Carlo Gébler: The siege of Derry. A History, London: Little, Brown Book Group 2005, 364 S., ISBN 978-0-316-86128-1, GBP 18,99
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Eigentlich und gemessen an den üblichen Belagerungen dieser Zeit wäre das, was sich im Jahr 1689 in und um der irischen Stadt Derry bzw. heute offiziell Londonderry (der Name ist nach wie vor zwischen Unionisten und irischen Nationalisten umstritten) zugetragen hat, kaum mehr als eine Fußnote in Überblicksdarstellungen zur englisch-irischen Geschichte wert. Eine schlecht und unmodern befestigte Stadt, die von einer aus improvisierten Truppen bestehenden, in vielem schlecht ausgerüsteten und zum Teil auch schlecht geführten protestantischen Besatzung gehalten wurde, wurde von einer ebenfalls schlecht ausgerüsteten und geführten katholisch-jakobitischen Armee angegriffen, nachdem der Protestant Wilhelm von Oranien den Katholiken James II. im Jahr zuvor vom englischen Thron vertrieben hatte und letzterer sich nur noch in Irland hatte halten können. Nach den Ansichten der Zeit hätte Derry sich alsbald ergeben müssen, wenn möglich mit freiem Abzug der Besatzung, denn seine Lage war im Grunde aussichtslos, und man vermied damals üblicherweise Kämpfe bis zur letzten Patrone.
Die Stadt verteidigte sich jedoch über 100 Tage lang unter hohen Verlusten auf beiden Seiten und hielt schließlich so lange durch, bis per Schiff Lebensmittel und Vorräte aus England geliefert werden konnten. Daraufhin gaben die Jakobiten die Belagerung auf, denn es war ihnen nicht gelungen, die gewaltsame Einnahme der Stadt mit Aussicht auf Erfolg vorzubereiten, etwa durch Schießen einer Bresche in die Mauer oder durch Vorantreiben von Gräben bis unmittelbar in die Nähe der Verteidiger. Sie hatten statt dessen ganz auf Zermürbung durch Beschuss, Hunger und Krankheiten gesetzt und mit dem Eintreffen des Entsatzes diese Option verloren, zumal auch die jakobitischen Truppen unter Ausrüstungsmängeln und Versorgungsengpässen litten. Sie zogen ab, und damit war eine Wende im Kampf um Irland erreicht, denn die Protestanten hatten nun einen festen Brückenkopf, von dem aus sie im folgenden Jahr zur endgültigen Vertreibung der Jakobiten von der Insel ansetzen konnten.
Doch mehr noch als eine militärische war mit dem erfolgreichen Standhalten Derrys eine moralische Kriegswende erreicht, die allein die monografische Betrachtung der Belagerung rechtfertigt. Die Erinnerung an die Kämpfe wurde schon unmittelbar nach ihrem Ende auf protestantischer Seite zum Mythos verklärt, hier habe man sich mit Gottes Hilfe gegen die katholische Übermacht behauptet. Dieser Mythos wirkt in Irland bis heute nach, und nicht zufällig trug sich der "Bloody Sunday" im Jahr 1972 in Londonderry zu, das spätestens seit 1689 so etwas wie eine Frontstadt zwischen Protestanten und Katholiken darstellte. Dass jedoch die Kämpfe 1689 mit aller Härte und Konsequenz ausgefochten wurden, ist seinerseits nur durch die lange Vorgeschichte der Kolonisierung und Unterdrückung Irlands durch England seit dem Mittelalter zu verstehen, zu der sich seit dem 16. Jahrhundert noch der konfessionelle Gegensatz gesellte, ohne dass die Frontlinien immer exakt entlang ethnischer und religiöser Grenzen verlaufen wären. Der Hass zwischen den Parteien entlud sich im Zuge des englischen Bürgerkrieges im 17. Jahrhundert in wechselseitigen Übergriffen bis hin zu tatsächlichen oder auch nur in der öffentlichen Wahrnehmung existierenden Massakern. Die Verteidiger Derrys waren 1689 aufgrund dieser Erfahrungen jedenfalls davon überzeugt, siegen oder sterben zu müssen, und so erklärt sich die ausdauernde Verteidigung.
