Hans Ehlert / Michael Epkenhans / Gerhard P. Groß (Hgg.): Der Schlieffenplan. Analysen und Dokumente (= Zeitalter der Weltkriege; Bd. 2), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2006, 496 S., ISBN 978-3-506-75629-9, EUR 39,90
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In der Historiografie zur Rolle Deutschlands vor und während des Ersten Weltkrieges ist wohl kaum ein anderes Dokument gleichermaßen legendär und umstritten wie der so genannte "Schlieffenplan". Dieser "Plan" geht nach der vor allem von Gerhard Ritter [1] geprägten landläufigen Auffassung zurück auf eine Ende 1905 entstandene Denkschrift des scheidenden deutschen Generalstabschefs Alfred Graf von Schlieffen (1833-1913) für seinen Nachfolger Helmuth von Moltke (1848-1916) und bildete die Grundlage der deutschen Aufmarsch- und Operationsplanung bis 1914.
Danach sollte das Dilemma eines Zweifrontenkrieges der Mittelmächte gegen die quantitativ überlegenen Heere Frankreichs und Russlands dadurch gelöst werden, dass gegen Russland neben der österreich-ungarischen Armee allenfalls schwache Deckungskräfte aufmarschierten, während die Masse des deutschen Heeres die französischen Landstreitkräfte binnen weniger Wochen in der weit ausholenden Umfassungsoperation eines durch die neutralen Beneluxstaaten vorgehenden starken rechten Angriffsflügels zwischen Paris und der Schweizer Grenze einschließen und vernichten sollte. War dies erfolgt, sollten die frei werdenden Verbände rasch nach Osten verlegt werden, um sich dem russischen Gegner zuzuwenden. Vorausgesetzt wurde dabei, dass sich Mobilmachung und Aufmarsch des russischen Heeres auf Grund des schwach ausgebauten Eisenbahnnetzes im Westen Russlands im Vergleich zu Frankreich und Deutschland nur langsam entwickeln würden.
Der Erfolg einer solchen Konzeption, mit welcher der Albtraum eines Zweifrontenkrieges von mehrjähriger Dauer gleichsam auf dem Wege eines frühen Blitzkriegsverfahrens in zwei aufeinanderfolgende Einfrontenkriege aufgelöst werden sollte, hing somit nicht zuletzt vom plankonformen Verhalten der Kriegsgegner Frankreich und Russland ab.
Schlieffens Denkschrift, die eher eine Art operatives Vermächtnis an seinen Nachfolger Moltke als ein ausgefeilter Operationsplan war, ließ darüber hinaus zwei weitere Probleme außer Acht. Zum einen rechnete Schlieffen in der Denkschrift mit Truppen, die zu diesem Zeitpunkt nicht existierten, und zum anderen ignorierte er die außenpolitisch-strategischen Folgen des Durchmarsches durch die Benelux-Staaten.
Unter diesen Umständen waren für die Umsetzung der Schlieffenschen Konzeption in praktische Aufmarsch- und Operationsplanung Präzisierungen beim Kräfteansatz und Modifikationen - wie etwa der Verzicht auf die Invasion der Niederlande - erforderlich. Diese wurden dem jüngeren Moltke dann nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg von Vertretern der so genannten "Schlieffen-Schule" um Hermann von Kuhl und Wilhelm Groener als "Verwässerung" des aus ihrer Sicht genialen, wenn nicht gar unfehlbaren "Schlieffenplanes" ausgelegt.
Bis heute umstritten ist dabei, was denn eigentlich den "Schlieffenplan" ausmachte. War er identisch mit Schlieffens Denkschrift aus dem Jahr 1905 oder war er weiter gefasst und synonym mit dem oben dargestellten operativen Konzept zu verstehen, dem auch Moltke 1914 weitgehend gefolgt war?
Der US-amerikanische Historiker und ehemalige Berufsoffizier Terence Zuber formulierte in seiner Dissertation [2] eine dritte Deutung. Schlieffens Denkschrift von 1905 sei weder Grundlage der deutschen Operationsplanung, noch gleichsam der Höhe- und Schlusspunkt seines operativen Denkens gewesen. Vielmehr stelle sich Schlieffens militärisches Denken in den von Zuber akribisch analysierten Kriegsspielen und Generalstabsreisen ganz anders, nämlich taktisch und operativ deutlich vielseitiger und flexibler dar, wobei nach Zubers Auffassung nicht so sehr - wie landläufig angenommen - der groß angelegte Umfassungsangriff, sondern eher eine aktive Verteidigung mit einer Reihe von Gegenangriffen prägend für Schlieffens Konzeption gewesen sei. Den legendären "Schlieffenplan" hätte es mithin nie gegeben und angesichts der somit letztlich defensiven deutschen Operationsplanung sei auch der Vorwurf eines deutschen Angriffskrieges nicht länger aufrecht zu halten.
