von Periodisierungsanstrengungen. Er gelangt zu dem Schluss, dass feste Periodenbegriffe eigentlich unmöglich sind. Nichtsdestoweniger bleiben sie unverzichtbar zur provisorischen Orientierung im Chaos der Geschichte, auch wenn sie nur unsere Interessen spiegeln. Über "Sinn und Unsinn von Epochenbezeichnungen" schreibt anschließend zunächst Andreas Mahler. Es geht um die Semantik von Dauer, von Epochenkategorien, von "Schwellen", von Kontinuität und Wandel und um die Etikettierung durch Begriffe. Auch Thomas Martin Buck untersucht nicht Ereignisse, sondern ihre Erzählung, ihre epistemologischen, narratologischen, heuristischen und didaktischen Dimensionen.
Achim Landwehr diagnostiziert und therapiert krankhaften "Epochalismus". Die Historie betone zwar den Konstruktcharakter der Epochen, reifiziere ihn aber dennoch ständig. Die unterstellte Einheitlichkeit einer Epoche lebe nämlich vom Kontrast mit den anderen. Dieser Kontrast werde immer kurzatmiger, weil Selbstbeobachtung ständig neue epochale Einheiten hervorbringe, postmoderne, globalisierte, digitale usw. Denn Epochen arbeiten stets an der eigenen Abschaffung. Dieser dualistische Modus sollte durch Diversität von Epochen und Kulturen ersetzt werden. "Dazu könnten an die Stelle des Chronozentrismus von Epochen die Chronoferenzen von Zeitschaften treten" (102). "Chronoferenzen" sollen durch "Referenzen" auf abwesende Zeiten letztere als gleichzeitig anwesende wieder herstellen. Analog zur "Landschaft" entstünde durch die Zusammenballung solcher Chronoferenzen eine "Zeitschaft", d.h. eine Komposition der Bestandteile von Zeiten.
Stefan Willer verfolgt Landwehrs, Hölschers und Kosellecks Versuche, die angeblich neuartigen Vorstellungen der Frühneuzeit von Zukünftigkeit auf unsere Begriffe zu bringen und kontrastiert sie mit zeitgenössischen bei Grimmelshausen. Anschließend werden "Fallstricke epochenbezogener Begriffsgeschichte" vor allem beim semantischen Umgang mit der "Moderne" ausgemacht. Nach Reinhard Strohm lässt sich die Musikgeschichte nur mühsam bei Tinctoris für so etwas wie Renaissance "eingemeinden". Auch der Architektur- und Musikwissenschaftler Bernd Kulawik möchte die Vorstellung Vasaris von einer "Wiedergeburt" (Renaissance) durch kontinuitätsträchtigere Vokabeln wie "Neuerweckung" nach Tolomei oder "Erneuerung" nach Monteverdi ersetzen. "Der Rückgriff auf metaphorische Bezeichnungen ist bei Epochenkonstruktionen keine Seltenheit" schreibt die Literaturwissenschaftlerin Annette Simonis (147). Sie verfolgt den als Epoche allerdings überbewerteten Gebrauch von Englisch "swerve", auf Deutsch "schwirbeln", durch Greenblatt für Poggios Wiederentdeckung des Lukrez. Werner Spieß' "Braunschweig im Nachmittelalter" wäre ein "epochemachender" Wechsel der Perspektive gewesen, wenn damit nicht bloß die laut dem Archivar Philip Haas unzutreffende Vorstellung von der Überwältigung der Städte durch die Fürsten gemeint gewesen wäre. Für den Anglisten Ingo Berensmeyer ist die Erfindung des Buchdrucks keine Medienrevolution, sondern allmähliche Rezeption, die von elektronischen Medien heute wieder auf "interaktive Eins-zu-Eins-Kommunikation" (190) reduziert wird.
Beiträge zu "Frühneuzeitbegriffen in den Fachgeschichten" fragen in Fallstudien zur Literaturgeschichte, wie diese auf welche Begriffe gebracht werden. Die Anglistin Anne Enderwitz demonstriert die Modernität des englischen Theaters um 1600 an seiner interaktiven Selbstreflexivität. Auch dem vergleichenden Literaturwissenschaftler Jörn Steigerwald geht es bei der Erfindung von Tradition in französischer Dichtung des 17. Jahrhunderts um Gegenwartsbezug als Marker von Modernität. Zwei weitere Anglisten befassen sich ebenfalls mit dem 17. Jahrhundert, mit Thomas Sprats History of the Royal Society 1667. Felix Sprang entlarvt dabei den angeblichen Empiriker Bacon als traditionellen Buchgelehrten. Florian Klaeger bestimmt Sprats selbstreflexive Chronoferenzen im Gegensatz zu den festen Epochen als unscharf. Die Figur des fiktiven beobachtenden Fremden als aktuelle Selbstreflexion sei laut Susan Richter im 18. Jahrhundert bereits Signum der Moderne, womit aber auch hier nicht ohne weiteres eine Epoche konstituiert wird. Zum Schluss begeben sich die Historiker Martin Gabriel und Cornel Zwierlein für Hispanoamerika und für China auf die Suche nach "Globalen Frühneuzeiten", erfolgreich natürlich nur, insofern es sich um historische Globalität für Europa handelt. Das koloniale Amerika erlebte zwar eine radikal "neue" Zeit, die aber gerade deswegen eine besonders pluralistische "Zeitschaft" darstellen würde. Die Kontroverse des 18. Jahrhunderts zwischen jesuitischen Sinophilen und orientalistischen Sinophoben lief für Zwierlein analog zum alten Streit der Antiqui und Moderni auf Kulturvergleich zugunsten Europas hinaus. Das ist für ihn ein paradigmatischer Vorläufer der Konstruktion der Frühen Neuzeit aus dem Geist des Kalten Krieges. Unterwegs zur vollen Moderne benötigten Historiker damals angeblich als Kontrast eine weniger weit entwickelte Vor-Moderne (355) - quod erat demonstrandum (21 schon im Vorwort)!
Alle Gelehrsamkeit des Buches läuft auf historische Semantik hinaus. Die Bedeutung der Geschichte besteht wieder einmal in der Geschichte von Bedeutung. Diese Bedeutung wird durch schwierige Sprache bis zum Einsatz neugeschaffener Begriffe demonstriert. Alles läuft auf die deutsche Obsession mit Begriffen hinaus, während die Frage nach den Inhalten dieser Neuzeit fast nur im Vorwort gestreift wird. Die implizit teleologische Politik- und Sozialgeschichte wurde gegen 2000 von einer theoretisch reflektierten und anthropologisch geöffneten Orientierung abgelöst, die neue Gegenstände wie z.B. die Geschlechtergeschichte hervorbrachte. Die "Frühe Neuzeit" wurde zum innovativsten Zweig der Historie. Ihren Aufstieg von einer chronologischen Verlegenheitslösung zum institutionalisierten Teilfach im Zeichen von Stellenvermehrung symbolisierte der Gebrauch des großen F (vgl. 236). Freilich dürfte die Stellenexplosion mit ihrer Spezialisierung und thematischen Differenzierung weniger Folge als Ursache gewesen sein. "FrühneuzeitlerIn" wurde man nicht, weil es die Frühe Neuzeit gab, sondern die Frühe Neuzeit entstand, weil HistorikerInnen sie brauchten. Über diesen hintersinnigen Prozess erfährt man zu wenig. Versuche zur inhaltlichen Ortsbestimmung wären als Gründungsmanifest für Wolfenbüttel meines Erachtens deshalb sinnvoller gewesen.
Wolfgang Reinhard