Regine Prange: Die Geburt der Kunstgeschichte. Philosophische Ästhetik und empirische Wissenschaft, Köln: Deubner Verlag 2004, 224 S., 72 Abb., ISBN 978-3-937111-06-3, EUR 19,80
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Galt die frühe Geschichte der eigenen Wissenschaft lange Zeit als randständige Aufgabe für Kunsthistoriker, so haben die in den letzten Jahren rasant zunehmenden Forschungen zur Kunsthistoriografie des 18. und 19. Jahrhunderts den Nachweis erbracht, dass die maßgeblichen Begriffe und Methoden der Disziplin bereits vor 1900 ausgeprägt worden sind und die Fachdiskurse noch heute zumeist unbewusst, aber nachhaltig bestimmen. Damit steht zwar die Relevanz dieser Untersuchungen außer Zweifel, doch sorgen die Gegenwartsbezüge keineswegs für größere Klarheit in dem Forschungsgebiet, dessen außerordentliche Komplexität durch die neuen Einzelstudien mehr und mehr enthüllt wird. Was liegt daher näher, als in einer großen Synthese den aktuellen Wissensstand zusammenzufassen, um die Geschichte der Kunstgeschichte gegenüber den überholten älteren Überblicksdarstellungen, wie derjenigen Udo Kultermanns, in gänzlich neuem Gewand zu präsentieren?
Regine Pranges Buch ist nicht der erste Versuch einer solchen aktuellen Gesamtdarstellung - vorangegangen war etwa Hubert Lochers "Kunstgeschichte als historische Theorie der Kunst" (2001) -, aber er ist besonders ambitioniert, da er von dem Anspruch geleitet wird, die Genese der Kunsthistoriografie aus der Sicht der philosophischen Ästhetik neu zu erklären und die Fachgeschichte in diesem Sinne kritisch zu sichten. Auch wenn im Folgenden manche kritischen Einwände vorgebracht werden müssen, sollen die Verdienste der Darstellung Pranges gleich zu Anfang hervorgehoben werden: Selten ist bisher die Geschichte der Kunstgeschichte auf derart hohem gedanklichen Niveau und in derart prägnanter und eigenständiger Argumentation durchdrungen worden. Beeindruckend ist vor allem die Geschlossenheit des hier präsentierten Gedankengebäudes, doch kann man sich als Leser des Eindrucks nicht erwehren, dass die komplexen Vorgänge, die mit der Entfaltung der Disziplin Kunstgeschichte verbunden waren, streckenweise der gedanklichen Architektur des Buches geopfert wurden. So sind die kunsthistoriografischen Werke des 19. und frühen 20. Jahrhunderts fast durchweg in die antithetische Spannung zwischen der hegelschen Philosophie und der romantischen Weltanschauung eingepasst worden, was der Vielfalt der intellektuellen Entwicklungen in jener Zeit denn doch nicht ganz gerecht wird.
Der philosophische Blickwinkel zieht eine gravierende Einengung des Gegenstandsfeldes nach sich: Prange konzentriert sich fast ausschließlich auf Werke der Kunstphilosophie und Kunstgeschichte, die auf ihre zentralen Denkfiguren hin analysiert und gleichsam im Wechselgespräch vorgeführt werden. Es handelt sich also im Kern um einen ideengeschichtlichen Diskurs, der trotz der pointiert sozialkritischen Grundhaltung der Verfasserin in nur sehr allgemeiner Weise politisch-gesellschaftlich hinterlegt wird. So verwundert das weitgehende Fehlen biografischer Informationen zu den behandelten Autoren, mittels derer die historischen Kontexte ihrer Werke präziser hätte bestimmt werden können, als es im vorliegenden Fall geschieht. Fast völlig ausgeblendet wird auch die institutionelle Geschichte des Fachs Kunstgeschichte, nicht zuletzt im Wechselverhältnis zu anderen geisteswissenschaftlichen Disziplinen, die die Ideengeschichte nachhaltig beeinflusst hat (einige markante Bemerkungen zur Entwicklung der Kunstmuseen sind allerdings hervorzuheben). Weiterhin vermisst man den in den letzten Jahren stark beachteten Aspekt der medialen Vermittlung kunsthistorischer Informationen. Unter den behandelten Denkfiguren fehlen merkwürdigerweise die Konzeptionen von Epochenstilen, die im Zentrum eines Großteils der kunsthistoriografischen Literatur des 19. Jahrhunderts standen. Schließlich bleibt angesichts der in dem Buch häufig geäußerten Kritik am "romantischen" Nationalismus unverständlich, warum sich Prange ohne Begründung nahezu ausschließlich mit deutschsprachigen Autoren befasst. Im Sinne einer bewussten Materialbeschränkung ist diese Auswahl zwar völlig legitim, doch kann man heute die Geschichte der deutschsprachigen Kunsthistoriografie nicht mehr einfach mit der Fachgeschichte im allgemeinen identifizieren.