Zubers revisionistische Thesen lösten zunächst in der britischen Zeitschrift "War in History" eine kontroverse Debatte aus und standen auch im Mittelpunkt einer 2004 am Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Potsdam veranstalteten Konferenz zum Thema. Deren Ergebnisse wurden nun im vorliegenden Band zusammengetragen und mit einer Edition wieder entdeckter Quellen zur Entwicklung der deutschen Aufmarschplanung vor 1914 verknüpft.
Den Auftakt bildet ein weit gefasster Überblick Klaus Hildebrands zum Verhältnis von Staatskunst und Kriegshandwerk in Europa vor 1914. Der folgende Aufsatz von Terence Zuber stürzt den Leser unvermittelt in die Niederungen der Debatte. Dabei verlegt er sich jedoch primär auf eine bis zu persönlichen Angriffen reichende Polemik gegen die Organisatoren der Potsdamer Konferenz und seine Kontrahenten, welche er als "Amateurstrategen" (78) abqualifiziert, die falsche Schlussfolgerungen aus einer "kleinen Karte mit großen Pfeilen" (69) gezogen hätten. 1914 sei es nicht um den Schlieffenplan, sondern in erster Linie um die "hervorragende Qualität des deutschen Heeres im Allgemeinen und der deutschen Infanterie im Besonderen" (72) gegangen. Das Hauptverdienst seiner Forschungen, zu zeigen, dass die deutsche operative Doktrin deutlich flexibler war als bislang gemeinhin angenommen, geht in dieser verworrenen Argumentation leider weitgehend unter.
Demgegenüber setzt sich Annika Mombauer anhand Schlieffens und Moltkes Planungen mit Zubers These der angeblich defensiven Ausrichtung Schlieffens auseinander, während Robert Foley Zuber nicht nur die einseitige Interpretation des als zentrale Quelle verwandten "Dieckmann-Manuskripts", sondern auch die falsche Bewertung der Szenarios von Kriegsspielen und Generalstabsreisen nachweist, die in erster Linie der operativ-taktischen Schulung der Generalstabsoffiziere, zum Teil auch der Überprüfung operativer Konzepte, aber nicht der Erprobung ganzer Operationspläne gedient haben (107).
Der Aufsatz von Gerhard P. Groß fasst noch einmal die wichtigsten Thesen Zubers übersichtlich zusammen, um sie dann auf Grundlage der vorangegangenen Debatte und der in deren Verlauf wieder aufgefundenen Quellen Schritt für Schritt zu widerlegen. Neben einer bis dato unbekannten Abschrift der Schlieffenschen Denkschrift von 1905 sind dies vor allem die im Reichsarchiv entstandenen und im Anhang kombiniert mit hochwertigem Kartenmaterial edierten Abschriften der deutschen Aufmarschpläne für die Jahre 1893/94 bis 1914/15. Auf dieser Basis gelangt Groß zu der keineswegs überraschenden Feststellung, dass es den Schlieffenplan sehr wohl gab und er alles andere als defensiv war.
Hervorzuheben ist schließlich noch die Studie von Dieter Storz, der anhand der Kämpfe des linken deutschen Heeresflügels in Lothringen 1914, sowohl Moltkes Denken in Optionen und damit die Flexibilität seiner Operationsplanung als auch die dadurch begünstigten Missverständnisse und Fehlentscheidungen im Rahmen angewandter Auftragstaktik anschaulich herausarbeitet.
Die übrigen Beiträge des Bandes widmen sich den operativ-strategischen Überlegungen von Österreich-Ungarn (Günther Kronenbitter), Frankreich (Stefan Schmidt), Russland (Jan Kusber), Großbritannien (Hew Strachan), Belgien (Luc de Vos) sowie der Schweiz (Hans Rudolf Fuhrer und Michael Olsansky). Auf der Höhe der Forschung betten diese Aufsätze die deutsche Aufmarsch- und Operationsplanung in den europäischen Kontext ein und machen die Wechselwirkungen zwischen den jeweiligen nationalen Planungen deutlich.
Obschon Zubers Ansichten mit der Potsdamer Konferenz und dem darauf basierenden Sammelband weit mehr Aufmerksamkeit zu Teil wurde, als seinen provokanten, aber im Kern abwegigen Thesen angemessen gewesen wäre, stellt sich das vorliegende Buch dennoch als Gewinn für die Forschung zum Ersten Weltkrieg dar. Dieser resultiert vor allem aus der Neuerschließung und Edition bislang unbekannter Quellen. Darüber hinaus wurden viele lieb gewordene Interpretationen zur Rolle des deutschen Generalstabes vor dem Hintergrund der neu erschlossenen Quellen und der konträren Thesen Zubers kritisch überprüft und stellen sich nun - nicht zuletzt auf Grund der ausgiebigen Erörterung der europäischen Interdependenzen - deutlich differenzierter dar.
Anmerkungen:
[1] Gerhard Ritter: Der Schlieffenplan. Kritik eines Mythos, München 1956.
[2] Terence Zuber: Inventing the Schlieffen Plan. German War Planing 1871-1914, New York Oxford 2003.
Christian Th. Müller