Horst Johannes Tümmers: Der Rhein. Ein europäischer Fluss und seine Geschichte, 2., überarb. u. akt. Aufl., München: C.H.Beck 1999, 479 S., 64 Abb., ISBN 978-3-406-44823-2, EUR 19,90
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Christoph Bernhardt: Im Spiegel des Wassers. Eine transnationale Umweltgeschichte des Oberrheins (1800-2000), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2016
Lucien Febvre: Der Rhein und seine Geschichte. Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort von Peter Schöttler, 3., durchgesehene Aufl., Frankfurt/M.: Campus 2006
Thomas M. Lekan: Our Gigantic Zoo. A German Quest to Save the Serengeti, Oxford: Oxford University Press 2020
Bernd-Stefan Grewe: Der versperrte Wald. Ressourcenmangel in der bayerischen Pfalz (1814-1870), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2004
Ellen Franke: Von Schelmen, Schlägern, Schimpf und Schande. Kriminalität in einer frühneuzeitlichen Kleinstadt - Strasburg in der Uckermark, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2013
Friedrich Jaeger (Hg.): Enzyklopädie der Neuzeit. Band 1: Abendland - Beleuchtung, Stuttgart: J.B. Metzler 2005
Thomas Schwabach: Die Schwieren-Chronik aus Zons. Bemerkenswertes aus einer niederrheinischen Kleinstadt und ihrer Umgebung, 1733-1823, Dormagen-Zons: Kreisheimatbund Neuss 2005
Horst Johannes Tümmers' Buch resultierte dem Vorwort zufolge "aus der eigenen Anschauung dessen, worüber ich schrieb" (11): Ab 1985 unternahm Tümmers Wanderungen vom Quell- zum Mündungsgebiet des rund 1.320 Kilometer langen Rheins und hielt mittels eines Diktiergeräts seine Beobachtungen fest, um sie in achtjähriger Arbeit zum Buch zu formen. Der 1926 geborene Verfasser, der von Haus aus Kunsthistoriker ist und als Leiter der (bis 1994 sogenannten) Stadtbücherei Köln fungierte, wollte allerdings weder durch "Momentaufnahmen" noch seinen "kunsthistorischen Gartenzaun" beschränkt bleiben. Stattdessen hatte er vor, ein fachübergreifendes, einem größeren Leserkreis zugängliches, gegenwartskritisches Buch über den 'ganzen' Rhein und möglichst viele relevante Themenfelder zu schreiben, denn an Gesamtdarstellungen dieser Façon mangelte es bis dahin in der Tat (11).
Dass die erste Auflage von 1994 mit der hier besprochenen von 1999 in einer aktualisierten Version vorliegt, spricht sicher auch für den verlegerischen Erfolg des Buchs. Inzwischen ist es freilich auch deshalb nicht als neu zu bezeichnen, weil es im Wesentlichen der Erstauflage entspricht. Die als Jahrhunderthochwasser firmierenden Rheinüberflutungen von 1993 und 1995 sind zwar in einem Nachwort berücksichtigt, Änderungen im Haupttext aber offenbar ausgeblieben. So ist Lucien Febvres "Le Rhin" bedauerlicherweise nur in einer Endnote erwähnt (418), obwohl das Buch 1995 erstmals in deutscher Sprache erschien, überdies in der 1935 überarbeiteten Erstfassung von 1931 seit Langem im Original zugänglich ist. Gar nicht zur Kenntnis genommen wurde übrigens die in Deutschland allerdings kaum rezipierte Essaysammlung "Une histoire du Rhin" von Pierre Ayçoberry und Marc Ferro. [1]
Tümmers ist es - das ist vorwegzuschicken - auf beeindruckende Art und Weise gelungen, ein generalistisches, im besten Sinne gelehrtes, informatives und nicht zuletzt aufrüttelndes Buch zu schreiben. Man muss es nicht unbedingt an der Tiefe der Forschungsrezeption messen, und noch weniger wäre es gerecht, ihm strenge methodische Stringenz und inhaltliche Vollständigkeit abzuverlangen. Die selbst formulierte Aufgabenstellung, "acht Gegenstände" zu beleuchten, namentlich "Mythologie; Geologie; Hydrologie; Flußmorphologie; deutsch-französische Geschichte; Rheinromantik; Wirtschaft und Industrie, Schiffahrt und Verkehr; Ökologie" (12), macht schließlich die Problematik der Themenbeherrschung in einem doppelten Sinne deutlich. Je weiter nämlich das sachliche und chronologische Blickfeld, desto stärker ist nicht nur die Kompetenz des Verfassers herausgefordert, sondern desto stärker droht auch die Gefahr einer thematischen Asymmetrie, wo nämlich Forschungsstand und nicht zuletzt schiere Platzgründe eine eingehende Problembehandlung nicht zulassen.
