Timothy J. Clark: The Sight of Death. An Experiment in Art Writing, New Haven / London: Yale University Press 2006, IX + 260 S., ISBN 978-0-300-11726-4, USD 30,00
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Jonathan Unglaub: Poussin and the Poetics of Painting. Pictorial Narrative and the Legacy of Tasso, Cambridge: Cambridge University Press 2006, xv + 282 S., 8 plates, ISBN 978-0-521-83367-7, GBP 55,00
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Elisabeth Hipp: Nicolas Poussin: Die Pest von Asdod (= Studien zur Kunstgeschichte; Bd. 165), Hildesheim: Olms 2005, 519 S., 58 Abb., ISBN 978-3-487-12991-4, EUR 68,00
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Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Jonathon Keats: Forged. Why Fakes Are the Great Art of Our Age, Oxford: Oxford University Press 2013
Hannah Baader / Ulrike Müller-Hofstede / Kristine Patz (Hgg.): Ars et Scriptura. Festschrift für Rudolf Preimesberger zum 65. Geburtstag, Berlin: Gebr. Mann Verlag 2001
Paul Naredi-Rainer (Hg.): Imitatio. Von der Produktivität künstlerischer Anspielungen und Mißverständnisse, 2001
Obgleich das 1994/95 Nicolas Poussin zu Ehren gefeierte Jubiläumsjahr inzwischen mehr als 10 Jahre zurückliegt, stellt der Künstler - auch jenseits solcher Anlässe - offenbar weiterhin einen starken Anreiz zur Forschung dar: So sind alle drei hier zu besprechenden Bücher im Verlauf eines Jahres erschienen. In Ansatz und Radius unterschiedlich konzipiert, weisen sie dennoch Gemeinsamkeiten insofern auf, als sie alle früher oder später Rekurs zu Poussins theoretischen Äußerungen nehmen, um bestimmte Werkgruppen bzw. einzelne Bilder zu erörtern. Das Spektrum reicht dabei von einer Untersuchung, wie derjenigen von Elisabeth Hipp, die ein einziges Bild - die "Pest von Asdod" - in den Mittelpunkt ihrer Forschungen stellt, über T.J. Clark, der zwei Gemälde zum Anlass seiner Überlegungen nimmt, bis hin zu Jonathan Unglaub, der dem Niederschlag der Werke und der Ästhetik des Dichters Torquato Tassos im Schaffen Poussins nachspürt.
Am überraschendsten ist dabei sicherlich die Veröffentlichung von T.J. Clark - nicht nur in Bezug auf den Autor, der bislang eher als Verfasser von Büchern zur sozialen und politischen Rolle moderner Kunst in Erscheinung getreten ist, sondern auch im Hinblick auf seine Konzeption des Buches, das sich im Untertitel als ein "Experiment in Art Writing" vorstellt. Clark hatte zu Beginn eines halbjährigen Forschungsaufenthaltes am Getty Research Institute in Los Angeles im Frühjahr 2000 eine dort eröffnete Ausstellung besucht, bei welcher der zeitgenössische britische Maler Leon Kossoff dazu eingeladen worden war, sich in Zeichnungen und Drucken mit zwei Gemälden Poussins auseinander zu setzen. Nicht für die Werke Kossoffs interessierte sich Clark jedoch, sondern für die zwei Bilder Poussins: die dem Getty-Museum gehörende idyllische "Ruhige Landschaft" sowie die "Landschaft mit dem von einer Schlange erwürgten Mann" (London, National Gallery).
Während des über sechs Monate wiederholten, zuweilen fast täglichen Besuchs und der stetig neuen Betrachtung dieser beiden Bilder notierte Clark in tagebuchartigen Einträgen seine vor den Gemälden angestellten Beobachtungen, die sich immer wieder zu grundsätzlichen Reflexionen über das beständig neue Sehen, Erfahren, Beschreiben und Verstehen von Kunst erweitern. Damit thematisiert er Prozesse, die in der Kunstgeschichte zumeist verschwiegen werden: Die entsprechenden wissenschaftliche Texte geben sich zumeist so, als stünden die in ihnen vorgelegten Ergebnisse nicht am Ende einer Erkenntnisreise voller Sackgassen und Richtungswechsel, sondern seien das Ergebnis einer sofort erkannten und zielstrebig verfolgten Route. Auch die wiederholte Begegnung mit dem erforschten Kunstwerk, die dabei stets neu aufgeworfenen und formulierten Fragen, die gewährten oder verweigerten Entdeckungen sowie die daraus resultierenden Glücksmomente und Frustrationen werden üblicherweise unterschlagen. Eben diese Erlebnisse rückt Clark nun in den Fokus seiner Texte, wobei sich der Aspekt der Wiederholung als zentral erweist.
