Stefanie van de Kerkhof: Von der Friedens- zur Kriegswirtschaft. Unternehmensstrategien der deutschen Eisen- und Stahlindustrie vom Kaiserreich bis zum Ende des Ersten Weltkrieges (= Bochumer Schriften zur Unternehmens- und Industriegeschichte; Bd. 15), Essen: Klartext 2006, 480 S., ISBN 978-3-89861-516-7, EUR 33,00
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Das Hauptinteresse der 2003 an der Kölner Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät angenommenen Dissertation gilt der Frage, ob sich das strategische Handeln von Unternehmen im Krieg und im Frieden voneinander unterschied. Mit der Eisen- und Stahlindustrie wählt van de Kerkhof ein Untersuchungsfeld aus, das wie kein anderes mit den politischen und militärischen Interessen des deutschen Kaiserreichs verflochten war.
Die vorliegende Arbeit ergänzt die Studien von Ulrich Wengenroth, der die effiziente Nutzung des technischen Fortschritts in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im deutsch-britischen Vergleich betrachtete [1], und Christian Kleinschmidt, der dieses Thema am Beispiel der Ruhrindustrie und mit einem Schwerpunkt auf Technologie- und Wettbewerbsstrategien weiter verfolgte [2]. Demgegenüber leistet van de Kerkhof eine räumliche und inhaltliche Erweiterung: Sie bezieht die Montanreviere an der Saar (mehrfach ahistorisch als "Saarland" bezeichnet) und Oberschlesien mit ein und lenkt den Blick vor allem auf die Expansionsabsichten der Unternehmen.
Mit Hinweis auf die militärische Herkunft des Strategiebegriffs baut die Verfasserin eine Brücke zur Thematik ihrer Untersuchung. Sie legt den Begriff mit einer gewissen Breite aus, denn sie möchte ihn keinesfalls auf Technologiestrategien verengt sehen. Demzufolge wird er in ein Sample weiterer Teilfelder eingebettet: Produktions-, Finanzierungs-, Personalstrategien, darüber hinaus aber auch Internationalisierungs- und Marktentwicklungsstrategien, die auf eine Veränderung der Rahmenordnung, d. h. der Marktbedingungen, zielen. Viele entsprechende wissenschaftliche Ansätze werden aufgezählt, obgleich sie in die folgende Darstellung gar nicht einfließen. Im Verhältnis zur Ausführlichkeit der Literaturdiskussion fällt die Darstellung ihres eigenen Ansatzes indes knapp aus.
Zur Einführung in die eigentliche Thematik legt van de Kerkhof eine ausführliche Präsentation der Markt- und Unternehmenssituation im Kaiserreich vor, die u. a. auf veraltete Konzepte wie die Rostow'sche "Take off"-Theorie eingeht. Das statistische Material wird umfangreich ausgebreitet. Es sticht hervor, dass die 27 Eisen- und Stahlunternehmen im Jahr 1907 mehr als ein Viertel der 100 größten deutschen Aktiengesellschaften bildeten. Innerhalb dieser großen Menge werden die Friedrich Krupp AG und die Vereinigte Königs- und Laurahütte AG des oberschlesischen Magnaten Henckel von Donnersmarck besonders ausführlich gewürdigt.
Das Erreichen des Stadiums des reifen Marktes legte für die Eisen- und Stahlbranche bereits vor dem Ersten Weltkrieg den Anreiz für Expansionsstrategien, z. B. die pénétration pacifique durch Erwerb von Unternehmen und Unternehmensteilen im Ausland. Die Stahlunternehmen bemühten sich weltweit um die Erschließung von Erzvorkommen und richteten ihre Absatzstrategien international aus, indem sie sich etwa für koloniale Aktivitäten interessierten. Trotz dieser Internationalität gab es in der Branche starke Neigungen zur Kartellbildung, die in der Gründung des Deutschen Stahlwerksverbandes im Jahr 1904 gipfelten. Schließlich wendet sich ein Abschnitt den politischen Ambitionen einzelner Unternehmerpersönlichkeiten zu und erschließt damit ihre Bedeutung für die politische Kultur des Kaiserreiches.
