Michael Sommer: Die Phönizier. Handelsherren zwischen Orient und Okzident, Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 2005, VIII + 277 S., 9 Abb., 4 Karten, ISBN 978-3-520-45401-0, EUR 19,80
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Die Frage nach der Kulturbedeutung der Phöniker, die insbesondere im 19. Jahrhundert mit Nachdruck gestellt worden ist, hängt nicht zuletzt mit dem Bedürfnis zusammen, in einer Zeit stürmischer Veränderung die Triebkräfte dieser Veränderung und die Elemente des spezifisch Eigenen in der Ordnung von Gesellschaft und Staat festzuhalten. Die Antwort war nicht nur von akademischer Bedeutung, und es wundert nicht, dass sie im Folgenden in enger Wechselbeziehung mit den jeweilig aktuellen Freund-Feind-Bestimmungen eingeschätzt wurde. Sommer zeichnet diese in der Einleitung kurz nach und verweist auf Zusammenhänge mit antisemitischen Einstellungen oder auf die Tradition des Bildes von England als dem "perfiden Albion", das die römische Ansicht von der punischen = phönikischen Arglist fortführe.
Solche Ideologisierungen haben in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dazu beigetragen, dass man Fragen nach den tief gründenden kulturellen Wurzeln eher vermieden hat. Mit dem Verblassen von Bibelkenntnissen erlosch schließlich auch die letzte Quelle, die in einem weiteren Bewusstsein Licht auf die Phöniker hätte werfen können. Sie interessieren nur noch die Spezialisten. Wichtige Überlegungen, wie beispielsweise die Fritz Gschnitzers zur Entwicklung der Polis nach dem Vorbild phönikischer Städte [1] oder die Walter Amelings, der die wichtigste phönikische Gründung, Karthago, in den Horizont mediterraner Polisstaatlichkeit eingeordnet hat [2], erreichen allenfalls noch altertumswissenschaftliche Seminare.
Vordergründig greift Sommer den verlorenen Faden der Diskussionen um Ursprünge und Erbe wieder auf. Auch die allenthalben bewusste Anlehnung an Globaltheorien wie die Max Webers und die universalhistorische Belesenheit und Assoziationsfreude erinnern an den Stil eines längst vergangenen Jahrhunderts. Dazu passt die biologistische Metaphorik vom Aufblühen und Überlebt-Sein und die bisweilen hochmütige Art, wie widerständige Positionen im Gestus von Großordinarien ohne hinreichende Argumentation vom Tisch gewischt werden. [3]
Man soll sich davon nicht abschrecken lassen! Denn hier hat eben nicht das antiquarische, sondern das verstehen wollende 19. Jahrhundert Pate gestanden, und die kluge Rezeption neuerer Einzelforschungen sowie die besonnene Einbindung theoretischer Abstraktionen [4] erlauben es Sommer, eine beachtliche These über die Phöniker zu formulieren, die das Rückgrat des Buches bildet: Eine Bemerkung von Max Weber über die Phöniker als dem ersten "Handelsvolk der Weltgeschichte" entfaltend geht es um die Geschichte und Welt von "Handelsherren", deren politisches und soziales System durch wirtschaftliche Tätigkeit, konkret durch den Fernhandel integriert war und eine erstaunliche Stabilität aufwies.
So bieten die Überlegungen - neben der nach dem Geschmack des Rezensenten wenig ergiebigen Suche nach Wurzeln und Ursprüngen - also ein intellektuelles Laboratorium, in dem Fragen unserer Zeit die Erforschung der Vergangenheit stimulieren - und deren Ergebnisse vielleicht auch das Verständnis der Gegenwart fördern. Dem heute drängenden Problem, wie es gelingen kann, für eine vom Primat der Ökonomie geprägte, sich globalisierende Welt eine legitime Ordnung zu finden, stellt Sommer eine in den Maßstäben ihrer Zeit global agierende Gesellschaft gegenüber, die über die Ökonomie integriert gewesen sei und sich darin von den politisch integrierten Gemeinwesen der griechisch-römischen Welt unterschieden habe.
