Matthias Meinhardt / Andreas Ranft (Hgg.): Die Sozialstruktur und Sozialtopographie vorindustrieller Städte. Beiträge eines Workshops am Institut für Geschichte der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg am 27. und 28. Januar 2000 (= Hallische Beiträge zur Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit; Bd. 1), Berlin: Akademie Verlag 2005, 321 S., ISBN 978-3-05-003836-0, EUR 74,80
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Die Sozialstruktur und -topographie mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Städte interessiert die Forschung seit geraumer Zeit. Ein von Matthias Meinhardt und Andreas Ranft herausgegebener Sammelband möchte trotzdem nicht nur eine Bilanz ziehen, sondern erklärtermaßen auch neuere Entwicklungen dokumentieren und Perspektiven aufzeigen. Der Sammelband ist den beiden im Titel anvisierten Begriffen gemäß in zwei große Abschnitte geteilt, deren erster sich der "Erforschung sozialer Strukturen und Gruppen" und deren zweiter sich den "gesellschaftlichen Strukturen im städtischen Raum" widmet.
Den ersten Abschnitt beginnt ein Aufsatz von Jürgen Ellermeyer, der einen "Rückblick auf Ansätze, Erfolge und Probleme" der deutschen Forschung zur Sozialstruktur mittelalterlicher Städte verspricht. Ellermeyer reflektiert auch den Begriff der "Sozialstruktur", den er als "Wirkungszusammenhang vielfältiger sozialer Felder, die Bevölkerungsteilungen hervorrufen" (22) definiert. Subjektive und objektive Merkmale, also zeitgenössisch zugeschriebene wie durch den Forscher (re-)konstruierte Unterscheidungen seien dabei zusammenfassend aufeinander zu beziehen. Komplementär dazu informiert Stefan Kroll über "Aufgaben und Perspektiven der Forschung zur Sozialstruktur frühneuzeitlicher Städte" und sucht einen erweiterten und mehrdimensionalen Strukturbegriff zu formulieren, der sich nicht auf soziale Schichtung reduziert. Dazu greift er insbesondere auf Bourdieus Konzept des Sozialkapitals zurück. Am Beispiel Stades und Stralsunds zu Beginn des 18. Jahrhunderts zeigt Kroll, wie eine umfangreiche Sammlung prosopographischer Daten genutzt werden kann, um die komplexen persönlichen Netzwerke und das auf ihnen basierende System von Unterstützung und Hilfe in frühneuzeitlichen Städten zu rekonstruieren. Matthias Meinhardt beschäftigt sich mit dem Prozess der Residenzbildung am Beispiel Dresdens vor 1600, indem er von der Entwicklung der Bevölkerungsgröße, der Neubürgeraufnahmen und des Innungswesens zur Darstellung eines "residenzspezifischen" Karriereverlaufs schreitet. Wie in vielen Aufsätzen des Bandes steht auch hier das Bestreben im Vordergrund, Makroprozesse mit Entwicklungen auf der Ebene von Gruppen und Individuen zu verknüpfen, um so einen Zugang zur Sozialstruktur eines Gemeinwesens zu erhalten, der über Schichten- oder Klassenmodelle hinausgeht. Christoph Heiermann zeigt am Beispiel der städtischen Eliten im Bodenseeraum, dass die ständischen Grenzen im Spätmittelalter häufig keineswegs so fix waren wie von der Forschung häufig postuliert. Auch Heiermann betont die Bedeutung von zeitgenössischer Selbst- und Fremdwahrnehmung für die Analyse sozialer Strukturen. Stephan Selzer beschließt den ersten Abschnitt des Sammelbandes mit einer Untersuchung des demonstrativen Konsums als Mittel sozialer Distinktion in spätmittelalterlichen Städten des Hanseraums. Er führt am Beispiel des Konsums von Nahrung und Kleidung vor, dass eine kulturwissenschaftlich informierte Erforschung der Sozialstruktur vor allem einen schärferen Sinn für die Praxis sozialer Ordnungsbildung und damit auch für die Variabilität von scheinbar unverrückbaren, normativ begründeten Zugehörigkeiten gewinnt.
