Christoph Stiegemann / Hiltrud Westermann-Angerhausen (Hgg.): Schatzkunst am Aufgang der Romanik. Der Paderborner Dom-Tragaltar und sein Umkreis, München: Hirmer 2006, 344 S., 80 Farb-, 250 s/w-Abb., ISBN 978-3-7774-2905-2, EUR 49,00
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Der zur Paderborner Ausstellung "Canossa 1077 - Erschütterung der Welt" erschienene Aufsatzband speist sich aus zwei Symposien zu Roger von Helmarshausen, die 2003 in Köln und 2005 in Paderborn stattgefunden haben. Ziel war es, die mit Roger zusammenhängenden Fragen umfassend zu diskutieren, nachdem er durch die Personenforschungen von E. Freise Anfang der 1980er-Jahre und durch die Präsentation der mit ihm verbundenen Goldschmiedearbeiten auf der Speyerer Salier-Ausstellung 1992 wieder verstärkt in den Blick geraten war. Kunsthistorisch erschien eine Revision geboten, da die Datierungen der Stücke von immer mehr Kollegen stilistisch als jünger erachtet wurden und auch die Heterogenität der Gruppe immer mehr auffiel. Diese wird mit dem ansprechend aufgemachten, von M. Gepp und G. Lettau sauber redigierten Band jetzt vorgelegt.
Die Prominenz Rogers gründet nicht nur in der Qualität der ihm zugeschriebenen Werke rund um den Paderborner Dom-Tragaltar, sondern auch in seiner Identifizierung mit Theophilus Presbyter, dem Autor des kunsttechnologischen "Handbuchs" Schedula diversarum artium, von dem das Wiener Exemplar den Autorenzusatz "qui et Rugerus" trägt (ÖNB Wien, Cod. 2527). Maßgeblich hat zu seinem Ruhm zudem der Hang der Kunstgeschichte zur geniehaften Personalisierung von Künstlern beigetragen, für die in dieser Zeit nur wenige Namen zur Verfügung stehen. Allerdings versucht das Fach seit längerem durch eine differenziertere Sicht auf Produktionszusammenhänge hiervon Abstand zu gewinnen und die Individualität der Stücke stärker zu gewichten als die dahinter stehenden vermeintlichen Personen, denen sie in ihrem Postulat von Personenstilen zu oft eine ihren Fähigkeiten unangemessene Homogenität unterstellt hat. Auch der hier anzuzeigende Band reiht sich in diese Entwicklung ein.
Er beginnt mit einem historischen Teil von vier Beiträgen zur Geschichte von Helmarshausen bis zum Beginn des 13. Jahrhunderts (E. Freise, 12-27), zu Gedenkbüchern und Nekrologien (aus denen E. Freise die Vita Rogers abgeleitet hatte) (A. Zettler, 28-41) und zu Schriftzeugnissen über Kirchenausstattungen (M. Balzer), die die Grundlagen für die Bewertung der 1100 datierten, im 13. Jahrhundert verfälschten Schenkungsurkunde Bischof Heinrichs von Werl (Bf. 1084 - nach 1125) an Kloster Helmarshausen legen, dank der der Paderborner Dom-Tragaltar bisher als Werk Rogers identifiziert wurde. C. M. M. Bayer untersucht dann die Urkunde, was einer Destruktion bisheriger Gewissheiten gleichkommt: Nicht nur kann er Zweifel an der Interpretation des dort genannten "scrinium, quod nostro sumptu frater eiusdem ecclesie Rogkerus satis expolito opere in honorem sancti kyliani atque liborii fabricauerat" als dem Dom-Tragaltar aufgrund der Wortwahl (die für Tragaltäre unüblich ist), der Heraushebung der beiden Heiligen (statt der auf dem Tragaltar betonten Gottesmutter) und dem Faktum, dass dieses scrinium dem Kloster zugesprochen wird (restituimus) nähren. Er sieht in dem Anspruch des Klosters auf die beiden genannten Goldschmiedewerke (das scrinium und ein goldenes Kreuz) einen der Gründe für die Urkunde selbst. Jedenfalls weist er überzeugend die ältere Lesart der Urkunde zurück, die in ihr die Übertragung von Besitz zur "Bezahlung" des Kreuzes und des Tragaltares hat sehen wollen. Vielmehr verspricht Heinrich die Rückgabe der beiden Stücke, die allerdings offenbar nicht erfolgt ist, da zumindest das Kreuz später noch in Paderborn war.
Wenn das urkundlich genannte Stück, das Roger gefertigt hat, nicht der Dom-Tragaltar ist, dann fällt die gesamte Zuschreibung der Gruppe an diesen Namen und die dafür rekonstruierte Vita sowie auch die Zuordnung der Schedula zu dieser Gruppe, die ja über den Namen Rogers erfolgt ist. Damit ist die Kunstgeschichte, die diese Bezüge bisher akzeptiert hat, gefordert.
Ihr gilt der zweite Teil mit zehn kunsthistorischen Beiträgen. Er beginnt mit der Gegenüberstellung der beiden mit Roger verbundenen Tragaltäre im Paderborner Diözesanmuseum durch M. Peter (80-96). Der akribische Vergleich von Motiven und Stilmitteln führt zu dem überzeugenden Ergebnis, dass sie nicht von einer Hand sind. M. Peter zieht den Dom-Tragaltar, das Modoaldus-Kreuz im Kölner Museum Schnütgen und den Buchdeckel des Helmarshausener Evangeliars im Trierer Domschatz zu einer Gruppe zusammen, von der andere Stücke wie auch der Abdinghofer Tragaltar abzusetzen seien.
