Gunilla Budde / Sebastian Conrad / Oliver Janz (Hgg.): Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, 320 S., ISBN 978-3-525-36736-0, EUR 24,90
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Die vorliegende Festschrift zum 65. Geburtstag von Jürgen Kocka versammelt Beiträge seiner Kollegen zu einem gemeinsamen Thema. Alle Autoren suchen nach Fragestellungen und Themenfeldern, die die nationalstaatliche Ebene verlassen. Dadurch nimmt diese Festschrift den Charakter eines Readers zu Fragen der titelgebenden "Transnationalen Geschichte" an. Verhandelt werden die verschiedenen Bedeutungsebenen und Aspekte nicht-nationalstaatlicher Geschichte, die Argumente für die Entnationalisierung der Geschichtswissenschaft, aber auch solche dagegen. Das wissenschaftliche Werk des Geehrten ließe sich freilich kaum unter diesem Label charakterisieren. Jürgen Kocka und seine Generation von Bielefelder Historikern standen sehr viel eher für die Demokratisierung und Liberalisierung des deutschen Nationalstaates. Kocka und seine Mitstreiter thematisierten vor 40 Jahren beschwiegene Seiten in der deutschen Geschichtswissenschaft, nämlich die Kontinuitäten des Nationalismus und die tief sitzende Demokratiefeindlichkeit in Deutschland. Zum 65. Geburtstag wird ihm nun gleichsam in der Gratulation die Rechnung präsentiert, indem seine peers die dunklen und seinerseits unangesprochenen Seiten der deutschen (National-)Gesellschaftsgeschichte herausarbeiten.
Die Herausgeber und Autoren versuchen nicht mehr und nicht weniger, als einen Paradigmenwechsel in der Geschichtswissenschaft zu plausibilisieren. Damit greift diese Festschrift weit über das Genre hinaus. Der implizite Rückblick gilt einer ganzen Generation von Sozialhistorikern, die zu Fragen des Nationalstaates, seiner Politik, Kultur und Wirtschaft arbeiteten. Bei allen Problemen des Begriffs bedeutet die Entnationalisierung der Geschichte in jedem Fall, die Forschungsagenda dieser Generation, deren politisch und intellektuell formative Phase die 1960er- und 1970er-Jahre mit dem Streit um die Ostpolitik Willy Brandts und die sozialliberale Umgründung der Bundesrepublik war, zu verlassen. Konflikte nehmen oft die Form des Generationenkonfliktes an. In den 1970ern räumte eine junge Generation von Sozialhistorikern theorieoffen die ältere Politikgeschichte beiseite und eröffnete neue Fragestellungen. Im Generationenkonflikt scheint auch die eigentliche Pointe dieses Bandes zu liegen: Indem Kockas Alterskohorte sich an Fragen der "Transnationalen Geschichte" abarbeitet, will sie die eigene Lernfähigkeit unter Beweis stellen und sich auch auf dieser Ebene von den damals Angegriffenen noch einmal unterscheiden. Das Spiel "Jung gegen Alt" und "Innovation versus Beharrung" soll sich also gerade nicht wiederholen. Die Väter der Sozialgeschichte sollen auch die Väter und Mütter der transnationalen Geschichte sein.
Das Label "Transnationale Geschichte" ist nur eine Form der Internationalisierung von Geschichtswissenschaft unter mehreren möglichen Weisen. Die Festschrift stellt eine Reihe von Ansätzen in diese Richtung vor. So präsentieren Michael Mann die Globalisierung und die Makro-Regionen, Jürgen Osterhammel die Imperien, Patrick Karl O'Brien den weltgeschichtlichen Vergleich von Europa und China und Partha Chatterjee die "Subaltern Studies" als Kandidaten für neue, nicht nationalstaatlich verfasste Untersuchungsfelder. Auch wenn sie von Natalie Zemon-Davies kurz gestreift werden, vermisst man doch die "Postcolonial Studies", die in vielem der Auslöser der neueren Debatte um Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats sind. Es fehlt auch eine transnationale Perspektive auf die Zivilgesellschaft, die seit Längerem von Jürgen Kocka als neuer analytischer Schlüsselbegriff der Gesellschaftsgeschichte favorisiert wird.