Der Untertitel von Clarks Buch weist von daher auch nicht von ungefähr deutliche Reminiszenzen zu demjenigen von Sören Kierkegaards 1843 veröffentlichter Schrift "Die Wiederholung" auf: "Ein Versuch in der experimentellen Psychologie". Denn "An Experiment in Art Writing" setzt Kierkegaards Forderung "Die Wiederholung ist die neue Kategorie, die entdeckt werden soll" [1] konkret um: "Die Dialektik der Wiederholung ist leicht; denn das, was wiederholt wird, ist gewesen, sonst könnte es sich nicht wiederholen, aber gerade, daß es gewesen ist, macht die Wiederholung zu etwas Neuen." [2] Eben diese Spannung zwischen Erinnerung und Wiederholung, alt und neu, bekannt und unbekannt, scheinbarer Gewissheit und durch die Wiederholung provozierter In-Frage-Stellung greift nun auch bei Clarks Bild-Betrachtungs-Experiment. Hierbei hat er in John Berger einen Vorläufer, der 1973 mit seinem Aufsatz "Zweimal in Colmar: Der Isenheimer Altar neu gesehen" [3] einen ähnlichen Versuch geschildert hatte. Bei allen Unterschieden (zwischen Bergers Besuchen des Isenheimer Altars lagen 10 Jahre) sind die Parallelen zwischen den Texten verblüffend: In beiden Fällen halten die Autoren Zwiesprache mit ihren früheren Notizen und stellen fest, dass die von ihnen beobachteten Veränderungen nicht nur im Kunstwerk, sondern auch in den verschiedenen Umständen der Rezeption begründet sind, die bei Berger und Clark auch politisch geprägt sind (Clark deutet den 11. September 2001 unter dem 28.11.2001 nur als "the event seventeen days ago" an - er hat sich mit dem Ereignis im Rahmen des bewusst polemischen Buches "Afflicted Powers" auseinander gesetzt, das er als Teil eines auf den Namen "Retort" getauften Autorenkollektivs verfasst und 2005 veröffentlicht hat). Bei beiden wird auch der Gedanke vom Überdauern der Kunstwerke formuliert (Clark, 242: "Paintings are defenceless, paintings are survivors"), der von Berger (77) auf eine Skepsis gegenüber dem Standpunkt fortentwickelt wird, den die jeweiligen Betrachter sich selbst üblicherweise zumessen: Sie glauben, einen besseren Überblick vom "Gipfelpunkt der Geschichte" zu haben als das vorangegangene Publikum, zu dem gleichsam durch den Tunnel der Geschichte zurück - und "hinunter" geblickt wird: "Dann scheint das bis heute überdauernde Kunstwerk unsere überlegene Position zu bestätigen. Das Ziel seines Überdauerns waren wir." Dem hält Berger jedoch entgegen: "Das ist eine Illusion. Man ist nie von der Geschichte ausgeschlossen." Die wiederholte Begegnung mit dem Kunstwerk provoziert ihn folglich dazu, nicht das Werk, sondern sich selbst historisch einzuordnen - ein Gedanke, der von Clark in mehrfacher Hinsicht radikalisiert wird. Nicht nur, dass er diese Wiederholung in Bezug auf Rhythmus und Dauer intensivierte, sondern auch in Hinblick auf die Gründlichkeit der Introspektion: Clark will auch die Veränderungen innerhalb seiner Reaktionen auf die beiden Bilder protokollieren, um mit Hilfe dieser Chronik im Rückblick auch seine erste, spontane Reaktion darauf umso klarer erkennen zu können, die üblicherweise von den nachfolgenden Eindrücken überschrieben und - da nicht dokumentiert - ausgelöscht wird (118).