Die Wachstumsstrategien im Ersten Weltkrieg werden besonders bei der Friedrich Krupp AG untersucht. Die Hochkonjunktur führte zu immensen Ausbauten, insbesondere im Zuge des Hindenburg-Programms, was nicht nur den Bau neuer Werksanlagen meinte, sondern auch zu Beteiligungen im Ausland, z. B. an den schwedischen Erzgruben, führte. Die Verfasserin zeichnet detailliert den Einfluss der Steuer- und Abschreibepraktiken auf die Gewinnentwicklung nach. Die Engpässe im Beschäftigungssektor wurden durch das Arbeitspotenzial der Frauen sowie durch den Arbeitseinsatz ausländischer Kriegsgefangener geschlossen. Die Überkapazitäten in kriegswichtigen Bereichen waren häufig nicht in die Friedensproduktion zu überführen, sodass nach dem Waffenstillstand hohe Demobilisierungskosten entstanden.
Manche Wirtschaftsstrategien waren nur unter der Vorstellung rational, dass das Deutsche Reich den Krieg siegreich beende, wie Hugo Stinnes dies noch 1917 erwartete, und dann als Weltmacht dauerhaft in kriegerische Konflikte einbezogen sei. In diese Richtung wiesen zum Beispiel die Versuche deutscher Schwerindustrieller, Absatzmärkte in der besetzten Ukraine zu erschließen. Es wurde eine deutsche Wirtschaftsstelle für die Beschaffung errichtet, die Vorkehrungen für den Fall eines "Wirtschaftskrieges nach dem Krieg" zu treffen hatte. Die Sorge galt der Lieferung von Erdöl und türkischer Steinkohle über die Ukraine. Deutsche Unternehmen, v. a. der Eisen- und Stahlbranche, beteiligten sich noch 1918 an der Gründung einer ukrainischen Ausfuhr GmbH. Zwar kann man diese Aktivitäten als eine Internationalisierung von Marktstrategien bezeichnen (349), die sich jedoch nur unter dem Schirm der militärischen Besetzung entwickeln konnte. Unter dem Primat des Politischen standen auch die Pläne zur Annexion von Teilen Nordfrankreichs. Es wird deutlich, dass die Internationalisierungsstrategien stets mit dem Streben nach Suprematie und territorialer Expansion einhergingen. Kontinuitätslinien werden in der Tat von 1870/71, dem "Griff nach der lothringischen Minette", bis zu den Plänen des Ersten Weltkriegs 1918 sichtbar.
Als wesentliches Ergebnis präsentiert van de Kerkhof, dass die Expansionsstrategien von den Eisen- und Stahlindustriellen mit großer Kontinuität verfolgt wurden. Wie gezeigt, ist dieser Argumentation durchaus zu folgen, doch relativiert die Verwendung von Begriffen wie "Internationalisierung" die entscheidende Bedeutung, die der militärischen Aggression als Voraussetzung zur Umsetzung dieser Unternehmensstrategien zukam. Auch die Abgrenzung der Kriegs- von der Friedenswirtschaft sieht die Verfasserin nicht so ausgeprägt: Im Ersten Weltkrieg blieben marktwirtschaftliche Elemente, mehr als die Forschung es bislang gesehen hat, von grundlegender Bedeutung, denn die Einschränkung von Teilmärkten und die Versuche zur Rohstoffbewirtschaftung bildeten eher eine Ausnahme. Sicherlich wäre für das Buch eine Straffung ratsam gewesen, die eine zielgerichtete Verfolgung der grundlegenden Fragestellungen ermöglicht hätte. Manche Teile wirken zu stark wie eine aufzählende, wirtschaftlich informierte Betrachtung verschiedener Unternehmenssituationen.
Anmerkungen:
[1] Ulrich Wengenroth: Unternehmensstrategien und technischer Fortschritt. Die deutsche und die britische Stahlindustrie 1865-1895 (= Veröffentlichung des Deutschen Historischen Instituts London, Bd. 17), Göttingen 1986.
[2] Christian Kleinschmidt: Rationalisierung als Unternehmensstrategie. Die Eisen- und Stahlindustrie des Ruhrgebiets zwischen Jahrhundertwende und Weltwirtschaftskrise (= Bochumer Schriften zur Unternehmens- und Industriegeschichte, Bd. 2), Essen 1993.
Marcel Boldorf