Simon Sebag Montefiore: Stalin. Am Hof des Roten Zaren. Aus dem Englischen von Hans Günter Holl, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2005, 874 S., ISBN 978-3-10-050607-8, EUR 24,90
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Wer in den letzten fünfzehn Jahren bemüht war, den Überblick über die Veröffentlichungen zu Jossip Wissarionowitsch Dschugaswili-Stalin zu behalten, hatte es mit einer Literaturflut zu tun, die bald nicht mehr zu überblicken und zugleich von scharfen, oft mit polemischen Stilmitteln ausgetragenen Kontroversen geprägt war. Montefiore legt ein populärwissenschaftliches Buch vor und kann es sich daher leisten, die Kriegsschauplätze historischer Debatten und russischer Gedächtnispflege zu meiden. Indes überwältigt er den Leser mit einer überquellenden Datenmasse. Nichtsdestoweniger ist gleich vorweg festzustellen, dass sein Buch gut gelungen und auch für Fachhistoriker informativ und anregend ist.
Ungewöhnlich für eine Biografie ist zunächst die Dramaturgie. Sie beginnt nämlich mit einem Prolog, in dem ein Festessen aus Anlass des 15. Jahrestags der Oktoberrevolution am 8. November 1932 geschildert wird, das mit dem Selbstmord von Stalins 31-jähriger Ehefrau endete. Erst dann folgt eine in zehn Teilen vorgestellte Kollektivbiografie Stalins und seiner Entourage, deren Gliederung sich an den bekannten Zäsuren der sowjetischen Geschichte orientiert. Ein ausgezeichneter, gut kolorierter und spannend erzählter Lesestoff. Zweihundert Seiten verschlingt man mühelos, dann wird die Lektüre allerdings strapaziös, weil der Neuigkeitswert nachlässt.
Sein Konzept erläutert der Autor erst in der Danksagung ganz am Ende des Buches. Ihm ging es darum, "in erster Linie ein Porträt Stalins und seiner zwanzig Hauptpotentaten nebst Familien [zu] zeichnen, um zu schildern, wie sie im einzigartigen Klima dieser Tyrannei lebten und regierten", also, wie er selbst feststellt, um eine "Hofchronik" (841). Die Anregung dazu geht auf Robert Conquest zurück. Montefiori, der sich bei einer ganzen Reihe russischer und ausländischer Experten für Unterstützung bedankt, hat wohl das meiste von dem zusammengetragen, was in Russland in den letzten zwei Jahrzehnten über seine Protagonisten veröffentlicht wurde und was das persönliche Archiv Stalins bisher preisgegeben hat. Zugleich hat er aber in zahlreichen Interviews mit den Kindern und Kindeskindern der Höflinge eine "neue Welt des Gerüchts" erschlossen. Die Zeitzeugen und Auskunftspersonen werden ebenfalls erst in der "Danksagung" aufgeführt. Im Anhang werden auch die "Hauptpersonen", gegliedert nach "Angehörigen", "Verbündeten", "Militärs", "Feinden und früheren Verbündeten" sowie "'Ingenieuren der Seele'" (also Schriftsteller) sowie ein Stammbaum der Familie Stalins präsentiert: Eine unverzichtbare Lesehilfe, denn das Namensregister enthält wohl über 800 Einträge und die komplizierten Verwandtschafts- und Verschwägerungsverhältnisse bleiben sowieso undurchschaubar.
Montefiore stellt eine sehr "ferne Welt" vor. Obwohl Historiker das "Weibergetratsche" und die Zeugnisse der Söhne von Chruschtschow, Berija oder Mikojan wegen erheblicher Zweifel an ihrem Authentizitätswert nur eines flüchtigen Blicks würdigen werden, bleibt die vorgestellte "verdichtete Interpretationskomposition" im Ganzen wie die vielen Detailinformationen zur Biografie Stalins, zur Kulturgeschichte der sowjetischen "revolutionären Elite" und zur politischen Geschichte der Sowjetunion interessant und durchaus wertvoll, auch wenn Kindheit und Jugend Stalins ein wenig psychoanalytisch überinterpretiert werden, sodass die spätere Entwicklung fast schon "genetisch" vorprogrammiert erscheint. Dass der Hass auf Trotzki und Tuchatschewski schon 1918-20 entstanden sei, ist durchaus überzeugend, auch ist die schon in den 1920er-Jahren festgestellte Paranoia "nachvollziehbar", weniger aber der daraus resultierende "Teufelskreis, dem viele seiner Bekannten zum Opfer fallen sollten" (69). Dass Stalins Allgemeinbildung diejenige Lenins übertraf, ist plausibel dargelegt. Interessant ist Stalins Vorliebe für Maupassant und allgemein sein "klassisch-bürgerlicher" literarischer Geschmack.
Aufmerksamkeit verdient das "private" Sozialverhalten der "Kreml-Familie": Man hockte ständig aufeinander, spielte Schach, Billard oder Tennis, ging zum Reiten, Kegeln oder auf die Jagd. Kollektiv war auch die Freizeitgestaltung auf den Datschen oder im Urlaub. Kuraufenthalte in Karlsbad und Shopping-Touren nach Berlin scheinen noch zu Beginn der 1930er-Jahre für die Kreml-Elite genauso normal gewesen zu sein wie heute für die "neuen Russen". Man fuhr Cadillacs; die Rolls-Royces kamen erst in den 1930er-Jahren in die "Sondergarage" des Kreml. Die Frauen litten unter Migräne und hatten auch Kopfschmerzen..., denn außerdem waren sie depressiv. Unwillkürlich wird man an Gorkijs "Sommergäste" erinnert.
