Aline Steinbrecher: Verrückte Welten. Wahnsinn und Gesellschaft im barocken Zürich, Zürich: Chronos Verlag 2006, 270 S., ISBN 978-3-0340-0786-3, EUR 32,00
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Die Geschichte der Psychiatrie ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten so intensiv bearbeitet worden wie wenig andere Themenbereiche der medizinhistorischen Forschung. Hatten sich viele Studien unter dem Einfluss der Arbeiten Michel Foucaults und der modernen Psychiatriekritik zunächst weitgehend auf den herrschenden Diskurs über die 'Irren' und die daraus resultierenden, primär als repressiv und ausgrenzend verstandenen Praktiken und Institutionen konzentriert, so hat in jüngerer Zeit auch der alltägliche Umgang mit dem Wahnsinn innerhalb wie außerhalb der Institutionen vermehrte Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Und zunehmend richtete sich der Blick auch auf die Betroffenen selbst, auf die Art und Weise, wie sie ihren eigenen Zustand erfuhren und beschrieben und wie sie die Behandlung erlebten, die man ihnen angedeihen ließ.
Die vorliegende Arbeit von Aline Steinbrecher ist ein gelungenes Beispiel für diese Tendenz hin zu einer alltags- und patientengeschichtlichen Erweiterung der Psychiatriegeschichte. Sie knüpft an diskurs- und institutionengeschichtliche Ansätze an und setzt sich mit ihnen auseinander, sprengt aber mit einem stark auf Erfahrung und Lebenswelt gerichteten, historisch-anthropologischen Ansatz zugleich deren Grenzen. Die Arbeit schildert den Umgang mit dem Phänomen "Wahnsinn" im städtischen Alltag Zürichs im 17. Jahrhundert, aus der Sicht von Obrigkeiten und Ärzten, Familienangehörigen und Nachbarn und nicht zuletzt der Betroffenen selbst. Möglich wird dies durch eine ungewöhnlich dichte archivalische Überlieferung, die es der Verfasserin erlaubte, den Namen von Geisteskranken, die ihr in den Aufnahmeakten und Eintrittsprotokollen des Züricher Spitals begegneten, auch in anderen, zeitlich parallel überlieferten Quellen nachzuspüren: in so genannten Nachgängen, amtlichen Erkundigungen, die auch die Befragung von Angehörigen und Nachbarn einschließen konnten, in Gesuchen um Aufnahme in das Spital und vor allem um Entlassung aus ihm, in Ratsprotokollen, ja selbst in Ehegerichtsverfahren - Wahnsinn galt als legitimer Grund für eine Auflösung der Ehe. Dank dieses Nebeneinanders unterschiedlicher Quellen zum gleichen Fall und nach Möglichkeit auch unter Einschluss von Gesuchen und anderen Selbstzeugnissen der Betroffenen selbst kann Steinbrecher ein vielschichtiges Bild des Wahnsinns in seinen lebensweltlichen, sozialen und institutionellen Dimensionen zeichnen.