Träger dieser Haltung waren jedoch nur zum Teil führende Schichten oder politische und militärische Eliten in Derry. Im Gegenteil waren offenbar nicht wenige ihrer Angehörigen nach den ihnen wohlbekannten Maßstäben der Zeit davon überzeugt, dass Widerstand aussichtslos sei und man deshalb ein Übereinkommen mit den Jakobiten suchen sollte. Es waren dann Soldaten und die durch zahlreiche Flüchtlinge aus dem Umland stark angeschwollene Bevölkerung Derrys, die in ihrer Masse protestierten und vermeintliche "Verräter" regelrecht bedrohten und damit solchen Verhandlungslösungen immer wieder eine Absage erteilten. Das begann schon mit dem ersten Akt des Widerstands gegen James II., nämlich mit einer von Lehrjungen durchgeführten Schließung der Stadttore vor einem jakobitischen Regiment, das als Garnison in die Stadt verlegt werden sollte. Die Befürchtung, dass sich die Eliten persönlich retten könnten, während die Masse der Wut des Gegners preisgegeben würde, war dann immer wieder Antrieb einer auch von unten gelenkten Politik, die eine vertiefte Untersuchung im Hinblick auf ihre Funktionsweise wert wäre.
Umgekehrt würde man gerne mehr über die erstaunten Reaktionen der Eliten auf beiden Seiten der Stadtmauer erfahren, denn während die führenden Köpfe in Derry stark in ihrer Handlungs- und Entscheidungsfreiheit eingeschränkt waren, zum großen Teil auch nur durch den Volkswillen in ihre leitenden Stellungen gelangen konnten, mussten die führenden Männer außerhalb der Mauern feststellen, dass der Gegner sich nicht an die Spielregeln hielt und damit herkömmliche militärische Methoden versagen mussten. Als Reaktion darauf verschärfte man auch im katholischen Lager den Kurs in einer erschreckend modernen Art und Weise, insbesondere als Protestanten im Umland gefangen wurden und in die Stadt getrieben werden sollten, um dort die Hungerkrise zu verschärfen. Die Mechanismen, Einflüsse und Denkweisen, die zu solchen Handlungen führten, müssten noch einmal genau untersucht werden.
Carlo Gébler beschreibt die Ereignisse auf der Basis publizierter Quellen, beginnend mit der mittelalterlichen Vorgeschichte und endend mit der heutigen Zeit. Der aus Nordirland stammende Verfasser ist kein Historiker, sondern hauptsächlich Autor fiktionaler Literatur und Filmemacher. Das erklärt manche Schwäche des Buchs, die aus professioneller Sicht auszumachen ist. Insbesondere ist er zwar sichtlich um Objektivität bemüht, aber bei der Benutzung der zeitgenössischen Publikationen nicht immer in der Lage, sorgfältige Quellenkritik zu betreiben. Vor allem der Umgang mit den Zahlenangaben ist bisweilen sehr sorglos. Sicher fehlen auch die Auswertung archivischer Quellen sowie die Einbeziehung aktueller Diskussionen in der Forschung. Jedoch wendet sich Gébler nicht unbedingt an die wissenschaftliche Fachwelt, sondern an ein Laienpublikum, das er insgesamt durchaus zuverlässig und auch gut lesbar mit einer komplizierten und für sein nordirisch-englisches Publikum bis heute aktuellen Materie vertraut macht, ohne daran vertiefende wissenschaftliche Betrachtungen anknüpfen zu wollen. Anregend und für einen Einstieg zu empfehlen ist die Lektüre des Buches jedoch auch für Wissenschaft und Studium.
Max Plassmann