Bereits bei einer ersten Durchsicht fällt auf, dass der mythisch angehauchte Titel "Die Geburt der Kunstgeschichte" nicht recht zum ideologiekritischen Tenor des Textes passt, und tatsächlich geht es Prange ja auch nicht um die plötzliche Genese einer neuen Disziplin, wie sie die ältere Literatur mit Winckelmann verbunden hatte. Ebenso wenig trifft der Untertitel "Philosophische Ästhetik und empirische Wissenschaft" die Intentionen der Verfasserin, denn ihre Argumentation zielt gerade auf eine Revision der gängigen Vorstellung, dass die Kunstgeschichte als Wissenschaft aus der empirischen Überwindung der hegelianischen Ästhetik hervorgegangen sei. So ist die Darstellung Pranges weit innovativer und komplexer angelegt, als es die Anlage des Titels vermuten lässt.
Sehr bedenkenswert ist die Kernthese des Buches. Prange sieht in Hegels Ästhetik mit ihrer radikalen Historisierung künstlerischer Zusammenhänge eine existentielle Herausforderung für die im Entstehen begriffene Kunstwissenschaft. Insbesondere die These vom Ende, genauer: vom Vergangenheitscharakter der Kunst habe die an einem zeitlosen Ideal festhaltenden Kunsthistoriker gleichsam im Mark getroffen. So erklärt die Verfasserin die Entfaltung der Kunsthistoriografie im 19. Jahrhundert primär aus dem Impuls heraus, die Konsequenzen der hegelschen Philosophie durch ein autonomes Gegenmodell zu entkräften. Dieses Gegenmodell sei durch die romantische Kunstphilosophie Schellings bereitgestellt worden, die durch die enge Parallelisierung von Kunst und Natur die Kunstgeschichte zur Offenbarung des Göttlichen nobilitiert habe.
Die hier vorgestellte Erklärung ist ebenso überraschend wie inspirierend und wirft auf manche Phänomene der Fachgeschichte ein erhellendes Licht. Dennoch wird sie den komplexen Entwicklungsprozessen sowohl der Kunstgeschichte als auch der Kunstphilosophie im 19. Jahrhundert nicht im Ganzen gerecht, denn diese wurden von den Schriften Hegels und Schellings weit weniger stark geprägt, als es die Verfasserin annimmt. Schon die Reduktion der Ästhetikgeschichte auf Baumgarten, Kant, Schelling und Hegel mutet einseitig an, wird damit doch die gesamte Entwicklung der psychologischen Ästhetik ausgeblendet, die mit der Kunsthistoriografie des späteren 19. Jahrhunderts in vielfacher Hinsicht verknüpft war - selbst in dem knappen Kapitel zu Wölfflin findet sich dazu kein Hinweis.
