Rezension über:

Beate Binder / Silke Göttsch / Wolfgang Kaschuba / Konrad Vanja (Hgg.): Ort. Arbeit. Körper. Ethnografie Europäischer Modernen. 34. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde, Berlin 2003 (= Schriftenreihe Museum Europäischer Kulturen; Bd. 3), Münster: Waxmann 2005, 566 S., ISBN 978-3-8309-1530-0, EUR 34,90
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Rezension von:
Norbert Finzsch
Anglo-Amerikanische Abteilung, Universität zu Köln
Redaktionelle Betreuung:
Maren Lorenz
Empfohlene Zitierweise:
Norbert Finzsch: Rezension von: Beate Binder / Silke Göttsch / Wolfgang Kaschuba / Konrad Vanja (Hgg.): Ort. Arbeit. Körper. Ethnografie Europäischer Modernen. 34. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde, Berlin 2003, Münster: Waxmann 2005, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 4 [15.04.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/04/9062.html


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Beate Binder / Silke Göttsch / Wolfgang Kaschuba / Konrad Vanja (Hgg.): Ort. Arbeit. Körper.

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Unter dem programmatischen Titel "Ort - Arbeit - Körper. Ethnografie Europäischer Modernen" fand an der Humboldt-Universität zu Berlin im Oktober 2003 der 34. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde statt. Die Herausgeberinnen und Herausgeber dokumentieren die Plenarvorträge, Panels und Sektionen des Kongresses in 60 Beiträgen, die unabhängig von Länge und Qualität in dem vorliegenden umfangreichen Sammelband abgedruckt wurden.

Das Unterthema "Ethnografie Europäischer Modernen" verweist auf die veränderte Selbstwahrnehmung des Faches Volkskunde, die seit etwa 15 Jahren betrieben wird und unter anderem das Fach vom ausgesprochenen oder unausgesprochenen Verdacht befreien soll, ein Hort völkisch-nationaler Ideologien zu sein. Immer häufiger benennen sich ja "Institute für Volkskunde" in "Institute für Europäische Ethnologie" um. Viel mehr als nur um eine Umetikettierung geht es dabei allerdings um die Neuerfindung des Fachs im Kontext der poststrukturalistischen Wenden.

Dem Rezensenten obliegt es nicht, die Entwicklungen einer benachbarten und für die Geschichtswissenschaft höchst anregenden Disziplin kritisch zu beleuchten, doch scheint es mir, als ob diese Neupositionierung die Volkskunde auch gefährlich nah an die allgemeine Ethnologie oder die cultural anthropology anglophoner Provenienz heranführen. In den USA firmiert das Pendant der Volkskunde, die folklore, deshalb ja auch immer häufiger als cultural anthropology.

Wäre da nicht die bewusste thematische Beschränkung auf konstitutive Prozesse der europäisch geprägten Modernen - so könnte man tatsächlich fragen, ob es nicht sinnvoll wäre, allgemeine Ethnologie und europäische Ethnologie als ein und dasselbe Fach zu betrachten. Begriffe wie "Ort - Arbeit - Körper" stehen für zentrale programmatische Entwürfe, die Identitäten und Ausgrenzungen, Praktiken und Diskurse der Menschen in der Moderne bestimmt und abgestützt haben. Insofern hat der Band eine hohe wissenschaftliche Relevanz auch da, wo die Einzelbeiträge hinter den hoch gesteckten Erwartungen zurückbleiben.

Es ist bei der Breite der Themen und der schieren Zahl der Beiträgerinnen und Beiträger schlicht unmöglich, in eine Einzelkritik einzutreten. Besonders gut gefallen haben mir die Beiträge von Heinz-Gerhard Haupt, Angela McRobbie, Stefan Beck, und pauschal das gesamte Panel zu Körpermodellierungen. Haupt gelingt es auf knappem Raum eine grundsätzliche Herleitung der Verräumlichung des Nationalen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts abzuleiten. Dabei steht die Territorialisierung des Nationalen genauso im Mittelpunkt wie seine Deterritorialisierung. McRobbie brilliert mit einem Exposé ihres Forschungsprojekts zu den Londoner Kleinunternehmen im Kultursektor. Hier wird deutlich, wie breit die Verfahren angelegt sein müssen, will man ein derartiges Projekt erfolgreich durchführen. Beck beschäftigt sich im Rahmen eines Panels mit den Objektivierungen des Körpers im Rahmen eines Reformstudiengangs an der Charité. Hier gefällt vor allem der hohe Grad an theoretischer und methodologischer Reflexion, der kritisch auf den Begriff des Holismus abhebt.

Das Panel zu Körpermodellierungen mit Beiträgen von Tatjana Eggeling, Elke Gaugele, Dagmar Hänel und Birgit Spieß schafft es auf mitreißende Weise, die Frage nach dem Körper als "Rohmaterial" für Einschreibungen zu thematisieren. Allerdings vermisst man hier (wie auch in der Diskussion um den "Ort" und das Territorium) schmerzlich die Auseinandersetzung mit theoretischen Ansätzen aus dem Umfeld Felix Guattaris und Gilles Deleuzes.

Misslungen sind in meinen Augen besonders die Beiträge von Annemarie Gronover zu religiösen Körperpraktiken und Guido Fackler zur "Vernichtung des gefangenen Körpers" im KZ, der sich durch nonchalantes Nicht-zur-Kenntnis-Nehmen der neueren und internationalen historiografischen Forschung auszeichnet. Unerklärbar ist im Kontext der "Vernichtung des gefangenen Körpers" auch das Hinweggehen über die "Todesmärsche" gegen Ende des NS-Regimes. Bei Gronover ist sich die Leserin und der Leser nie im Klaren darüber, wer hier eigentlich spricht. Ist es die Sozial- oder Kulturwissenschaftlerin, die eine Körperpraxis darstellt und untersucht, oder die "beobachtende Teilnehmerin", die sehr viel betroffene Teilnahme und sehr wenig distanzierende Beobachtung erkennen lässt?

Mein Hauptgravamen richtet sich jedoch an die Herausgeberinnen und Herausgeber. Mich interessiert, warum ein so qualitativ unausgewogener und exzentrischer Band konzipiert worden ist, der einerseits wichtigen Diskussionen relativ wenig Raum lässt, andererseits durch die Vielzahl der angesprochenen, aber nicht zur Genüge ausgeführten Themenbereiche den Eindruck des Halbfertigen nicht überwindet. Viel öfter und ausführlicher hätte ich mir Einführungen in die allgemeinen Problematiken erhofft, so wie sie von Regina Bendix zum Thema "Ort" und von Michi Knecht und Stefan Beck zum Thema "Körper" verfasst worden sind. Oder sollte der Band aus sich heraus gar nicht verständlich sein? War er gar als tragbarer Lieu de Mémoire gedacht für diejenigen Eingeweihten, die am denkwürdigen Ereignis dieses Kongresses haben teilnehmen können?

Den Eindruck des Halbgaren vermittelt auch die lieblose Edition (wofür der Verlag zu rügen ist). Fußnoten und Zitationen sind nur teilweise vereinheitlicht, Schreibweisen differieren, URLs werden unvollständig angegeben oder verlaufen im Nirwana des globalen Netzes. "Etwas mehr Professionalität" möchte man rufen. Immerhin kostet das über 560 starke Werk fast 35 Euro. Ob es sich bei diesem Preis-Leistungs-Verhältnis allerdings außerhalb der Seminar- und Universitätsbibliotheken jemand leisten kann, das Buch zu kaufen, sei dahingestellt.

Norbert Finzsch