Das Buch gliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil stehen Erfahrung und Deutung von Wahnsinn im Mittelpunkt. Zu den anerkannten Merkmalen des Wahnsinns, die auch in einer großen terminologischen Vielfalt Ausdruck fanden, zählten insbesondere Geistesverwirrung und unvernünftiges, unkontrolliertes, manchmal tierhaft anmutendes und speziell bei Frauen auch erotisch begehrliches Verhalten. Ähnlich wie heute entsprangen auch die Wahninhalte, von denen die Betroffenen berichteten, der zeitgenössischen Lebens- und Geisteswelt, etwa wenn Patienten sich ob ihrer Sündhaftigkeit aus dem Kreis der Erwählten ausgeschlossen oder für die Erlösung der Menschheit bestimmt glaubten. Die eingehende Darstellung der damals sehr wirkmächtigen theologischen und dämonologischen Deutungen verortet das Phänomen Wahnsinn ebenfalls im spezifischen Kontext der zeitgenössischen Kultur. Medizinische Deutungen und Fachbegriffe spielten dagegen nach dem Urteil der Verfasserin lange Zeit eine eher bescheidene Rolle. Das mag auch der Hintergrund für die hier nur oberflächliche, durch wenige Quellen belegte und teilweise fehlerhafte Darstellung der zeitgenössischen medizinisch-wissenschaftlichen Deutungen des Wahnsinns sein. Dennoch ist es bedauerlich, dass die Arbeit beispielsweise das damals für die Deutung des Wahnsinns zentrale Konzept der verbrannten gelben und schwarzen Galle außer Acht lässt, bekannte Autoren wie Platter (61) und van Foreest (63) Meinungen zu einem Zeitpunkt kundtun lässt, zu dem sie längst tot waren und die damaligen Vorstellungen von der Wirkung des Aderlasses auf die von einer bloßen Blutentleerung reduziert. Zu den stärksten und innovativsten Abschnitten des Buches zählt dagegen die den ersten Teil abschließende, ausführliche und quellennahe Schilderung der Art und Weise wie die Betroffenen selbst ihren Zustand und den Umgang mit ihnen erlebten. Anschaulich und überzeugend beschreibt die Verfasserin die Geisteskranken als Akteure und Opfer zugleich. Sie beschrieben ihr Leiden oft als von außen kommend und aufgezwungen. Auch ihre Selbstbezichtigungen griffen gängige theologische und dämonologische Deutungsmuster auf. Sie schrieben ihre Krankheit aber auch lieblosen oder zornigen Angehörigen oder gar der Verwahrung im "Loch" zu und setzten sich insgesamt aktiv mit ihrer Situation auseinander, wehrten sich manchmal sehr energisch gegen das Unrecht, als welches sie ihre Behandlung erlebten.
Der kürzere zweite Teil ist dem Umgang mit den 'Irren' im alltäglichen familiären und nachbarlichen Miteinander und den Gründen für den - meist erst spät geäußerten - Wunsch nach stationärer Unterbringung gewidmet. Die Gefährdung der Mitmenschen durch Gewalt und Brandstiftung erweist sich als nur eines von mehreren Motiven. Anhand konkreter Einzelfälle zeichnet die Verfasserin auch andere maßgebliche und in den unterschiedlichen Gesellschaftsschichten verschieden wirksame Einflüsse auf die Entscheidungsfindung nach, emotionale Bindungen etwa, finanzielle Erwägungen, die auch geistesschwache, als nutzlos erlebte 'Mitesser' treffen konnten und, damals sehr wirkmächtig, die Sorge um die Familienehre.
Im dritten und letzten Teil schließlich beschreibt Steinbrecher die Einrichtungen, die damals in Zürich der Unterbringung von 'Irren' (aber auch von Pfründnern und anderen Hilfebedürftigen) dienten und schildert die Behandlung, der man speziell die 'Irren' unterwarf - vom Anketten und der Verwahrung im Loch bis zur körperlichen-medizinischen Behandlung und zum geistlichen Beistand. Ausführlich geht sie zudem auf den Umgang mit dem Wahnsinn und seine Folgen bei Gewalttaten, Gotteslästerung und dergleichen in der Strafjustiz ein. Sie beschreibt das zunächst verblüffend anmutende Nebeneinander von straflindernder Zubilligung von Geistesverwirrung und der Erwartung, dass die Geisteskranken als Voraussetzung hierfür ein gewisses Maß an Einsicht und Reue zeigten.
Ähnlich wie die jüngere englische psychiatriegeschichtliche Forschung gelangt die Verfasserin letztlich zu dem Schluss, dass sich der Umgang mit Wahnsinn damals nicht einseitig auf das Phänomen einer Sozialdisziplinierung und einer systematischen Ausgrenzung und Einsperrung reduzieren lässt. Im Umgang mit dem Wahnsinn waren "komplexe, dynamische Interaktions- und Zuschreibungsprozesse" am Werk, wie die Verfasserin abschließend formuliert (251). An diesen Prozessen "waren nicht nur die Obrigkeit und die Gelehrten beteiligt, sondern ebenso die Nachbarschaft, die Familie und der Kranke selbst." Gerade Letzteres, die Erfahrungen und Deutungen von Familienangehörigen und Patienten erhellt und stark gemacht zu haben, ist ein großes Verdienst dieser Arbeit.
Michael Stolberg