Babett Bauer: Kontrolle und Repression. Individuelle Erfahrungen in der DDR (1971-1989) (= Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung; Bd. 30), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, 492 S., 2 Abb., ISBN 978-3-525-36907-4, EUR 54,90
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Realität und Wirkung von Diktaturen sind nicht allein anhand von Akten erforschbar, denen Lutz Niethammer im Falle der DDR "kafkaeske" Ausmaße nachgesagt hat. Erfahrung und Erinnerung sind Kategorien, mit denen vor allem die Ebene des Individuums als historisches Subjekt wie als Objekt der Repression erfasst werden kann. Trotz anhaltender Kontroversen ist diese Erkenntnis vermehrt in den deutschen Wissenschaftsdiskurs eingeflossen. Babett Bauer hat mit ihrer 2004 von der Augsburger Universitätsstiftung prämierten Dissertation den Versuch unternommen, auf der Basis sowohl von personenbezogenen Akten des MfS als auch von narrativen Interviews nicht nur Diktaturerfahrung zu erforschen, sondern auch der Frage nachzugehen, inwieweit und in welcher Ausprägung dies zu individueller Identitätsstiftung beigetragen hat. Ein ambitionierter Ansatz, den sie - so ihr Abschlussresümee - mit dem "emanzipatorischen Anspruch" verbindet, Menschen aus der ehemaligen DDR und deren Erfahrungen die Chance zu geben, "sich in der Geschichtsschreibung als Teil des kollektiven Gedächtnisses einen Platz zu sichern" (458). Hat man sich durch die vorausgehenden 457 Seiten gearbeitet, bleiben jedoch ein zwiespältiger Eindruck und der Zweifel, ob die mitunter schwer lesbare, streckenweise langatmige und ermüdende Darstellung diesem Anspruch gerecht werden kann.
Bevor die Autorin zum Kern ihrer Arbeit, der "Interpretation individualbiographischer Konfrontationserfahrungen und ihrer Bewältigung" (Kapitel 6) kommt, führt sie in insgesamt 5 Kapiteln auf über 90 Seiten in ihre Arbeit ein. In einer knappen Einleitung wird über den Forschungsstand informiert und die zentrale Fragestellung vorgestellt. Im Kern geht es um Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen mit den Maßnahmen der Staatssicherheit konfrontiert waren sowie um den "Versuch einer Rekonstruktion der Auslöser für bestimmte Denk- und Handlungsmuster in individuellen Entscheidungsprozessen." Diese Analyse soll anhand dreier Untersuchungsschwerpunkte gelingen: 1. Rekonstruktion der Maßnahmen des MfS, 2. individuelle Einschätzung von Absicht und Wirkung dieser Maßnahmen und 3. die "Hauptfrage nach der 'individuellen Befindlichkeit', welche jene nach den individuellen Verarbeitungstiefen und der Beurteilung der vollzogenen Strategien in Bezug auf vollzogene Repressionen des MfS beinhaltet" (16). Es folgen Kapitel zur Quellenkritik und zum theoretischen Rahmen. Dieser ist unter anderem von Pierre Bourdieu beeinflusst und folgt methodologisch dem "Prinzip der Offenheit", ein Prinzip das auf Hypothesenbildung "ex ante" verzichtet, sondern diese "aus der Gleichzeitigkeit und im ständigen Vergleich von bisheriger und neu erhobener Datensammlung in Verbindung mit einer an dieser fortschreitenden Analyse der Daten" generiert (39). Diesem Prinzip entsprechend, erfolgte auch die Auswahl der Interviewpartner nicht nach festgelegten Kriterien: "Die Suche nach geeigneten Interviewpersonen ergab sich sukzessive im Vollzug der bereits begonnenen Analyse." (41). Wesentlich dabei waren die für das zentrale Forschungsinteresse "relevanten Merkmalskombinationen". Im Projektverlauf wurde die Suche nach weiteren Zeitzeuginnen und Zeitzeugen "einer Gruppierung" abhängig von der "theoretischen Sättigung" gestaltet. Bauer gibt zwar vor, all dies ihren Lesern zu unterbreiten, um den Forschungsprozess "transparent und nachvollziehbar zu dokumentieren" (41). Aber wäre es nicht nützlich gewesen, den einen oder anderen erläuternden Satz anzufügen? Welche "Merkmalskombinationen" waren es denn nun, die bei der Auswahl zu berücksichtigen waren? Letztlich wurden mit insgesamt 30 Personen Interviews geführt, die durch das Dresdner Hannah-Arendt-Institut und die Chemnitzer Außenstelle der BStU vermittelt wurden.