Der kunsthistorischen Kontextuierung der Helmarshausener Werke widmen sich dann M. Brandt (97-112) und A. Worm (112-122). M. Brandt betont ihre Wirkung auf Hildesheim. Wichtig ist sein Hinweis, dass wohl weniger die erhaltenen Arbeiten, als vielmehr das Hauptprojekt der Helmarshausener Produktion, nämlich der Reliquienschrein für den 1107 aus Trier hierhin übertragenen hl. Modoaldus, vorbildhaft gewirkt haben dürfte und vielleicht sogar der Grund für die Anwerbung Rogers war. Dezidiert verweist er neben der maasländischen Prägung (die sich mit der rekonstruierten Vita Rogers ideal deckt, der nach E. Freise aus Stablo über Köln nach Helmarshausen gekommen ist) auf italienische und vielleicht sogar auf diesem Wege vermittelte islamische Grundlagen der Helmarshausener Kunst, während A. Worm neben der maasländischen auch die kölnischen, jedenfalls westlichen Komponenten betont. Sie geht dem als "parzellierend" bezeichneten Stil sowohl der Goldschmiedewerke als auch der Buchmalerei nach und schafft dadurch - wie auch der Beitrag von M. Brandt - einen übergreifenden Stilrahmen, in dem (allen Detailbeobachtungen zum Trotz) die Gemeinsamkeiten der beiden Paderborner Tragaltäre wieder sichtbar werden. Angesichts der für Helmarshausen relativ gesicherten Werke des Modoaldus-Kreuzes und des Trierer Einbandes dürfte damit die Herkunft auch beider Altäre von dort nicht grundlegend infrage zu stellen sein - ob unter Roger oder nicht. Wichtiger ist die Datierung der Gruppe, für die A. Worm gut begründet eher in die 1120/30er-Jahre als um 1100 tendiert.
An dieser Stelle kann nicht jeder Beitrag besprochen werden, zumal die folgenden vornehmlich Einzelstücke bzw. kleine Gruppen des Kreises behandeln und auch recht heterogen sind. Wegen des nicht unbedingt zu erwartenden, aber sehr aufschlussreichen Themas sei der Beitrag von B. I. Marschak zu niellierten islamischen Silberarbeiten erwähnt (197-206), durch den die Überlegungen M. Brandts unterstrichen werden.
Der dritte Teil "Kunsttechnologie" gliedert sich in zwei Beiträge, in denen die Restauratoren die Ergebnisse ihrer Untersuchungen der beiden Tragaltäre präsentieren (U. Schuchardt 208-216, H. Portsteffen, 217-221), und vier Beiträge zur Traktatliteratur. J. Wolters stellt Schriftquellen zur Goldschmiedetechnik bis um 1100 zusammen (222-242), bevor er mit einem byzantinischen Traktat des 11. Jahrhunderts eine neue Quelle in die Diskussion einführt (259-283, schon in: das münster 57, 2004, 162-179). B. Reudenbach sowie A. Speer und H. Westermann-Angerhausen widmen sich dann der Schedula, wobei Reudenbach das Künstlerkonzept und dessen Verankerung im religiösen Kontext erörtert, die anderen beiden die Quelle, ihre Überlieferung und ihre Forschungsgeschichte selbst vorstellen. Stillschweigend zeigt die Herausgeberin so, dass sie einen scharfen Schnitt zwischen dem Helmarshausener Roger und dem Roger/Theophilus nicht zu ziehen gewillt ist. Dies gilt auch für andere Autoren, wenn beispielsweise M. Brandt dezidiert unter anderem anhand der Emails auf die Übereinstimmungen zwischen dem Trierer Einband und der Schedula hinweist.
Was bleibt also nach der Lektüre dieses gelungenen Sammelbandes? An eine Identität des Dom-Tragaltares mit dem scrinium Heinrichs von Werl mag man nicht mehr glauben, die Herkunft der Werke aus der Helmarshausener Werkstatt ist jedoch kaum zu bezweifeln - auch wenn dort vielleicht Gruppen zu scheiden sind. Ob nicht manchmal ein identischer Kreis von Goldschmieden mehr oder weniger zeitgleich auch anders aufgebaute und abweichend gestaltete Werke schaffen konnte, sei bei unserer Unkenntnis der innerklösterlichen Werkstätten des frühen 12. Jahrhunderts, auf die schon W. Jacobsen in der Rezension zum Kolloquium hingewiesen hat (Kunstchronik 59, 2006, 273-276), offen gelassen. Die Abkopplung der Arbeiten von der Urkunde ist für die Datierung jedenfalls ein Gewinn, da sie so in den 1120/30er-Jahren zu verankern sind, wo sie stilistisch hingehören. Die Konsequenz daraus ist, dass man jetzt die im Laufe der Jahre aus dem vermeintlich gesicherten Datum des Dom-Tragaltars abgeleiteten Relationen revidieren und damit das Gefüge der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts neu ordnen muss. Einen Forschungsauftrag solcher Tragweite kann man nur wenigen Kolloquiumsbänden entnehmen.
Klaus Gereon Beuckers