Diese Entwicklung der Phöniker wurde durch einen doppelten Mangel angestoßen: Die Levanteküste erlaubte Landwirtschaft nur in beschränktem Maße; zugleich lag sie an der Peripherie der Machtzentren in Mesopotamien und am Nil. Aus dem Zweistromland übernahm man schon im zweiten vorchristlichen Jahrtausend die Stadt als praktikable Form gesellschaftlicher Arbeitsteilung und konnte sie über den Systemkollaps im Übergang von der Bronze- in die Eisenzeit bewahren. Die späteren Großmächte Assyrer, Babylonier und Perser haben zwar gelegentlich die politische Autonomie dieser phönikischen Städte an der Levanteküste bedroht, diese sogar stark einschränken können. Im Wesentlichen aber haben sie zum Aufstieg und zum Erfolg der Phöniker beigetragen, die nämlich allein in der Lage waren, die Nachfrage nach Gütern, sei es zunächst aus dem phönikischen Hinterland (Zedern), sei es aus Europa oder dem westlichen Mittelmeerraum, auf andere als auf die immer mehr überlebte Weise des herrschaftlichen Gabentausches zu befriedigen, und die überdies auch dazu passende technische Fertigkeiten anboten. Die phönikische Kolonisation erscheint in dieser Perspektive als Strategie, Haltepunkte für ein die westliche Ökumene umspannendes Handelsnetz zu sichern.
Unter diesen Umständen formte sich ein neuer Menschentyp selbstständiger Unternehmerindividuen. Deren Aufstieg beschränkte das Königtum seit dem 10. Jahrhundert auf sakrale Funktionen. Nicht ein monarchisches (Erb-)Charisma, sondern Gesetze waren die Grundlage der Ordnung, an deren Spitze ein zeitlich befristetes, durch Wahl oder Losung vergebenes Amt stand. Durch die Einführung demokratischer Institutionen gelang es der bestimmenden Oligarchie, die Partizipationsansprüche des Volkes zu befriedigen. Das Landgebiet war der Herrschaft durch die Stadt unterworfen.
Diese Geschichte wird in acht Kapiteln entfaltet. Das Erste skizziert "Die Levante in der Bronzezeit" als doppelte Peripherie der damaligen Machtzentren (9-41). Im Zweiten wird der Untergang des bronzezeitlichen Mächtesystems auf eine Strukturkrise zurückgeführt (42-53). Im Dritten fragt Sommer nach den Bedingungen, unter denen die Phöniker trotz der tief greifenden Veränderungen und in Konfrontation mit Hebräern und Philistern ihre städtische Tradition bewahren und auf sie gestützt einen neuen Entwicklungsschritt wagen konnten (54-71). Die Entwicklung des mediterranen Fernhandels nimmt das Vierte Kapitel in den Blick (72-112). Das Fünfte schreitet chronologisch und geografisch die Stationen der phönikischen Expansion im Mittelmeerraum ab (113-143). Im sechsten Kapitel widmet sich Sommer den Beziehungen zwischen den Phönikern und den Großmächten (144-190). Im Siebten fragt er unter dem Titel "Die Ausgestaltung politischer Autonomie" (191-239) nach dem Verhältnis von Stadt und Land, nach der Monarchie, dem Aufstieg kollektiver Institutionen, dem Verhältnis von Mammon und Macht sowie dem von Herrschaft und Heil und plausibilisiert die idealtypische Rekonstruktion in vier chronologisch geordneten Einzeluntersuchungen. Das achte Kapitel verfolgt den Fortbestand der phönikischen Eigenheit bis in die römische Kaiserzeit und verweist auf aktuelle Versuche, an dieses Identifikationsangebot anzuknüpfen (240-248).