Eigentümlich ist vor allem die Abhängigkeit Pranges von der hegelschen Gedankenwelt. Hegels Ästhetik wird nicht allein als historische Position dargestellt, sondern sie bildet im weiteren Verlauf des Buches stets den Maßstab, mit dem die Verf. die Wissenschaftlichkeit der Werke von Kunsthistorikern beurteilt. Bei näherem Hinsehen ist es allerdings kaum verständlich, warum aus heutiger Position noch immer eine Leittheorie favorisiert wird, die in der "klassischen Kunstform" der griechischen Antike - und ausschließlich dort - die bildende Kunst als Verkörperung des Weltgeistes zu erkennen meint. Wie stark Hegels Kunstauffassung durch die klassizistische Sichtweise des frühen 19. Jahrhunderts geprägt und beschränkt war, wird deutlich, wenn man nicht allein auf die von Heinrich Gustav Hotho überarbeitete postume Druckfassung der Ästhetikvorlesungen von 1836-1839, sondern auch auf die erhaltenen Vorlesungsmitschriften aus den 1820er Jahren rekurriert (von Prange genannt, aber nicht herangezogen). Bei den Ausführungen zur mittelalterlichen Architektur etwa zeigt sich der geradezu primitive Kenntnisstand Hegels, der selbst das geringe Niveau architekturhistorischer Schriften jener Zeit nicht erreicht. Auch wenn die Komplexität der Kunstphilosophie Hegels damit nicht in Frage gestellt werden soll, ist diese doch nicht ernsthaft als Maßstab zur Beurteilung der Relevanz und Modernität kunsthistoriografischer Schriften aus der Zeit nach 1830 heranzuziehen.
Ebenso problematisch ist die Fokussierung romantischer Kunstauffassungen auf die Philosophie Schellings, im Kern auf dessen Akademierede von 1807. Dies wird der Vielfalt künstlerisch-philosophischer Ansätze innerhalb der romantischen Bewegung nicht gerecht. Wohl gab es eine bewusste Schelling-Rezeption innerhalb der Kunstforschung - Prange verweist hier zu Recht auf Rumohr, der dem Philosophen allerdings auch nicht unkritisch gegenüberstand -, daneben aber hat die romantische Literatur freiere künstlerische Formen verwirklicht, die bekanntlich eine intensive Rezeptionsgeschichte in der Moderne erfahren haben. Schließlich hat die romantisch geprägte Philosophie Karl W. F. Solgers, die hier nicht einmal erwähnt ist, stark auf die Literatur des Tieck-Kreises und auf den Kunsthistoriker Karl Schnaase gewirkt.
Schnaase selbst wird von Prange zu Recht von Hegel abgerückt; es geht aber zu weit, die philosophischen Darlegungen am Anfang der "Geschichte der bildenden Künste" (1843) als Gegenentwurf zu Hegels Ästhetik zu bezeichnen. Entscheidend ist, dass das hier kaum berücksichtigte Frühwerk Schnaases, die "Niederländischen Briefe", in dem die Kunsttheorie des Autors bereits klar ausformuliert ist, 1834 und damit zwei Jahre vor der Ästhetik Hegels erschien (und auf keinerlei Kenntnis der Ästhetikvorlesungen Hegels basierte). Die Bedeutung Schnaases liegt gerade darin, dass er seine Kunstgeschichtsschreibung auf einer eigenständigen Kunstphilosophie und Anthropologie aufgebaut hat, deren Wurzeln sich einerseits in die Romantik, andererseits aber auch zu Herder und Schiller verfolgen lassen. Auf Schelling dagegen hat er sich nicht bezogen, ja es bedeutet eine radikale Verdrehung seiner Position, wenn die Verfasserin ihn in die Nähe von "Schellings ahistorische[r] Vorstellung vom Genieschaffen" rückt (143). Bedenkt man, dass Schnaase in den "Niederländischen Briefen" selbst die Natursicht und den Realismus der altniederländischen Malerei auf das sich wandelnde kulturelle Bewusstsein der spätmittelalterlichen Gesellschaft zurückführte, so ist Pranges Einschätzung, er wolle "die Entwicklung des Selbstbewusstseins gleichsam ungeschehen" machen, völlig fehlleitend. Schnaases Theorie war im Gegenteil ausdrücklich gegen die Fixierung der Kunst auf idealisierende Naturkonstanten im Sinne Schellings und Rumohrs gerichtet - ganz anders übrigens als Gottfried Sempers an der Naturgeschichte ausgerichtete Stillehre, die tatsächlich in die intellektuelle Nachfolge Schellings zu rücken ist.
Wegweisend ist ein weiterer gedanklicher Ansatz Pranges: Im Unterschied zur traditionellen Sichtweise der Fachgeschichte, die die Entfaltung der kennerschaftlichen Kunstforschung als moderne Emanzipation von der spekulativen Systemlehre der hegelschen Ästhetik feiert, zeigt sie auf, dass gerade die an empirischer Einzelforschung interessierten Kunsthistoriker zumeist eine naive Kunstauffassung traditionellen Zuschnitts vertraten. In den Schriften Rumohrs und Gustav Friedrich Waagens kann man im Sinne Pranges manches romantische Gedankengut entdecken, daneben aber dürfen die frühneuzeitlichen Prägungen nicht übersehen werden, die die Kanonisierungen der älteren Kunsttheorie in das neue stilgeschichtliche System der Kunstgeschichte hinüberwachsen ließen.
