David Blackbourn: Landschaften der deutschen Geschichte. Aufsätze zum 19. und 20. Jahrhundert (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 217), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016, 392 S., ISBN 978-3-525-37043-8, EUR 80,00
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In der Historiographie zur deutschen Geschichte mit ihrer starken nationalpolitischen Aufladung war der Blick von außen immer von Nutzen und erkenntnisfördernd. Es waren zuvörderst Autoren aus dem angloamerikanischen Raum, die in den letzten 30 Jahren Denkanstöße gaben und die deutschsprachigen Historiker produktiv verunsicherten. Dazu zählt neben Richard J. Evans und Geoff Eley der heute an der Vanderbildt University (Nashville TN) lehrende David Blackbourn. Er und Geoff Eley stießen die sogenannte "Sonderwegsdebatte" der frühen 1980er Jahre an. Blackbourn setzte später Religion und zumal den Katholizismus auf die Forschungsagenda der Historiker. Kein ernstzunehmender Historiker hätte bis dahin ein Buch über Marienerscheinungen verfasst. Dieses Thema galt als verschroben und gehörte in die Kirchengeschichte und die Theologie. David Blackbourns meisterhafte Studie zu den Marienerscheinungen im saarländischen Marpingen von 1876 machte untergründige Konfliktstrukturen in der deutschen Geschichte sichtbar. Der Kulturkampf war weit mehr als ein Konflikt zwischen Staat und Kirche, nämlich eine Auseinandersetzung zwischen konträren Entwürfen der Zukunft. [1]
Er legt jetzt 20 Aufsätze aus den Jahren 1981 bis 2013 vor, die zugleich eine Geschichte der methodischen Innovation durch den geschärften Blick bieten. Im Vorwort identifiziert er selbst als roten Faden durch alle Texte "die Vorstellung der Moderne: die Hoffnungen und Ängste, die sie weckte, ihre Probleme und Widersprüche" (8). Den weiten Bogen, der dadurch gespannt wird, gliedert Blackbourn in fünf Schwerpunkte seiner Arbeit. Der erste Abschnitt behandelt in fünf Beiträgen die Katholizismus- und Mittelstandsforschung, der zweite in drei Aufsätzen die Politische Kulturforschung. Darauf folgen im dritten Abschnitt wiederum fünf Texte zur Umweltgeschichte, die im Umfeld von "The Conquest of nature. Water, Landscape and the Making of Modern Germany" (New York, 2006) entstanden sind. Die großen Dammbauten und Flussbegradigungen, die Deiche und die Hafenbauten bearbeiteten nicht nur die natürliche Umwelt, um Überschwemmungen abzuwehren. Sie waren gebaute Zukunftsentwürfe. Ihre Planung gibt Einblicke in den begrifflichen Handwerkskasten der modernen Gesellschaft. Es folgen im vierten Abschnitt drei Beiträge zu Blackbourns neuem Thema, einer Globalgeschichte Deutschlands zwischen 1500 und 2000. Es folgen im fünften Abschnitt vier Arbeiten zur Theorie. In seinem letzten Text aus 2013 geht er auf den um sich greifenden Präsentismus in der Geschichtswissenschaft ein: "Liebling, ich habe die deutsche Geschichte geschrumpft" (378-389). Der Text zu "Mikrogeschichte" (353-367) ist neu verfasst. Die ersten Fußnoten zu den einzelnen Beiträgen weisen auf neuere Literatur seit dem Erscheinen der jeweiligen Beiträge hin.
Die 20 Aufsätze dokumentieren den Wandel in der Historiographie zur deutschen Geschichte von den Fragen der politischen Sozialgeschichte über die Kulturgeschichte bis hin zur heutigen transnationalen und Globalgeschichte. Dieser Wandel war von Methodendebatten begleitet. Jedesmal war David Blackbourn dabei. Der kürzeste Text war besonders einflussreich: "Wie bürgerlich war das Kaiserreich?" (347-352) gibt seinen Kommentar auf der Bielefelder Tagung zu "Bürgerlichkeit" wider, der am Anfang der umfänglichen Bürgertumsforschung stand. Der Beitrag "Politik als Schauspiel" (168-188) entwickelte bereits 1986 anhand der Bühnenmetaphorik in der deutschen Geschichte ein Programm der Kulturgeschichte des Politischen avant la lettre. Dabei möchte David Blackbourn nicht als Erneuerer gesehen werden, der Altes dem Müllhaufen der Geschichte übergibt. Ganz im Gegenteil bevorzugt er die Metapher des "Hotel Histoire": neue Bewohner ziehen ein, ohne dass die alten gehen müssen.
Im letzten Beitrag fragt David Blackbourn nach den Ursachen für die Schrumpfung der deutschen Geschichte auf das 20. Jahrhundert und zumal die Zeit nach 1945. Egal ob man die Sektionen und Vorträge der German Studies Association, die Liste der rezensierten Bücher in Central European History, die podcasts von "New books in History" oder die Diskussionsrunden der britischen German History Society nimmt: überall begegnet man demselben Trend hin zur deutschen Geschichte nach 1945. Das rührt von Archivfristen, Förderungspolitiken der Wissenschaftsorganisationen und vom akademischen Stellenmarkt her. Blackbourn insistiert auf dem Gewinn durch einen weiteren Blick zurück in die Geschichte vor 1914. Die Arbeiten zum "Waldsterben" Ende des 20. Jahrhunderts von Franz-Josef Brüggemeier verdanken sich den Analysen Joachim Radkaus der "Holzknappheit" im 18. Jahrhundert, die lange Zeit für die steigende Kohleförderung und damit für die frühe Industrialisierung unbefragt verantwortlich gemacht wurde. [2] Die derzeitige unhinterfragte Annahme, die es zu dekonstruieren gilt, lautet: alle wichtigen Fragen seien im 20. Jahrhundert zu finden. Dadurch schrumpft nicht nur die Geschichte, sondern auch die Zeitgeschichte verarmt.
Anmerkungen:
[1] David Blackbourn: Apparitions of the Virgin Mary in nineteenth-century Germany, New York 1994; David Blackbourn: Wenn ihr sie wieder seht, fragt wer sie sei: Marienerscheinungen in Marpingen. Aufstieg und Niedergang des deutschen Lourdes. Übers. Holger Fliessbach, Reinbek bei Hamburg 1997.
[2] Franz-Josef Brüggemeier: Waldsterben. The construction and deconstruction of an environmental problem, in: Christoph Mauch (ed.): Nature in German History, New York 2004, S. 119-131; Joachim Radkau / Ingrid Schäfer: Holz. Ein Naturstoff in der Technikgeschichte, Reinbek bei Hamburg 1987.
Siegfried Weichlein