Dieter R. Bauer / Helmut Feld / Ulrich Köpf (Hgg.): Franziskus von Assisi. Das Bild des Heiligen aus neuer Sicht, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2005, IX + 284 S., ISBN 978-3-412-09403-4, EUR 29,90
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Die Frage nach den eigentlichen Absichten des heiligen Franziskus steht am Anfang der wissenschaftlichen Erforschung des Franziskanerordens. Mit ihr hat der protestantische Pastor und Gelehrte Paul Sabatier in seinem Bestseller "Vie de S. François d'Assise" die moderne Franziskusforschung im Jahr 1894 gleichsam begründet. Der von ihm fokussierte Gegensatz zwischen den ursprünglichen franziskanischen Idealen und den machtpolitischen Interessen einer die franziskanische Bewegung als Orden instrumentalisierenden Kurie hat sich wissenschaftsgeschichtlich als überaus fruchtbar erwiesen: Die ausgelöste Forschungskontroverse setzte die quellenkritische Aufarbeitung des frühfranziskanischen Schrifttums in Gang, sie inspirierte philologisch-editorische Arbeiten, trug zur Klärung von Alter, Vorlagen und gegenseitiger Abhängigkeit der frühfranziskanischen Quellen bei und hat nicht zuletzt die fachinterne Theoriediskussion zu den Möglichkeiten und Grenzen historischer Rekonstruktion von Wirklichkeit befruchtet.
In diese Fragetradition ordnet sich der hier vorzustellenden Band - Beiträge einer wissenschaftlichen Studientagung der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart (März 1998) - ein. Erklärte Absicht der Herausgeber ist es, zu einem kritischen Resümee der neueren Franziskusforschung zu gelangen und damit Impulse für die weitere Beschäftigung mit dem frühen Franziskanertum zu bieten. Die programmatische Eröffnung von Franz Xaver Bischof (1-16) - ein luzider Aufriss zum gegenwärtigen Stand der franziskanischen Frage - bietet eine klare Standortbestimmung: Das Bild des Heiligen aus neuer Sicht gewinnt Gestalt vor einem traditionsreichen Fragehorizont.
Theo Zweermann kann anschließen an eigene Untersuchungen zu Franziskus als Mystiker mit Studien zur theologischen Intuition und zur franziskanischen Zahlensymbolik.
Helmut Feld widmet sich den in der Forschung nur wenig beachteten Gleichnissen des Heiligen. Diese ordnet er thematisch nach Gleichnissen 1. zur Stellung der Bruderschaft innerhalb der Gesamtkirche (arme Frau in der Wüste, das schwarze Zwerghuhn, Brotkrumen und Hostie, Äpfel und Fischer), 2. zu den franziskanischen Idealen (zwei Königsboten, der gehorsame Leichnam) und 3. zum wahren Wesen des Frater Minor (Gleichnis vom gemeinsamen Generalkapitel aller Orden, Frauenstatue im himmlischen Heiligtum, über die wahre und vollkommene Freude). Die vorwiegend im frühfranziskanischen Schrifttum überlieferten Gleichnisse liest Helmut Feld als Ausdruck visionärer Verlustängste im Hinblick auf die ursprünglichen Ideale, als spannungsreichen Ausdruck hoher poetischer Fantasie, die das tiefste Wesen der franziskanischen Religion bergen.
Oktavian Schmucki handelt über Spiritualität, Askese und Krankheit im Regelwerk der Franziskaner. Er verfolgt autobiografische Hinweise auf Krankheiten in den Opuscula, geht ein auf das Beispiel unbußwilliger Todkranker in der Epistola ad Fideles, im Schreiben an die kranken Schwestern von San Damiano und im Sonnengesang.
David E. Floods Auseinandersetzung mit Franziskus und der Offenheit der Geschichte sucht den Charakter der Legenda maior zu klären. Ihr spezifischer Entstehungskontext wird kontrastiert mit der Franziskusvita des Anonymus von Perugia. Bonaventura setzt bekanntlich den Schwerpunkt auf den apokalyptischen Franziskus, indem er ihn als Engel des sechsten Siegels identifiziert. Er habe die Dynamik und die Triebkraft der frühfranziskanischen Bewegung nicht verstanden, seine Fanziskusbiografie leide unter der Zweideutigkeit, welche sich zur Armut des Franziskus gesellte (104). Flood kommt zu dem Ergebnis, dass die Legenda maior keinen Bezug nimmt auf die Herausforderungen der frühfranziskanischen Quellen und Geschichten, da diese kein Programm boten für jene Organisation, zu der der Orden in der zweiten und dritten Generation geworden war.
Leonhard Lehmann geht dem Stellenwert der Erlösung, wie sie insbesondere in den Missionsstatuten relevant wird, nach und hebt dabei die franziskanische Betonung der Menschwerdung Gottes (in Abkehr von der Scheinleiblehre der Katharer) hervor: Kreuz und Auferstehung, Verkündigung und Leben Jesu konstituieren das Heil. Daniela Müller schließt an Befunde ihrer 1986 erschienenen Doktorarbeit zu Franziskus und dem Katharismus an und legt - im Unterschied zur gängigen Forschung - einen Schwerpunkt auf die Gemeinsamkeiten beider Bewegungen (Naturverbundenheit, Ächtung des Schlachtens von Tieren, Erlösungslehre).