Dem Versuch, an diese Wahrnehmungen möglichst unverstellt heranzutreten, ist wohl auch der Umstand geschuldet, dass man in Clarks Buch an keiner Stelle auf die Namen von Kierkegaard oder Berger trifft (wenngleich Clark in der Einleitung auch behauptet, er habe vergeblich nach ähnlichen "chronicles" (8) gesucht). Stattdessen lässt der Autor den Leser auf 227 Seiten akribisch an den eigenen Eindrücken teilnehmen, vorgelegt in Form von für die Publikation überarbeiteten, tagebuchartig datierten Notizen, Exzerpten, aber auch Gedichten, die eine Konsequenz von Clarks Überzeugung sind: "[...] and yes, I do think a good poem about Poussin would be the highest form of criticism" (53). Wie in der Einleitung angedeutet, werden dem Leser so auch zuweilen sperrige, der Strenge des sich selbst verordneten Protokolls geschuldete Redundanzen und Widersprüche zugemutet. Denn Clark geht es darum, einen Erkenntnisprozess nachvollziehbar zu lassen, der erst dann zu Fachliteratur greift, wenn er auf eigene Verständnis- und Wissenslücken stößt. Der Autor begibt sich in dem sodann einsetzenden Dialog in Zustimmung wie Widerspruch zu etablierten Größen der Poussin-Forschung, wenn er sich mit deren Standpunkten im Rahmen seiner täglichen Anamnese vor den Originalgemälden kritisch auseinander gesetzt hat. Erfrischend ist dabei, dass Clark selbst von keiner dogmatischen Überzeugung ausgeht, die ihn dazu zwingen würde, anders lautende Meinungen von vorneherein abzulehnen und zu widerlegen, sondern er findet seine eigene Position erst nach und nach. Auf diesem Weg öffnet er auch dem Leser auf anregende Weise die Augen für Details und Eigenarten des Malers (unterstützt von einer klugen Regie der fast durchgehend farbigen, qualitätvollen Abbildungen) und erfüllt so selbst jene Anforderung, die als Kriterium kunstgeschichtlichen Schreibens formuliert (53): "[...] whether it manages to change one's view of the work of art it centers on."
Im Vergleich zu Clarks Buch fallen die beiden Publikationen von Hipp und Unglaub natürlich konventioneller aus (auch wenn Hipps Buch ebenfalls auf eine lang anhaltende Auseinandersetzung mit Poussins "Pest"-Gemälde zurückgeht: Wie die Autorin im Nachwort schreibt, hat sie es 1997 bereits in ihrer Magisterarbeit, 1999 dann in ihrer dem Buch zu Grunde liegenden Dissertation erforscht).
Unglaubs Anliegen ist es, zu zeigen, dass Poussin auf Tasso nicht nur im Hinblick auf darzustellende Sujets zurückgegriffen, sondern auch als maßgebliche Quelle für seine Kunsttheorie genutzt hat. Er kann sich hierbei auf entsprechende, von Anthony Blunt bereits 1964 erbrachte Belege stützen, dass der Maler bei der Formulierung kunsttheoretischer Aussagen tatsächlich Texte Tassos adaptierte.[4] Im Verlauf seines Buches erweist sich Unglaub als ausgesprochen begabt für die Assoziation von Texten und Bildelementen, die er sensibel zu lesen und geschickt zueinander in Beziehung zu setzen weiß. Dabei soll Poussin als ein Künstler deutlich werden, der seine Bilder mit Rekurs auf Tasso und in dessen Umkreis verkehrende Dichter (wie zum Beispiel den Poussin in seiner Frühzeit nachweislich fördernden Giambattista Marino) literalisierte, d.h. in seinen Gemälden Sprachbilder auf raffinierte Weise visuell umsetzte oder aber Gemälde schuf, die in ihrem Verfahren optische Äquivalente zu Poesien darstellen. Um ein Beispiel zu geben: Die Hauptfigur in Poussins Narziss-Gemälde von ca. 1630 wurde bereits von Oskar Bätschmann 1979 auf das Modell einer antiken Statue zurückgeführt, die eines der getöteten Kinder der Niobe darstellt. Unglaub sieht die Wahl dieser dem Mythos zufolge von Apollo und Diana mit Pfeilen erschossenen Figur durch Verse aus Marinos Gedicht "Adone" motiviert, in denen der sich in Selbstliebe verzehrende Narziss unter anderem mit einem sich selbst erlegenden Bogenschützen verglichen wird (75f.). Sehr aufmerksam verfolgt Unglaub auch die Momente, in denen Poussin die von anderen Malern bereitwillig angenommenen Angebote ausschlägt (103f.), die durch ekphrastische Texte in Form von überbordenden Bilddetails unterbreitet werden. Poussin hingegen verweigert die Darstellung eben dieser, seine schöpferischen Horizont einengenden Verse und wendet sich stattdessen lieber den Textstellen zu, die ihn nicht dazu zwingen, Geschildertes einfach abzubilden.
