Robert Neisen: Feindbild, Vorbild, Wunschbild. Eine Untersuchung zum Verhältnis von britischer Identität und französischer Alterität 1814-1860 (= Identitäten und Alteritäten; Bd. 19), Würzburg: Ergon 2006, 623 S., ISBN 978-3-89913-386-8, EUR 59,00
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Die Herstellung von Identitäten setzt ein Gegenüber, einen "Anderen", voraus, von dem man sich bei der Ausgestaltung der Eigenwahrnehmung absetzen kann. Für die Schaffung einer britischen Nationalidentität erfüllte im Laufe der Geschichte immer wieder Frankreich diese Funktion - für das 18. Jahrhundert arbeitete Linda Colley geradezu ein französisches Feindbild heraus, das wesentlich für die nationale Selbstvergewisserung der Briten gewesen sei. [1]
Robert Neisen fragt, inwiefern auch im 19. Jahrhundert "langfristig wirksame politische Weltbilder" (47) die Frankreich-Wahrnehmung in Großbritannien bestimmten. Dazu untersucht er frankreichbezogene Alteritätsdiskurse während drei markanter Phasen der britischen und französischen Geschichte: während des Übergangs von der napoleonischen Herrschaft zur Restauration der Bourbonen, während der Zeiten von französischer Julirevolution und englischer Wahlreform 1830-1832 sowie während der 1840er Jahre mit dem Höhepunkt der Revolution von 1848. Als Untersuchungsgrundlage dienen ihm insbesondere führende Tageszeitung sowie eine Vielzahl politischer Pamphlete. Seine Ergebnisse wecken Zweifel an der Bedeutung langfristig wirksamer Alteritätsmuster - das britische Selbstverständnis ließ sich auch ohne Verweise auf andere Nationen formulieren und die britischen Bezugnahmen auf Frankreich erweisen sich als wandelbare, von tagespolitischen Interessen abhängige und als innerhalb des Landes stark differenzierte Diskurse, die kein einheitliches "Frankreichbild" transportierten.
Die konservative Presse hatte die Französische Revolution verurteilt und unterstützte vehement die Kriegsanstrengungen gegen Napoleon. Demgegenüber kritisierten reformorientierte Zeitungen bereits frühzeitig die hohen Kosten des Krieges gegen den französischen Kaiser und forderten eine friedensorientierte Politik. In beiden Fällen zeigte sich aber die Bereitschaft zur Unterscheidung zwischen den imperialen Eliten und dem französischen Volk. Selbst die revolutionskritischen Konservativen führten die lange Kriegsära kaum auf einen inhärenten Militarismus der Franzosen zurück, sondern konzentrierten ihre Abneigung auf den Kaiser und seine Helfer. Die Restauration der Bourbonen versprach eine Rückkehr zu Ordnung und Stabilität, auch wenn die Episode der "Hundert Tage" ein unterschwelliges Misstrauen gegenüber Frankreich am Leben erhielt.
Die Julirevolution von 1830 dagegen konnte in Großbritannien in den beiden großen politischen Lagern begrüßt werden. Sie erschien als Übergang zu einem konstitutionell-monarchischen Modell nach britischem Vorbild und begründete eine Freundschaft der "liberalen" Staaten Frankreich und Großbritannien gegenüber den reaktionären Mächten der Heiligen Allianz. Diese Freundschaft überstand mehrere internationale Krisen in den 1840er Jahren, bevor sie 1846/47 in einer Krise zerbrach, die Guizot aus innenpolitischen Motiven auf außenpolitischem Parkett in Kauf genommen hatte. Dennoch wurde die Revolution von 1848 in Großbritannien relativ gelassen aufgenommen - zwar gab es die übliche Sorge vor den revolutionären Massen und Zweifel an der politischen Reife der Franzosen, doch insgesamt sprachen die britischen Beobachter den Franzosen nicht durchgehend die Reformfähigkeit ab.