"Geschichte jenseits des Nationalstaats" (Jürgen Osterhammel) wird in den vorliegenden Beiträgen weniger auf der globalen Ebene analysiert, sondern eher auf mittlerer Ebene in Reichen, Netzwerken, politischen Reichsbildungen und Aushandlungsprozessen von Handelspartnern. Jürgen Osterhammel und Michael Mann gehen davon aus, dass Nationalstaaten das Ergebnis übernationaler Reichsbildungen sind. Besonders Osterhammel arbeitet in seinem Beitrag heraus, dass Imperien eine weitaus größere Dauer als Nationalstaaten aufwiesen. Im Vergleich zu Imperien entstanden Nationalstaaten eher spät, und ihre Entwicklung blieb stets unvollständig. Ihre Flexibilität gab den Reichsbildungen über einen längeren Zeitraum ihre kritische Adaptionsfähigkeit, um auf die Anforderungen der Umwelt zu reagieren. Überhaupt stellt Osterhammel die Nationalisierung von Reichen als ein zentrales Moment der künftigen historischen Beschäftigung heraus. Ähnlich argumentiert Michael Mann. Auch er setzt Reiche in Verbindungen zu Nationalstaaten. Imperien bilden für ihn quasi die mittlere Ebene zwischen den Nationalstaaten und der Globalisierung: "Very little that is transnational is global." Die Transnationalisierung wird so gegen die Globalisierung abgegrenzt. Sie verlief ungleichmäßig und produzierte Ungleichheiten. Die Regionalisierung war die markanteste Antwort auf die Internationalisierung der Wirtschafts- und Kapitalmärkte seit den 1970er-Jahren. Hartmut Kaelble betont in seinem Beitrag über "Europäische Geschichte aus westeuropäischer Sicht?", dass es eine westeuropäische "mental map" gab, die Europa nur partiell wahrnahm. Manfred Hildermeier sieht in Osteuropa eine Kontaktzone zwischen unterschiedlichen Einflüssen aus West, Nord und Süd. Osteuropa bezeichnet eine Zone von Kontakten und Berührungen, nicht aber ein materiell ausweisbares Gemeinsames. Es ist damit Resultante, nicht Wesen. Er weist damit wie andere vor ihm einen essentialistischen Blick auf die europäischen Regionen zurück. Diese übernationalen Räume sind für ihn vielmehr Felder der Aushandlung, Beziehung und Begegnung. Beziehungen erzeugen Eigenschaften, nicht umgekehrt.
Aber auch methodisch werden Alternativen zur transnationalen Geschichte formuliert. Eine Reihe von Beiträgen halten am Vergleich als historischem Königsweg anstelle der "Transnationalen Geschichte" fest. Hartmut Kaelble, Manfred Hildermeier und Heinz-Gerhard Haupt stellen vergangene und gegenwärtige Perspektiven des historischen Vergleichs heraus. Sie sehen nach wie vor im Vergleich die nützlichste Methode für Historiker an, auch und gerade, wenn sie den Nationalstaat als Analyseebene verlassen. Diese drei Aufsätze teilen das Anliegen, über den Nationalstaat als Untersuchungsgegenstand hinauszugehen. Sie ziehen aber nicht die Konsequenz einer transnationalen Geschichte. Am weitesten geht hier Hans-Ulrich Wehler. Er bestreitet nicht zum ersten Mal die empirische Basis der "transnationalen Geschichte" und die begriffliche Stringenz dieses Ansatzes.