Ein "Kommentiertes Literaturverzeichnis" (249-264) entlastet die eigene Präsentation. Diese neuerdings beliebte Form erschwert es ungebührlich, die Auseinandersetzung mit der Forschung nachzuvollziehen. Hilfreich sind geografische, Personen- und Sachregister sowie Karten. Die Sprache ist flüssig, Gespreiztheiten wie "Narrativik" (45) finden sich selten.
Sommers Betrachtungen beschränken sich nicht auf das engere Thema. Daneben finden sich weitschweifige Ausführungen etwa über die Ursachen der Krise am Ende der Bronzezeit, über die Philister, über "imperiale Zyklen" und anderes, was zum Teil nur noch sehr locker mit den Phönikern verknüpft ist.
Schwerer wiegen andere Mängel:
1. Sommer vermeidet es, explizit darzutun, wer denn die Phöniker sind. Der Name selbst ist eine Fremdbezeichnung. Aus den Quellen ergibt sich, dass es die einzelnen Städte waren, auf die sich Zugehörigkeit bezog. Eine darüber hinausreichende "phönikische" Identität ist aber auch auszuschließen, weil man im Alten Orient "nicht nach ethnischen, sondern nach sozialen und politischen Kriterien" spezifiziert und gliedert [5]: Die Phöniker sind eine griechische Erfindung! Vielleicht erst in hellenistischer Zeit entsteht eine ethnische Identität. Sommers beiläufige Rede von der "Funktionsethnie" ist eher dazu geeignet, diese Gegebenheiten zu verdunkeln.
2. Bei der Präsentation der im Wesentlichen archäologischen Quellen zur Kolonisation fehlen die für die Frage nach den Beziehungen zu den Griechen so wichtigen Befunde auf Ischia. [6] Erst die möglichst präzise Klärung der Formen von Interaktion und wechselseitigem Verständnis erlaubt dem modernen Betrachter als Drittem, die Aussagen der Griechen über die Phöniker angemessen zu würdigen.
3. Schmerzlich vermisst man oft eine explizite Quellenkritik. Etwa bei der Auswertung der Erzählung des Wenamun darf man Aufklärung darüber erwarten, wie dieser umstrittene Text für historische Fragestellungen benutzt werden darf. [7] Zu begründen wäre auch, inwieweit für die Rekonstruktion der inneren Entwicklung der Mutterstadt Tyros die etwas reichere Überlieferung zu Karthago herangezogen werden kann. Erläuterungsbedürftig wäre, ob Josephus' Aussagen zum Verhältnis von König und Gott trotz des jüdischen Hintergrunds des Autors belastbare Hinweise zu geben vermögen (227f.).
Sommer hat ein wichtiges Buch geschrieben. Er untermauert eine These, die Historikern und Zeitgenossen wichtige Erkenntnisse erschließt. Ob sie sich am Ende bewährt oder nicht, man lernt hinzu.
Anmerkungen:
[1] F. Gschnitzer: Kleine Schriften zum griechischen und römischen Altertum I, Stuttgart 2001, 233 ff.; 249 ff.
[2] W. Ameling: Karthago. Studien zu Militär, Staat und Gesellschaft, München 1993.
[3] Z. B. 221: "abwegig ist der Versuch, [...] hinwegdisputieren zu wollen".
[4] Neben M. Weber sind Immanuel Wallerstein und Jan Assmann Pate gestanden.
[5] P. Högemann: Der Iliasdichter, Anatolien und der griechische Adel, in: Klio 82 (2000), 34.
[6] Vgl. H.G. Niemeyer (Hg.): Phönizier im Westen, Mainz 1982; G. Kopcke: What Role for the Phoenicians?, in: ders. / I. Tokumaru (Hg.): Greece between East and West: 10th-8th Centuries BC, Mainz 1992, 103 ff.
[7] Dazu B.U. Schipper: Die Erzählung des Wenamun, Göttingen 2005.
Tassilo Schmitt