Neue Gesellschaft für Bildende Kunst (Hg.): 1-0-1 [one'o one] intersex. Das Zwei-Geschlechter-System als Menschenrechtsverletzung, Berlin: Neue Gesellschaft für Bildende Kunst 2006, 192 S., EUR 15,00
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Cay-Rüdiger Prüll: Medizin am Toten oder am Lebenden? Pathologie in Berlin und London, 1900-1945, Basel: Schwabe 2003
Brigitta Bernet: Schizophrenie. Entstehung und Entwicklung eines psychatrischen Krankheitsbildes um 1900, Zürich: Chronos Verlag 2013
Andreas Mettenleiter: Adam Christian Thebesius (1686-1732) und die Entdeckung der Vasa Cordis Minima. Biographie, Textedition, medizinhistorische Würdigung und Rezeptionsgeschichte, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2001
Charlotte Schubert: Der hippokratische Eid. Medizin und Ethik von der Antike bis heute, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005
Monika Ebert: Zwischen Anerkennung und Ächtung. Medizinerinnen der Ludwig-Maximilians-Universität in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Neustadt a.d. Aisch: Verlagsdruckerei Schmidt 2003
Wir leben in einer dualen Geschlechterwelt, gleichwohl verletzt diese zwangsweise Einordnung in klar umrissene Kategorien die Persönlichkeitsrechte derer, die nicht als "männlich" oder "weiblich" klassifizierbar sind. Diese Missachtung der Menschenrechte und die Welt jenseits der Geschlechterdichotomie sind Antrieb und Raum für die Autorinnen und Autoren dieses Ausstellungskatalogs. Die Ausstellung 1-0-1 [one'o one] intersex war im Sommer 2005 in Berlin zu sehen, sowohl die ausgestellten Kunstwerke als auch die Vorträge und Aktionen des Begleitprogramms sind in diesem Buch dokumentiert. Ergänzend ist eine zweisprachige Dokumentation der Ausstellung erschienen, die über die Neue Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK) erhältlich ist.
"Wir sind hier, und Ihr müsst Euch mit uns auseinandersetzen!" (14). Die provokative Forderung steht als Leitspruch der Ausstellung. Spannend an diesem Band ist die Vielfalt; Künstlerinnen und Künstler, Betroffene, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler setzten sich mit dem Komplex Intersexualität / Uneindeutigkeit auseinander und lösen die übliche Unterscheidung zwischen den "Betroffenen" und "Nicht-Betroffenen" auf. Zwar ist allen gemein, dass sie gegen eine strenge Dichotomisierung sind, das ist der Konsensus hinter diesen Beiträgen, doch ist dies kein langweiliges Plädoyer für die Vielfalt, sondern eine kluge Ansammlung von Argumenten und Fakten aus ganz unterschiedlichen Gebieten. Es gibt kein medizinisches, juristisches oder historisches Expertentum auf der einen und Selbsthilferhetorik auf der anderen Seite.
In einer Rezension können nicht alle Beiträge gleichermaßen bedacht werden, sodass hier vornehmlich auf die historischen Beiträge eingegangen werden soll. Gleichwohl stellen die künstlerischen und literarischen Beiträge der Betroffenen eindrucksvoll die aktuelle Situation dar. Anhand von kleinen, alltäglichen Unwägbarkeiten zeigen sie auf, wie stark doch das Geschlecht, gerade wenn es nicht eindeutig ist, den Alltag determiniert. Eine Auswahl: Welche Toilette benutzen Intersexuelle? Sind bei der floskelhaften Anrede "Meine sehr verehrten Damen und Herren" wirklich alle Menschen angesprochen? Nachdem über Jahre hinweg die Gewalt durch Sprache gegenüber Frauen thematisiert wurde (Luise Pusch) fällt nun auf, dass durch die Sprache Menschen mit einem nicht eindeutigen Geschlecht ausgegrenzt werden.
Der Umgang mit Intersexuellen, oder, wie sie in dieser Publikation bevorzugt bezeichnet werden, mit Hermaphroditen, war nicht immer gleich. Oliver Tolmein stellt in seinem Beitrag aus juristischer Perspektive dar, wie das Preußische Allgemeine Landrecht, Berlin 1794, Zwittern gestattete, nach dem 18. Lebensjahr das Geschlecht, in und mit dem sie leben wollen, selbst frei zu wählen. Dieser "Zwitterparagraph" entfiel mit der Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) 1900. Das Personenstandsgesetz von 1875 bestimmte, dass für Neugeborene ein standesamtlicher Geschlechtseintrag zusammen mit der Angabe des Namens und anderer Daten erfolgen muss, nach welchen Regeln das Geschlecht zu bestimmen sei, ist dort nicht festgeschrieben. Es wird deutlich, inwieweit die heutige Eindeutigkeit und Unveränderbarkeit nur eine relative ist, und somit ein Plädoyer für die Anerkennung von geschlechtlicher Mehrdeutigkeit seine Berechtigung hat.