Allerdings fällt auf, dass Unglaub hierbei nicht auch die Beispiele in den Blick nimmt, in denen Poussin weniger rigoros verfährt und alternative Möglichkeiten zur Umsetzung von im Text vorgegebenen Bilddetails findet: Mit Vergils berühmter Schildbeschreibung aus der "Aeneis" konfrontiert, wendet er sich davon nicht etwa ab, sondern führt mit seinen Gemälden "Venus zeigt Aeneas die Waffen" (Toronto und Rouen) innerhalb von drei Jahren gleich zweimal vor, wie man die von den Versen ausgehenden Detailfluten visuell durch eine geschickte Auswahl archäologischer Verweise kontern kann (Unglaub bespricht die Bilder zwar, blendet die Ekphrasisproblematik hier jedoch leider aus, 207ff).
Zuweilen umgeht der Autor auch Forschungserträge, die in seine Argumentation nicht hineinzupassen scheinen: So gibt es zum Beispiel zu der oben erwähnten Ableitung der Pose des Narziss durch Bätschmann den alternativen Vorschlag Blunts [5], deren Vorbild in einem Christus-Gemälde Paris Bordones zu sehen - ein Gedanke, der durch den Umstand Bekräftigung findet, dass Poussin die Körperhaltung tatsächlich auch für den Christus seiner frühen Beweinungsdarstellung (München, Pinakothek) adaptierte. Dies schwächt Unglaubs Verweis auf die Textstelle bei Marino freilich etwas, hätte jedoch gerade daher eine Diskussion [6] umso spannender gemacht (an anderer Stelle - 85 -, wo dies seine Argumentation nicht stört, ist Unglaub hingegen durchaus bereit, zwei verschiedene Vorbilder als ineinander geblendet anzunehmen). Der Vorgang zeigt zugleich, dass der Versuch einer Rückbindung derartiger Bildmotive an literarische Vorbilder die Gemälde Poussins zwar einerseits auf den Horizont einer solchen Text-Rezeption öffnet, andererseits jedoch den Blick auf sie etwas verengt. Dass sie sich einer vollständigen Erschließung durch Texte verweigern, wird daran erkennbar, dass bislang alle Versuche, für Poussins "Reich der Flora" (Dresden, Gemäldegalerie) ein literarisches Vorbild zu finden, erfolglos verliefen - auch Unglaubs neuer, reizvoller Vorschlag (146ff.), Antonio Brunis Gedicht "La Rosa", geht hier letztendlich nicht ganz auf.
Diese grundsätzliche Problematik spitzt sich zudem zu, wenn der Autor in dem Bestreben, die besondere Stellung der Texte von Tasso und seines Umkreises auf die Kunsttheorie Poussins nachzuweisen, andere Quellen gelegentlich vernachlässigt beziehungsweise deren Gewicht nicht gegeneinander abwägt (so mag man zwar die in Poussins Gemälden gezeigten architektonischen und archäologischen Details mit Tassos Begriff vom "eccesso della verità" versuchsweise in Beziehung setzen, doch damit folgt der Maler ebenso gut dem bereits von Alberti in seinem Malereitraktat aufgestellten Gebot der zu zeigenden "copia et varietas rerum" [7]).