Nach "Stalins Urknall", den seine Frau mit ihrem Freitod 1932 auslöste, wird die politische Geschichte, verwoben mit der Gruppen- und ihrer Kulturgeschichte, erzählt. Hier muss man nicht alles glauben, was man liest. Die Darstellung der Ermordung Kirows 1934 überzeugt beispielsweise nicht, überhaupt nicht, dass sich Stalin mit Berija in außenpolitischen Fragen beriet und Berija "sogar den Vorschlag eines als neutraler Staat wiedervereinigten Deutschland zu Papier bringen" ließ (706) - was ohne Beleg behauptet wird; Gegenbelege gäbe es viele. Auch nicht unbedingt nachvollziehbar ist, wenn Polina Molotowa, die Ehefrau des Außenministers Molotow, an mehreren Stellen als "Objekt" des Judenhasses vorgestellt wird, oder dass Molotow und Mikojan durch die "tschechischen Hinrichtungen" im Zusammenhang mit dem Slansky-Prozeß 1952 "aufgeschreckt worden seien": Dies ist nicht nur nicht belegt, sondern falsch, denn die Geschäftsakten der beiden indizieren, dass sie schon viel früher und wahrscheinlich noch radikaler gegen "diese Bande" vorgegangen wären. Hier haben die von Montefiore interviewten Nachkommen versucht, die schmutzige Wäsche der Väter zu waschen. Es bleibt aber informativ, dass die Witwe des 1945 gestorbenen ZK-Sekretärs Schtscherbakow pauschal mit 200.000 Rubel und einer Monatsrente von 2.000 Rubel bedacht wurde und die Söhne Monatsstipendien von 1.000 Rubel erhielten: Ein Abteilungsleiter beim sowjetischen Schriftstellerverband verdiente damals im Monat 1.200 Rubel.
Stalins "Magnaten", wie der Autor sie nennt, lebten nach 1945 wie Fürsten; ihre Datschen teilten sie sich mit den Bewachungsmannschaften, die halb Spitzel und halb erweiterte Familie waren. Obwohl Montefiore nur die "strategische Clique" um Stalin thematisiert und die schon unter Stalin aufsteigende junge "technokratische Elite" der Gromykows, Kossygins, Kusnezows, Ustinows nicht beachtet, hätte man sich dennoch an mancher Stelle mehr "Gesellschaftstratsch" gewünscht: Wie groß waren beispielsweise die Wohnungen, in denen die Magnaten lebten, arbeiteten, feierten, wie groß waren ihre Datschen? Wo fand der sehr belesene und hoch gebildete Stalin denn Platz für sein Studium? Räumlich vermag man sich diese Kreml-Gesellschaft nur schwer vorzustellen.
Ein Vorzug des Buches besteht darin, dass Montefiore Geschichte erzählt und nicht erklärt. Durch den Verzicht auf theoretische Sicherheitsnetze und Belehrung berührt der Autor nur individuelle Geschmacksgrenzen, denn die epische Erzählbreite eines Tolstois ist nicht jedermann Sache. In seinen Geschichten teilt er aber viele Details mit, die vielfach quasi als "missing links" unmittelbar zur Aufklärung historischer Abläufe beitragen. Seine erzählerische Montagetechnik, in der auf größeren Zeitstrecken Kontinuitätslinien hergestellt werden als in der "engeren" Fachgeschichtsschreibung üblich, regt an und öffnet an vielen Stellen Einblicke in neue Zusammenhänge.
Ärgerlich wirken vor allem Versuche, Stalin und seine "Magnaten" psychologisch zu deuten. Es mag durchaus sein, dass Molotow, Stalin, Woroschilow unter einem "intellektuellen Minderwertigkeitskomplex" litten (51), das wäre aber nur eine umgangsprachlich-literarische Ausschmückung, kein analytischer Befund. Die Bemerkung, dass Stalin laut Chruschtschow nach dem Krieg "nicht mehr ganz richtig im Kopf" war (589), lockert zwar den Text auf, doch hätte Montefiore tiefer in den schon veröffentlichten "oral histories" geschöpft, hätte er dies auch über viele seiner "Magnaten" oder gar einzelne Interviewpartner schreiben können. Stalins "Paranoia" und "Zwangsvorstellungen" sind ebenfalls umgangssprachliche Termini. Aus medizinischer Sicht passen die beiden Befunde nicht ohne weiteres zueinander, man hätte hier einen Fachmann zurate ziehen können. Unbefriedigend sind auch die oft nur knappen Quellenbelege, weil sie nicht immer nach fachhistorischen Maßstäben überprüft oder vertieft werden können.
In stilistischer Hinsicht ist die deutsche Übersetzung hervorragend gelungen. Die Transkription von Namen wie "Sinowiew", "Beria" oder "Rudolf Slanski" (für Slansky) stört aber, und der "Dmitrow" für den Bulgaren Georgi Dimitroff irritiert, weil das zeitweilig der Deckname des ebenfalls behandelten Polen Boleslaw Bierut war.
Jan Foitzik