Ulrich Köpf sucht in seinem Beitrag eines der zentralen Probleme der Franziskusforschung, das Verhältnis zwischen Hugolino von Hostia und Franziskus zu erhellen. Hat Hugolino grundlegendes an der franziskanischen Lebensform verändert? Hat er die Veränderungen der franziskanischen Gemeinschaft zu verantworten? Es scheint Köpf zu einfach allein den Kardinal Hugolino für die spätere Entwicklung des Ordens verantwortlich zu machen, ihn zum Verderber und Totengräber der ursprünglichen franziskanischen Lebensziele zu erklären. Dass das Werk des Franziskus entgegen seinem ausdrücklichen Willen eine andere als die ursprünglich beabsichtigte Entwicklung genommen hat, anerkennt Köpf als ein von einer tiefen Tragik durchdrungenen Sachverhalt, der jedoch nicht auf einen Urheber zurückgeführt werden kann.
Mit vergleichbarem Ansatz unternimmt Giulia Barone, wiederum im Rückgriff auf bereits in den 70er-Jahren begonnene Studien, eine Analyse der Beziehung zwischen Elias von Cortona und Franziskus und sucht seine Stellung in der weiteren Entwicklung des Ordens und in seiner Funktion als Generalminister zu klären.
Nikolaus Kuster zeichnet die Forschungsgeschichte zum Verhältnis zwischen Franz und Klara nach, von Leonardo Boff, der die Beziehung unter dem Stichwort "Zärtlichkeit und Kraft" zu fassen suchte, über Werner Maleczek, der die Echtheit des Testaments der hl. Klara infrage zu stellen wagte, über Marco Bartoli, Jacques Dalarun bis zu Margaret Carneys vorsichtigen Urteilen über die gemeinsame Geschichte von Franziskus und Klara. Anton Rotzetter beleuchtet moderne tiefenpsychologische Interpretationen des Verhältnisses zwischen Franziskus und Klara im Lichte des so genannten Aschenrituals, bei dem Franziskus zu Gast in San Damiano, statt dem Wunsch der Frauen nach einer Predigt nachzukommen, sich Asche auf den Kopf streut und gleichsam in Trance den Psalm Miserere mei Deus betet (II Cel 207). Rotzetter interpretiert das Geschehen als einen Höhepunkt der geistlichen Kommunikation zwischen Franziskus und Klara, in dem die leibhaftige Vergegenwärtigung in allen Beteiligten tiefste Emotionen hervorruft.
Kaspar Elm geht ein auf Agnes von Prag und deckt dabei die Fragen nach geistlichen Lebensformen der Armut unter hochadeligen Frauen im Umfeld der franziskanischen Bewegung ab.
Klaus Krüger handelt im Rückgriff auf seine 1992 publizierten Untersuchungen zum frühen Bildkult des Franziskus in Italien über Repräsentation und Sinnstiftung zu Gestalt- und Funktionswandel des Tafelbildes im 13. und 14. Jahrhundert. Es stellt damit gleichsam die Geburt der Renaissance aus dem Geist des frühen Franziskanertums (Thode) infrage, wenn er den Wirkzusammenhang zwischen religiösen Ideen und zeitgenössischen ikonografischen Programmen hinterfragt. Krüger schlägt vor, dass der neue Anschauungsgehalt von Abbildhaftigkeit (similitudo) in den franziskanischen Bildtafeln nicht ursächlich das Produkt einer Subjektivierung des religiösen Verhältnisses zum Heiligen war, sondern vielmehr ein visuelles Argument zur Beglaubigung der Stigmata.
Der abschließende Beitrag von Wolfgang Schenkluhn geht ein auf die baugeschichtliche Problematik der Doppelkirche San Francesco in Assisi, geschrieben unter dem Eindruck der Zerstörung der Kirche durch das Erdbeben im September 1997.
Mit Ausnahme der beiden letzten Beiträge bieten die hier versammelten Vorträge Stellungnahmen zur eingangs skizzierten franziskanischen Frage. Das Bild des Heiligen aus neuer Sicht wird durchgängig auf der Beweisebene entworfen, in der Absicht historisch haltbare Rekonstruktionen des ursprünglichen Franziskanertums zu plausibilisieren. Der Band bietet also eine beeindruckende Zusammenschau der Ergebnisse jener exzellenten Grundlagenforschung, die die historisch-kritische Franziskusforschung im vergangenen Jahrhundert auf höchstem Niveau vorangetrieben hat. Und doch stellt sich die Frage, wie fruchtbar eine solche Engführung der Forschung zu Franziskus und seiner Bewegung in den klassischen Bahnen der "franziskanischen Frage-Traditionen" heute noch sein kann. Hat die neue kulturhistorische Forschung nicht ein ganz neues Fragerepertoire? Ist die Meistererzählung von Franziskus, dem missverstandenen Heiligen auf historisch kritische Richtigstellungen wirklich angewiesen?
Annette Kehnel