Vor allem aber stellt sich der von Unglaub anvisierten Fragestellung die fundamentale Schwierigkeit in den Weg, dass uns Poussins Kunsttheorie nur sehr bruchstückhaft überliefert ist: Was vorliegt, sind lediglich die von Bellori 1672 in seiner Biografie des Künstlers überlieferten Notizen sowie einige Briefe, in denen die entsprechenden Passagen jedoch oft durch konkrete Anlässe motiviert, nicht selten zur Verteidigung geschrieben und daher nur mit Vorsicht zu verallgemeinern sind. Zudem stammen die frühesten dieser erhaltenen Schreiben aus dem Jahre 1637, sodass angesichts dieser Überlieferung ein Rückschluss von diesen Aussagen des reifen bzw. alten Poussin auf die kunsttheoretischen Standpunkte seiner Frühzeit ein prekäres Unterfangen ist, zumal wenn, wie bei Unglaub, die Demonstration angestrebt wird, dass der Künstler sich in den späten 20er und frühen 30er Jahren an den Theorien Tassos und Marinos orientiert habe. Der damit gestellten Herausforderung stellt sich Unglaub allerdings nicht wirklich: Er thematisiert das Problem kaum und verlängert die Ästhetik des späten Poussin bruchlos in seine Jugend zurück. Dies würde allerdings bedeuten, dass der Maler sich im Verlauf seiner Laufbahn auf kunsttheoretischer Ebene kaum noch entwickelt hätte. Dieser statischen Sicht widersprechen jedoch nicht nur die Beobachtungen, die man an Poussins Gemälden gerade der 20er und 30er Jahre machen kann, die eine zum Teil rasante intellektuelle wie stilistische Entwicklung belegen, sondern Unglaub selbst weist immer wieder (vgl. zum Beispiel 156 oder 185) auf die Veränderungen hin, die sich innerhalb der ästhetischen Ideale Poussins und seines Umfeldes zwischen den in den Blick genommenen Schaffensjahren und den späteren theoretischen Äußerungen des Malers vollzogen: ein Widerspruch, den er in seinem alles in allem spannend zu lesenden Buch leider nicht auflöst.
Es zeichnet die von Elisabeth Hipp vorgelegte Monografie zur "Pest von Asdod" aus, dass sie sich demgegenüber der Diskussion und Klärung solcher Probleme umsichtig annimmt. Auch sie zieht Poussins spätere kunsttheoretische Äußerungen zu Rate, um seine ästhetischen Interessen und Zielsetzungen bei der Konzeption und Ausführung des sehr viel früher entstandenen Gemäldes zu rekonstruieren, reflektiert dabei jedoch kritisch (206ff./247) den zeitlichen Abstand zwischen diesen Momenten. Mit Hilfe eines auf dieser Basis eng geführten Vergleiches zwischen den Werken der späten 20er bis frühen 30er Jahre und seinen schriftlich fixierten Aussagen, vermag sie es, die für den in den Blick genommenen Zeitraum gültigen Prinzipien Poussins herauszufiltern (diese Umsicht zeigt sich auch bei ihren Übersetzungen einzelner Leitsätze, die zuweilen gründlicher erwogen sind als diejenigen Unglaubs: Wo dieser zum Beispiel 15 die Briefstelle "Elle [der vom Maler darzustellende Gegenstand] doit être prise noble" einfach als "it must be noble" überträgt, diskutiert Hipp (213, Anm. 128) die verschiedenen, sowohl die aktive Auswahl des Künstlers wie auch die Qualitäten des gewählten Gegenstandes in den Blick nehmenden Aspekte dieser Formulierung).