Neisen verharrt nicht beim Nachzeichnen des britischen Frankreichbildes. Vielmehr betont er die innen- und außenpolitischen Rahmenbedingungen, in denen sich die britische Auseinandersetzung mit Frankreich abspielte. Auf diese Weise wird deutlich, in welchem Maß die Diskussionen von innenpolitischen Frontlinien geprägt waren. Wenn beispielsweise die Reformkräfte französische Revolutionäre priesen, geschah dies nicht zuletzt, um eine korrumpierte Adelsherrschaft im eigenen Land zu kritisieren; umgekehrt diente eine antirevolutionäre Rhetorik der Konservativen der Zurückweisung entsprechender Ansprüche in Großbritannien. Bis zur Revolution von 1848 hatten sich diese Argumentationsmuster zu neuen Konfigurationen verschränkt, in denen Konservative und Liberale gleichermaßen vor sozialem Radikalismus im eigenen Volk warnten.
Mit besonderem Nachdruck verweist Neisen auf Kontexte, in denen es des Frankreichbildes nicht bedurfte, um britische Identitätsdiskurse voranzutreiben. So sieht er in den Diskussionen um die Reform Bill 1832 keinen notwendigen Rekurs auf Frankreich am Werk. Die britische Selbstwahrnehmung als einer freiheitlichen, reformbereiten Nation reichte zur Begründung der Wahlreform aus; die Julirevolution diente lediglich als äußerer Anstoß, um entsprechende innerbritische Debatten in Gang zu setzen.
Neisen gewinnt seine Ergebnisse aus einer Methode, die sich als "dichte Paraphrasierung" beschreiben lässt: Ausführlich werden jeweils die Argumentationslinien ausgewählter Zeitungen und Pamphlete zusammengefasst. Daher geht die Darstellung häufig deutlich über die Kernfrage nach Alteritätsdiskursen hinaus und bietet ein breites Panorama der zeitgenössischen Debatten zu herausragenden Themen der Politik. Die nicht immer aus der aktuellsten, aber stets aus hochwertiger Forschungsliteratur erarbeiteten Einleitungsabschnitte zu den Großkapiteln wachsen sich fast schon zu handbuchartigen Überblicken über die britische Innenpolitik aus. Dieses geduldige Vorgehen fordert auch die Geduld der Leser heraus, unterstreicht aber die Relativierung der Bedeutung der Frankreich-Bezüge in vielen politischen Kontexten.
Dennoch bleibt manche interessante Frage unberührt. So entscheidet sich Neisen dafür, die Alteritätsdiskurse einer breiten Öffentlichkeit in den Blick zu nehmen, Elitediskurse aber außen vor zu lassen. Mehr würde man allerdings gerne darüber erfahren, welche Motive und personellen Netzwerke hinter den häufig zitierten Zeitungskommentaren stehen. Neisen selbst deutet an einigen Stellen an, dass Verbindungen in Regierungskreise hinein die Darstellungsstrategien der Zeitungen bestimmten - laufen hier nicht Elitediskurse und die Positionen der "Öffentlichkeit" ineinander? Lässt sich diese Trennung überhaupt aufrechterhalten?
Neuere Studien zur Frankreichwahrnehmung britischer Intellektueller, die offenbar beim Abschluss von Neisens Manuskript noch nicht vorlagen, betonen zudem die Argumentation von unterschiedlichen Nationalcharakteren her. Denker wie John Stuart Mill empfahlen den Briten das "zivilisierte" Frankreich geradezu als Vorbild. [2] Es wäre sicherlich anregend, solche kulturell geprägten Bezugnahmen auf Frankreich mit Neisens Ergebnissen zu vergleichen. Dessen umfangreiche, ansprechend formulierte Dissertation schlägt in jedem Fall breite Schneisen in das Dickicht britischer Alteritäts- und Identitätsdiskurse und öffnet den Blick für weitergehende Fragestellungen.
Anmerkungen:
[1] Linda Colley: Britons. Forging the Nation 1707-1837, New Haven/ London 1992.
[2] Georgios Varouxakis: Victorian Political Thought on France and the French, Basingstoke 2002; Roberto Romani: National Character and Public Spirit in Britain and France, 1750-1914, Cambridge 2002.
Detlev Mares