Der Romantikbegriff wird von der Verfasserin sehr weiträumig eingesetzt, so dass Gelehrte verschiedenster Couleur, wie Kugler, Schnaase, Burckhardt, Springer, Semper und Riegl auf ihre romantischen Wurzeln zurückgeführt werden. Dieses an einzelnen Stellen zu neuen Erkenntnissen führende Erklärungsmuster versperrt in seiner Totalität jedoch den Blick auf die großen mentalen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts. Vor allem der Empirieschub, der in den mittleren Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts alle Wissenschaften einschließlich der Philosophie erfasste, lässt sich beim besten Willen nicht mit romantischen Prägungen erklären - in den Naturwissenschaften entfaltete er sich ja gerade gegen die romantische Naturphilosophie - und muss als übergreifendes ideengeschichtliches Phänomen analysiert werden. So steht Anton Springer (der übrigens in Prag und nicht in Österreich geboren wurde) für einen geradezu militanten Empirismus in der Kunstwissenschaft, der bei aller Gegnerschaft zur philosophischen Spekulation seine hegelianischen Wurzeln nicht verleugnen kann. Die Bedeutung des häufig unterschätzten Springer für die Entwicklung neuer wissenschaftlicher Methoden angemessen gewürdigt zu haben, gehört andererseits zu den wichtigen Leistungen des Buchs von Prange - zu Recht wird die Perspektive der ikonografischen Methode von Springer bis hin zu Warburg und Panofsky gespannt.
Überhaupt sind der Verfasserin in den hinteren Abschnitten ihres Werks, etwa in der Darstellung der zwiespältigen Bezugnahme Alois Riegls auf die Theorie Sempers sowie der Entwicklung seiner bipolaren Konzeptionen, mehrere vielschichtige Analysen von großer Präzision gelungen. In Bezug auf den Begriff des Kunstwollens überzeugt auch der ideengeschichtliche Staffellauf verwandter Konzepte organischer Totalität von Schelling und Rumohr über Semper zu Riegl. Treffend wird beschrieben, wie Riegl in "Die Spätrömische Kunstindustrie" (1901) auf die positive Neubewertung der zuvor ästhetisch verachteten Kunst der Spätantike durch Schnaase zurückgreift. Allein die Darstellung der Werkentwicklung Heinrich Wölfflins ist etwas dünn ausgefallen und lässt den intellektuellen Kontext seiner berühmten Bücher nicht recht deutlich werden - Conrad Fiedler etwa wird nur ganz kurz gestreift. Hier zeigt sich wieder das strukturelle Problem des Werks von Prange, dass allein die Kunstphilosophie des frühen 19. Jahrhunderts mit der Kunstgeschichte in Verbindung gesetzt wird, während sich die Darstellung im Hinblick auf die Jahrzehnte um 1900 in der traditionellen Manier der Fachgeschichte auf wenige bekannte Kunsthistoriker verengt. Gerade hier wäre dagegen der Blick auf die zeitgleichen Entwicklungen der Einfühlungsästhetik, der Wahrnehmungspsychologie und der Lebensphilosophie fruchtbar und innovativ gewesen.
So bleibt auch am Schluss der zwiespältige Eindruck eines außergewöhnlich anspruchsvollen und gut geschriebenen Buches bestehen, dessen Analysen unter dem starren Korsett einer die gesamte Darstellung beherrschenden Grundthese leiden - und diese erweist sich nur streckenweise als tragfähig. Dennoch gibt Regine Prange ein hohes Niveau für alle weiteren Darstellungen der Geschichte der Kunstgeschichte vor. Ihr wesentliches Verdienst besteht in dem systematischen Versuch, die fachgeschichtliche Isolation von Kunstgeschichte und philosophischer Ästhetik zu durchbrechen - hier werden zukünftige Darstellungen erneut anzusetzen haben.
Henrik Karge