In dem vielleicht subtilsten Beitrag dieses Bandes argumentiert Charles S. Maier für eine Historisierung der transnationalen Geschichte. Er plädiert nicht für Transnationalität, sondern für die analytische Kategorie der Territorialität in der Geschichtswissenschaft. Sie erlangte ungefähr zwischen 1860 und 1970 ihre größte Bedeutung, als im Nationalstaat die Räume der Identitätsbildung und der Entscheidungsfindung (identity space und decision space) zusammenfielen. Bereits die frühneuzeitlichen Reiche bereiteten die Territorialisierung von Herrschaft auf mehreren Ebenen vor. Doch erst der Nationalstaat erzeugte dasjenige Territorium, für das seine Bürger schließlich bereit waren, zu sterben (Dieter Langewiesche). Territorialität begründete staatliche Souveränität, mit allen Konsequenzen für den Aufbau von Demokratie und Wohlfahrtsstaat. "Territoriality was the precondition of sovereignty. The latter term expressed the monopolistic or decisive quality of supreme authority to which rulers and states aspired. [...] Effective territories were units of decision space, the writ of effective legislation, shared the same boundaries with identity space, the extended turf that claimed citizens' loyalties" (35). Im Zeitalter der Territorialisierung werden, nach Anthony Giddens berühmter Formulierung, aus weichen Zonen des Übergangs, "frontiers", genau demarkierte und einem Grenzregime versehene "borders". Maier sieht das anders: Für ihn werden aus frontiers "fields", Energiefelder. Die nationale Kraftentfaltung, ausgedrückt in Energiemetaphern, setzte Territorialität voraus. Das Ende dieses Territorialregimes erblickt Maier ungefähr 1965, als sich Wirtschaftsstrukturen und politische Rahmenbedingungen grundlegend wandelten. Generell macht Maier vor allem technologische Fortschritte und die Industrialisierung für Aufbau, Wandel und Auflösung des Zeitalters der Territorialität verantwortlich. Eisenbahnen spielen für ihn eine ebenso wichtige Rolle wie etwa für Manfred Hildermeier in dessen beziehungsgeschichtlichem Ansatz. Nur liest Maier Verdichtungen von Begegnungen als Indizien für Territorialisierungen, nicht als solche für transnationale Raumbildungen. Aber auch für ihn führt der Weg vom territorialen zum post-territorialen Regime.
Dass dies mitnichten zwingend ist, zeigt das Gegenbeispiel des Judentums und Israels, auf das Shulamit Volkov in ihrem Beitrag "Jewish History: The Nationalism of Transnationalism" eingeht. Sie kann zeigen, dass die Diasporaexistenz im Judentum in ein territorialisiertes Selbstverständnis seit der Gründung des Staates Israel überging. Überhaupt reichte die Nationalisierung des jüdischen Selbstverständnisses und damit seine Territorialisierung weit in die Geschichte zurück. Jüdische Geschichte wurde im 20. Jahrhundert zur erweiterten Geschichte des Staates Israel. Dies galt sogar für Juden außerhalb Israels, also in der Diaspora. Die Diasporakonfiguration hat sich im Judentum in eine nationale Konfiguration verwandelt - und nicht umgekehrt.
Der Band zeigt die Stärken und die Fruchtbarkeit der transnationalen Geschichte und der Entnationalisierung historischer Fragestellungen, aber auch ihre Schwächen, sobald sie zum neuen Passepartout der Historiker werden soll. Der Band macht mit seinen Alternativen und Zwischentönen noch ein weiteres klar: Wenn transnationale Geschichte nicht zum moralisierten und schicken Markenzeichen einer nachwachsenden Forschergeneration im Wettbewerb um Pfründe und Ressourcen verkommen soll, darf sie nicht bei der Antithese zur Historiografie des Nationalstaats und der Nationenbildung stehen bleiben. Ihr Gewinn läge vielmehr in einer synthetischen Einstellung, wenn sie die Einsichten der kritischen Nationalismusforschung integriert. Denn auch Nation und Nationalstaat standen einmal für die Entgrenzung der Politik über die territorialisierten Einzelstaaten hinaus genauso wie für die "transregionale" Ausweitung zuvor kleinräumiger Loyalitäten. Kleinräumigkeit ist offenbar ein sehr relativer Begriff.
Siegfried Weichlein