Tümmers entschied sich gegen Themenquerschnitte und für eine dem Rhein geografisch folgende Strukturierung seines Buchs. Nach einem einleitungsartigen kurzen Kapitel über "Mythos und Wirklichkeit" der Rheinquellen folgt die Gliederung den (im Einzelnen freilich nicht immer unumstrittenen) geologischen Hauptabschnitten des Flusses Vorder-, Hinter- und Alpenrhein (28-63), Bodensee (64-82), Hochrhein (82-109), Oberrhein (110-193), Mittelrhein (194-298), Niederrhein (299-366) und Mündungsgebiet (367-397). Die thematische und geografische Gliederung verweist deutlich darauf, dass das Buch nicht als eine "Geschichte" im engeren fachdisziplinären Sinne zu lesen ist. Es geht also um einen klar definierten naturhaften Gegenstand, während der Fokus der klassischen geschichtlichen Landeskunde stets auf den sogenannten Kulturraum ausgerichtet war.
Im Vordergrund steht hier vielmehr der Fluss als solcher und das Spektrum der mit ihm unmittelbar assoziierbaren Aspekte: Geologie und Hydrologie, die menschliche Nutzung als Energiequelle, als Verkehrs-, Transport- und Abfallweg, die Veränderung des Wasserwegs und der Ufer, Verschmutzung, Eindämmung und Überflutung, weiter: die geistige und künstlerische Rezeption, die unmittelbare Anrainerschaft, der internationale Streit um die Beherrschung, die Attraktivität für Freizeitgestaltung und Tourismus u. v. m. Leicht ließe sich in historischer Sicht mehr fordern, etwa zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte, zu kulturellen Lebensformen im Allgemeinen oder zur Raum bildenden Funktion des Rheins in den ihm anhängenden Landschaften. Vielleicht wäre es - im Gegenteil - aber sogar günstiger gewesen, die Betrachtung noch konsequenter auf die Geschichte des Flusses zu richten, "seine Geschichte" also noch enger zu fassen. Schließlich scheint es angesichts der heutzutage ziemlich evidenten Nichtexistenz eines 'Kulturraums Rheinland' zweifelhaft, ob eine Verflechtung von Natur- bzw. Umwelt-, Kultur- und Gesellschaftsgeschichte des Rheins in einem Gesamtwerk methodisch machbar und überhaupt wünschenswert ist. [2]
Da Tümmers zwar keine Kulturraumgeschichte zu schreiben, zumindest in jedem Abschnitt aber immer wieder einen Katalog unterschiedlicher Themen zu reflektieren hatte, mäandriert die Darstellung zeitweilig thematisch wie chronologisch recht stark, und die Ausführungen bleiben sehr an der Oberfläche, wenn z. B. in einem fünfseitigen Abschnitt (317-321) zur Frage der Geschlossenheit des Rheinlandes vom Neandertaler bis zur Entwicklungsplanung in bundesrepublikanischer Zeit gehandelt wird. Vielleicht wäre es doch sinnvoller gewesen, diese Windungen hier und da zu begradigen und thematisch durchgängige Abschnitte einzuziehen, beispielsweise zu historischen Veränderungen des Flusslaufes oder zu den zentralen Herrschaftskonstellationen entlang des Rheins.