Bauer behauptet zwar dem für Oral-History-basierten Arbeiten prophezeiten "Enttypisierungsschock" (Niethammer) entgangen zu sein. Ihre Typenbildung wirft jedoch Fragen nach der Abgrenzbarkeit und der (zu) großen Heterogenität der "Typen" auf. Dem begegnet sie mit der Feststellung, dass es sich um Typen handele, die sich "nicht als typisch im numerischen Sinne darstellen, sondern [die] das Typische des Einzelfalls repräsentieren" (50). Einwände im Hinblick auf Beliebigkeit und spekulative Interpretation sind angebracht. Nach weiteren Ausführungen über "Gesellschaftlich-normative Aspekte und Wirklichkeiten des Realsozialismus" (Kapitel 4) und zur "Herrschaftssicherung und Durchsetzung gesellschaftlich-normativer Ansprüche - Entwicklungslinien des Instrumentariums Staatssicherheit" kommt Bauer zur Interpretation der Interviews, für die sie insgesamt fünf "Typen" entworfen hat. Stichwortartig könnte man die Typen wie folgt charakterisieren: Typ I: deutliche Anti-Diktatur-Prägung durch Familie, vorwiegend (bildungs-)bürgerliches, teils religiöses Milieu, klare Systemablehnung, Fluchtpläne, Stasi-Haft, Entlassung in den Westen; Typ II: oppositionell, kirchlich geprägt, will Reformen in der DDR, Typ III und IV sind entweder eher unpolitisch (III) oder systemkonform (IV) und geraten durch mittelbare Anlässe (Verhalten des Partners etc.) in die Mühlen der Stasi, schließlich Typ V: nonkonformes Verhalten, Verweigerung, aber kein kollektives Oppositionsverhalten (z. B. Musikgruppe mit "westlichen" Texten).
Während den Typen I und II mit 150 bzw. 100 Seiten große Aufmerksamkeit gewidmet wird, werden die Typen III bis V nur in einem gemeinsamen Kapitel von weniger als 80 Seiten abgehandelt. Bei allen "Typen" werden familiäre und sekundäre (staatliche - Schule etc.) Sozialisation vorgestellt, Ursachen und Anlässe der einsetzenden MfS-Maßnahmen und individuelle Verarbeitungsstrategien bzw. Schlussfolgerungen aus diesen Erfahrungen behandelt. Zu diesem Typen-Modell seien nur einige Fragen kurz angerissen: Die generationelle Ebene wird zwar immer wieder angesprochen, wird aber analytisch nicht genutzt. Bei Typ II wird jene Generation, die im "Schatten der Mauer" aufwuchs (Jahrgänge der 50-/60er-Jahre), als entscheidende Impulsgeberin der Bürgerbewegung der 1980er-Jahre benannt, zugleich werden unter diesem Typus aber auch Vertreter der sogenannten "Aufbaugeneration" subsumiert, die ja nun völlig andere generationelle Prägungen aufwies. Den gleichen Generations-"Mix" enthalten die Typen III bis V. Hier eröffnet sich "ein weiter Bogen für eine generationsspezifische Betrachtung, die von der Aufbaugeneration bis zu den 'Kindern des Realsozialismus' in der DDR reicht" (437). Was bedeutet das für die Typologisierung? Oder spielt eine diesbezügliche Konkretisierung bei der Konzentration auf die Aspekte Repression und individuelle Verarbeitung keine Rolle? Schließlich zur Frage der Verallgemeinerbarkeit. Lässt man sich auf den vorliegenden Ansatz ein, dann erfährt man anhand der vorgestellten Einzelfälle einiges über das Vorgehen der Stasi sowie über die Konsequenzen für die Betroffenen, auch im psychischen Bereich. Problematisch werden jedoch die Verallgemeinerungen für gesamte Gruppierungen, die Bauer aufgrund von Einzelfällen formuliert. Beispiel: "Herr Spengler" (Jahrgang 1944), Typus II, bekennt seine seit jeher bestehende Sehnsucht nach "Vaterland", wobei realistisch betrachtet von einer noch zu erlebenden Wiedervereinigung nicht ausgegangen werden konnte. Nach Bauer "entkräftet" diese Wahrnehmung "auch den der DDR-Opposition später oftmals zum Vorwurf gemachten Umstand", sie habe sich nie "ernsthaft mit der nationalen Frage" befasst (265). Steht "Herr Spengler" stellvertretend für die gesamte Opposition? Solche Details stehen für die Gefahren der Spekulation und Überinterpretation, die dem Ansatz zu eigen sind.
Dennoch: Bauers Methode kann dort zum Erfolg führen, wo andere historische oder sozialwissenschaftliche Vorgehensweisen an Grenzen stoßen, nämlich auf der individuellen Ebene und bei der Fragestellung, welche Folgen die Repressionserfahrungen für die betroffenen Menschen hatten. In der Darstellung gestrafft und von mancherlei terminologischem Ballast befreit, hätte diese Studie ein lesenswerter Beitrag zu einem wichtigen Ausschnitt der Diktaturgeschichte werden können.
Detlev Brunner