Die Bezugnahme auf Poussins kunsttheoretische Äußerungen stellt dabei jedoch nur eine von mehreren Stationen dar, die durchschritten werden, um "Funktion(en), Sinngehalt und Wirkungsintention(en) des Bildes so weit wie möglich zu ermitteln" (12). Im Sinne der kunstgeschichtlichen Hermeneutik Bätschmanns (die - gemeinsam mit den Vertretern der "New Art History" - auch direkt zitiert wird), untersucht Hipp das Bild nacheinander im Rahmen unterschiedlicher Fragenkreise zu Bildtradition und künstlerischen Vorbildern, theologischem Gehalt, Erzählstruktur, Werk- und biografischem Kontext, zum zeitgeschichtlichen Umfeld sowie zur Rezeption. Im Zentrum des sich so verdichtenden Gewebes aus oft vielfältig miteinander verschränkten Motivationen und Bedingungen steht dabei stets das "Pest"-Gemälde, über das man bislang viel und wenig zugleich weiß: Sein erster Besitzer sah es nachweislich als bereits begonnenes Werk in der Werkstatt des Künstlers und wünschte dessen Vollendung, um es dann gemeinsam mit dem oben bereits erwähnten "Reich der Flora" zu kaufen, das er auf der Grundlage einer ebenfalls bereits existierenden Zeichnung Poussins bestellte. Beide Bilder stellen also möglicherweise Pendants zueinander dar; fraglich ist jedoch, ob der Maler das "Pest"-Bild tatsächlich auf Vorrat malte oder ob es eventuell von einem erfolglos verlaufenden Auftrag übrig geblieben war.
Auf Grund ihrer Verortung des Gemäldes im zeitgeschichtlichen wie biografischen Kontext gelangt Hipp zu dem Schluss, dass Poussin zur Darstellung des Themas wahrscheinlich durch eine ab 1629 in Oberitalien wütende und Rom langsam näher rückende Pest-Epidemie sowie durch persönliche Erfahrungen von Krankheit und Scheitern angeregt worden war (187ff.). Das Gemälde gab ihm ihr zufolge zugleich die Gelegenheit, "eine Art Experiment im Medium der Historienmalerei" (274) durchzuführen, auf dessen Lehren er später bei der Ausarbeitung nachfolgender Werke zurückgreifen konnte. Zu diesem Ergebnis kommt die Autorin durch einen Vergleich der Arbeits- und Darstellungsweise anderer zur gleichen Zeit tätigen Künstler (Cortona, Velasquez, Bernini), anhand dessen deutlich werde, dass Poussin in dem "Pest"-Bild verschiedene Dinge ausprobierte (so zum Beispiel - 273 - die moralische Interpretation eines antiken Themas im Gewand einer biblischen Geschichte oder den Einsatz bekannter Motive als vom Betrachter zu entschlüsselnde und ihn auf bestimmte Themen verweisende Bildformeln: 140f.). Damit wie mit dem dargestellten Sujet habe der Maler versucht (280), die Aufmerksamkeit eines bestimmten, potenziellen Auftraggeberkreises auf sich zu ziehen, innerhalb dessen Hipp die Gestalt von Giulio Mancini besonders in den Blick nimmt. Mancini, Leibarzt von Urban VIII. und gemeinsam mit Poussins römischem Mäzen Cassiano dal Pozzo Mitglied der mit den Abwehmaßnahmen gegenüber der drohenden Pest-Epidemie befassten Gesundheitskongregation (304), wird von ihr schließlich als ein möglicher Auftraggeber für das "Pest"-Gemälde in Betracht gezogen; da Mancini 1630 starb, wäre das für ihn begonnene Werk unvollendet in Poussins Werkstatt zurück geblieben. Die Autorin versucht dies auch insofern plausibel zu machen, als der zeitgenössische, gebildete Betrachter in dem Bild eben jene Motive wieder finden konnte, die ihm aus Texten (Pest-Traktaten und Korrespondenzen) und Theaterstücken vertraut waren. Auch hinsichtlich des Zwecks dieser Auseinandersetzungen mit der Krankheit - eine affekthaltige Veranschaulichung des von Gott verhängten Leidens mit dem Ziel, Vertrauen in einen möglichen Sinn dieses Übels zu fassen (351) - seien diese Interpretationen der Epidemie miteinander vergleichbar.