Tümmers' Schilderungen sind von großer Empathie gegenüber dem Untersuchungsgegenstand geprägt. Er nimmt sich nämlich von Anfang an vor, im Sinne des Rheins und seiner "Leidensgeschichte" "parteiisch" zu sein (11 f.). Der Verfasser bemüht sich zwar trotz der von ihm beklagten großen Umweltkatastrophen des Rheins (v. a. des Großbrandes bei "Sandoz" 1986) und der ungezählten diskreten Verschmutzungen im industriellen Alltag um Nüchternheit und versagt den Anstrengungen von Politik und Industrie in jüngerer Zeit um den Schutz des Flusses nicht die Anerkennung. Dennoch erscheint seine von ökologischem Bewusstsein und ästhetischer Wahrnehmung geleitete Geschichte des Rheins als eine Verlustgeschichte. Somit verwundert nicht, dass insbesondere diejenigen Passagen, die die Belastung und Regulierung des Rheins seit der Industrialisierung nachzeichnen, von einer sarkastisch anmutenden Diktion getragen sind, etwa auf den letzten Abschnitten "Rotterdam: Der letzte (sic!) beißt die Hunde" (387-393) und "Er endet, wie er beginnt, kanalisiert" (393-396).
Das 1997 fertig gestellte Sturmflutwehr ("Maeslantkering"), mit dessen Beschreibung Tümmers' Buch schließt, wird eines Tages womöglich nicht mehr das Ende des Flusses markieren, sollten nämlich die durch den Klimawandel bzw. den Anstieg der Meeresspiegel bedingten aktuellen Pläne verwirklicht werden, die Hauptrinne des Rheins am "Niuwe Waterweg" bei Hoek van Holland über "Nederrijn" und Ijssel zum höher gelegenen Ijsselmeer hin zu verlegen. Hier hat die aktuelle Entwicklung das Buch also womöglich bereits eingeholt - und doch dessen Prämisse bestätigt: "Alles fließt." (11) - will sagen: Der Rhein ist gleichzeitig Naturlandschaft wie Kulturlandschaft und unterliegt somit fortwährend der Veränderung durch komplexe, menschlich induzierte und teilweise auch rein naturbedingte Wirkkräfte.
Statik und Dynamik dieser Veränderungen aufzuzeigen, ist das große Verdienst dieses sehr gut lesbaren Buchs, das unter dem Strich viel mehr oder auch gänzlich anderes bietet, als es die biedermeierzeitliche Rheinfalldarstellung auf dem Umschlagbild des Taschenbuchs vermuten ließe: eine mehrperspektivische Darstellung im Überschneidungsfeld von Kultur- und Umweltgeschichte. Ihr sind ungeachtet der ihr zugrunde liegenden methodischen Problematik und ihres relativ weit zurückliegenden Publikationsjahr nach wie vor viele Leserinnen und Leser zu wünschen.
Anmerkungen:
[1] Lucien Febvre: Le Rhin. Problèmes d'histoire et d'économie", 1. Aufl. Paris 1935, erste dt. Aufl. hg. von Peter Schöttler: Der Rhein und seine Geschichte, Frankfurt a.M. 1995; s. hierzu die Rezension von Norbert Franz, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 5, URL: http://www.sehepunkte.de/2007/05/11179.html
[2] Vgl. hierzu Katharina Simon-Muscheid / Christian Simon: Umweltgeschichte des Rheins. Ökohistorische Zugriffe in der gesellschaftlichen Dimension, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte 23 (2005), 35-54; übergreifend jetzt: Nils Freytag: Deutsche Umweltgeschichte - Umweltgeschichte in Deutschland. Erträge und Perspektiven, in: Historische Zeitschrift 283 (2006), 383-407.
Stephan Laux