Der zweite Abschnitt des Bandes beginnt wie der erste mit einem allgemeinen Resümee der bisherigen Forschung, das Dietrich Denecke mit "Entwicklung und Stand der sozialtopographischen Forschung" untertitelt hat. Grundlegend für die Sozialtopographie sei die Annahme, so Denecke, "dass soziale Verhältnisse, Ordnungen, Strukturen und Aktivitäten raumwirksam und raumgestaltend sind, besonders im primären Prozess der Standortbestimmung, der Strukturierung von Grundriss und Aufriss im Plan und Bild der Stadt" (125). Was diese sperrige Formulierung meint, zeigt Rolf Hammel-Kiesow, wenn er die Veränderung der Grundstücke und ihrer Bebauung im spätmittelalterlichen Lübeck mit politischen oder wirtschaftlichen Entwicklungen koppelt. Deutlich wird dabei aber auch, wie aufwändig sich die Erhebung der notwendigen schriftlichen und archäologischen Befunde zur Rekonstruktion innerstädtischer Bebauungsflächen gestalten kann. Helge Steenweg führt am Beispiel von Göttingen um 1400 und den städtischen Wortzinsregistern vor, welche Schwierigkeiten und Probleme bei der Auswertung serieller Quellen bestehen können. Karsten Igel setzt sich ebenfalls mit dem spätmittelalterlichen Schriftgut und den Möglichkeiten seiner Auswertung für sozialtopographische Fragestellungen auseinander. Aus dem Greifswalder liber hereditatum, dem Stadterbebuch von 1351-1452, rekonstruierte er die städtischen Grundeigentumsverhältnisse für diesen Zeitraum. Aus der Verteilung des Grundbesitzes über die Stadt und dem jeweiligen Anteil einzelner Gruppen daran, ergibt sich ein "Grundgerüst" (238) für weitergehende Forschungen. Auch Monika Lücke konzentriert sich in ihrem "Versuch einer Vermögenstopographie für die Stadt Wittenberg" in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts auf das vorliegende Quellenmaterial und die Möglichkeiten seiner Auswertung. Am Beispiel von Lucas Cranach illustriert sie, welche Aussagen über die Vermögensverteilung und die Entwicklung des Stadtgrundrisses die von ihr gewonnenen Daten erlauben. Mit einem Aufsatz Marc Kühlborns zum Beitrag der Stadtarchäologie und ihren spezifischen Quellen für die Erforschung sozialer Gruppen in der Stadt am Beispiel Lüneburgs schließt der Sammelband ab. Als Anhang beigegeben ist eine umfängliche, von Matthias Meinhardt erstellte Auswahlbibliographie zur Sozialstruktur und Sozialtopographie, die Pionierarbeiten dieser Forschungsfelder ebenso umfasst wie exemplarische Einzelstudien.
Das Augenmerk vieler Autoren gilt in erster Linie der materialreichen Ausbreitung von Forschungsergebnissen, die in der präsentierten Form insbesondere für mit verwandten Themen beschäftigte Spezialisten von Interesse sein dürften. Die Frage, welche technischen und methodischen Schwierigkeiten mit einer Forschungsweise verbunden sind, die sich auf die serielle Erhebung von Daten aus unterschiedlichen Überlieferungen und deren Aufbereitung in reproduzierbarer Form konzentriert, spielt zwar in einzelnen Aufsätzen eine gewisse Rolle, hätte aber eine zusammenfassende und grundsätzliche Diskussion verdient gehabt.
Wie gesagt: Die Sozialstruktur und Sozialtopographie mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Städte sind keine neuen Forschungsfelder. Der Sammelband zeigt deutlich an, welche methodischen Impulse auf diesen Feldern gesetzt wurden, macht aber auch klar, wie und wo sie inzwischen "beerbt" wurden: Durch die historische Forschung zu sozialen Gruppen etwa und insbesondere zu deren Mechanismen der Integration oder Distinktion, durch die Analyse sozialer Netzwerke und Patronagesysteme oder durch die Konjunktur des Interesses an kulturell geprägten Raumordnungen. Einzelne Beiträge schließen an solche neueren Ansätze durchaus an. Und eine historische Kulturwissenschaft kann insbesondere von dem vorgeführten sorgfältigen und reflektierten Umgang mit dem Quellenmaterial profitieren. Trotzdem bleibt der Eindruck, dass die Begriffe "Sozialstruktur" und "Sozialtopographie" an Schärfe und Kontur soweit verloren haben, dass aus ihnen selbst kaum noch ein konzeptioneller Mehrwert zu ziehen ist.
Patrick Oelze