In ihrem kurzen, aber prägnanten philosophischen Beitrag zeigt Ute Frietsch, dass es Hermaphroditen nicht nur unter Menschen, sondern auch schon in der Alchemie gegeben hat. Das Quecksilber, als Metall mit der Eigenschaft "flüssig" ein mehrdeutiges Element, war Metapher und Symbol, auch bei der Herstellung des Steins der Weisen.
Die Politikwissenschaftlerin Andrea Bronstering widmet sich in ihrem Beitrag den Kastraten-Sängern im 17. Jahrhundert und darüber hinaus. Zwar gibt es keine Selbstzeugnisse dieser Menschen, die wegen ihres Stimmumfangs und ihrer Sangesleistung für musikalische Aufführungen und wegen der Unmöglichkeit der Zeugung auch als Liebhaber gerne genommen wurden. Doch die "neue Lust am Androgynen" im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zeigt sich auch in der Wiederentdeckung der Barockoper. Die Countertenöre im 20. Jahrhundert präsentierten sich allerdings, so Bronstering, gerne mit Dreitagebart, Frau und Kindern, um die Frage der Uneindeutigkeit ihres Geschlechts und ihrer sexuellen Ausrichtung gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Der Historiker Florian Krämer fokussiert auf das "Auftauchen", die vermehrte, konzentrierte Wahrnehmung oder wissenschaftliche Inblicknahme der Hermaphroditen in der Frühen Neuzeit. Die Hermaphroditen waren ein wichtiges Element im Diskurs um die Zeugungstheorien, sie wurden sowohl als doppelte als auch als mittlere, gemischte Wesen beschrieben. In der Rechtssprechung zeigt sich dies in dem Eidschwur, den "wahre" Hermaphroditen leisten mussten, sich nur des einen, des selbst gewählten Geschlechtes zu bedienen. Denn als doppelte Wesen wurde ihnen sowohl die Zeugungsfähigkeit als auch die Gebärfähigkeit zugesprochen.
Die Kunsthistorikerin Katharina Sykora beschäftigt sich in ihrem Beitrag ausführlich mit der fotografischen Darstellung von Hermaphroditen durch den Berliner Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld. Für Hirschfeld, der die Zwischenstufen-Theorie entwickelt hat, wonach es nicht nur reine Männer und Frauen, sondern auch Menschen dazwischen gab, waren die Hermaphroditen eine wichtige Bezugsgröße. Hirschfeld stellte Hermaphroditen auf Fotografien sowohl - bis auf einen Gesichtsschleier - nackt dar, als auch in weiblicher und männlicher Garderobe. So sollte der Betrachter vermeintlich selbst entscheiden können, welchem Geschlecht er die abgebildete Person zuordnen würde. Jedoch war nicht nur die Garderobe, sondern auch die weitere Inszenierung der bildlichen Zeugnisse auf das Geschlecht ausgerichtet: als Frau stützte sich die Person auf eine Stuhllehne, als Mann hatte sie beide Hände in den Taschen.
Rainer Herrn, Mitarbeiter der Forschungsstelle zur Geschichte der Sexualwissenschaft der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, arbeitet in seinem Beitrag heraus, dass Hirschfeld die Hermaphroditen zwar argumentativ nutzte für seine Zwischenstufentheorie, gleichwohl war ihm die Eindeutigkeit der Erscheinung ein Anliegen. Er argumentierte in seinen medizinischen Gutachten zur Geschlechtszuweisung der Hermaphroditen immer für das subjektiv von der begutachteten Person gewählte Geschlecht. Damit stellte er sich konträr zu seinen medizinischen Kollegen, die ihre Deutungsmacht höher einschätzten als die Selbstwahrnehmung des einzelnen Individuums. Allerdings nutzte Hirschfeld die Argumentation der Zuordnung der Hermaphroditen auch für die von ihm behandelten Transsexuellen. Hier schreckte er auch vor großen, mitunter lebensgefährlichen Operationen nicht zurück. So ist seine Rolle im Diskurs um die Hermaphroditen differenzierter einzuschätzen als zuweilen unterstellt.
Ulrike Klöppel stellt in ihrem Aufsatz die Hermaphroditismus-Behandlung in der Nachkriegszeit dar und zeigt auf, wie Theorie und Praxis in den Programmen zur Behandlung und Erforschung von Intersexualität ineinander greifen. Die Machbarkeit ist ihr zufolge vor allem bedingt durch das Machtstreben von Ärzten und nicht durch die Wünsche der Behandelten. Identität wird neu definiert, und das nicht von innen, sondern von außen.
Zusammenfassend ist dieser Band für die an der Thematik interessierten Leserinnen und Leser absolut empfehlenswert, insbesondere weil hier eine differenzierte Kritik an den vermeintlichen Diskursbestimmern Thomas Laqueur und Michel Foucault stattfindet. Die Interdisziplinarität der Beitragenden trägt und bietet einen erschöpfenden, facettenreichen Einblick in die Welt der Intersexuellen und in die Geschichte des Umgangs mit ihnen.
Marion Hulverscheidt