Alles in allem gelingt Hipp so eine schlüssige (und mittlerweile von der 2002 abgeschlossenen Dissertation Sheila Barkers sekundierte) [8] Kontextualisierung des "Pest"-Gemäldes, der man nur gelegentlich die lange, in einzelnen Schichten bis in das Jahr 1997 zurückreichende Entstehungszeit anmerkt: Bei der stetigen Erweiterung und Ausarbeitung scheinen so gelegentlich - neben kleinen Fehlern [9] - Textblöcke stehen geblieben zu sein, die im jetzigen Verbund eine Verschlankung vertragen hätten. So kommt eine über fast 20 Seiten geführte Darlegung der Bildtradition der "Pest von Asdod" zu dem in Anbetracht dieses Aufwands etwas mager anmutenden Schluss, dass diese Vorläufer für Poussins Bildfindung größtenteils keine Relevanz hätten. Auch bei der Analyse der in dem Bild wirksamen Dramaturgie wünscht man sich früher den Einstieg in eine konkrete Diskussion zeitgenössischer Peripetie-Theorien (wie diese in dem etwas spät eingeführten Aufsatz von Jacques Thuillier bereits 1967 kompakt erörtert wurden).
Im Hinblick auf ihre interessante Hypothese einer Auftraggeberschaft Mancinis wird sich künftig zeigen, ob sich diese durch Dokumentenfunde erhärten lässt. Für den Moment wäre zu bedenken, dass Mancini zwar die erste biografische Skizze Poussins verfasst hat, darin aber keinerlei Hinweise auf eine persönliche Bekanntschaft oder gar Geschäftsbeziehung unterbringt (wie er dies im Falle anderer Künstler tut). Mehr noch: Ein nur flüchtiger, wo nicht sogar gänzlich fehlender Umgang der beiden scheint durch die Tatsache angedeutet zu werden, dass Mancini in seiner biografischen Skizze drei zentrale Punkte, Geburtsort, Lehrer und Alter betreffend, bis zuletzt unausgefüllt ließ, weil ihm hierzu offenbar keine Angaben vorlagen, die er jedoch im Falle einer persönlichen Bekanntschaft leicht hätte erfragen können (demgegenüber spekuliert Hipp, dass der Ende der 20er Jahre erkrankte Poussin medizinisch von Mancini betreut worden sein könnte, 292). Schließlich sind bislang lediglich An- und Verkäufe von Bildern durch Mancini dokumentiert, nicht jedoch Aufträge an Maler, sodass Poussins "Pest von Asdod" diesbezüglich eine Sonderstellung zukäme.
Wie man sieht, werden mit den Beobachtungen, Überlegungen und Hypothesen von Clark, Hipp und Unglaub neue Fragen und Impulse an die Poussin-Forschung herangetragen, von denen sie künftig im Rahmen einer gründlichen Auseinandersetzung profitieren sollte.
Anmerkungen:
[1] Sören Kierkegaard: Die Wiederholung, Hamburg 2000, 21.
[2] Ebd., 22.
[3] In: John Berger: Das Leben der Bilder oder die Kunst des Sehens, Berlin 1989, 70 - 77.
[4] Anthony Blunt (Hg.): Nicolas Poussin - Lettres et propos sur l'art, Paris 1964, 172f.
[5] Anthony Blunt: Nicolas Poussin, New York 1967, 79.
[6] Auch an anderen Stellen - siehe zum Beispiel 114 und 48ff. - schlägt der Autor Gelegenheiten zu anregenden Diskussionen aus.
[7] Leon Battista Alberti: De pictura, Lib. I, § 40.
[8] Sheila Carol Barker: Art in a time of danger. Urban VIII's Rome and the plague of 1629 - 1634, 2002 (Ann Arbor, Mich. 2003). Barker streicht dort (301 - 311) den Pendantcharakter von "Pest" und "Flora" stärker hervor als Hipp dies tut. Vgl. auch den Aufsatz von Barker: Poussin, Plague, and Early Modern Medicine, in: Art Bulletin, December 2005, Vol. LXXXVII, No. 4, 659 - 689.
[9] Neben einigen irrigen Seitenangaben (z.B. 213, Anm. 128: 370 statt 373) und Publikationsdaten (432: Blunt 1958 statt Blunt 1967) stimmen einige Abbildungsverweise nicht (so z.B. 102, Abb. 46 statt 26; 105, Abb. 39 statt 40); auf Seite 106 wird die Geschichte von Cleobis und Biton in missverständlicher Weise referiert.
Henry Keazor