Christiane Holm: Amor und Psyche. Die Erfindung eines Mythos in Kunst, Wissenschaft und Alltagskultur (1765-1840) (= Kunstwissenschaftliche Studien; Bd. 130), München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2006, 336 S., 8 Farb-, 108 s/w-Abb., ISBN 978-3-422-06554-3, EUR 49,90
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Sibylle Badstübner-Gröger / Claudia Czok / Jutta von Simson: Johann Gottfried Schadow. Die Zeichnungen, Berlin: Deutscher Verlag für Kunstwissenschaft 2006
Cordula Grewe: Painting the Sacred in the Age of Romanticism, Aldershot: Ashgate 2009
Hans Veigl: Der Friedhof zu St. Marx. Eine letzte biedermeierliche Begräbnisstätte in Wien. Mit Fotos von Lisl Waltner, Wien: Böhlau 2006
Die Rezeption der Geschichte von Amor und Psyche hat in den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen im deutschsprachigen Raum nur ein vergleichsweise geringes Echo gefunden. Ganz anders in Italien, Frankreich sowie im angloamerikanischen Raum, wo in den letzten Jahrzehnten eine Fülle von Untersuchungen publiziert wurde ist (15-17).
Für Deutschland, die Schweiz und Österreich muss die marginale Auseinandersetzung sehr verwundern, ist doch in der Zeit um 1800 "Amor und Psyche" eines der beliebtesten Themen der Literatur und Bildenden Kunst. Dabei ist zu beobachten, dass das Thema zunächst unter einer "(alltags-)ästhetischen Verwendungsperspektive interessant" war und erst in deren Folge altertumswissenschaftlich fundiert wurde (31).
Diese Lücke in der Forschung zu schließen bemüht sich Christiane Holm mit ihrer 2003 im FB Sprache - Literatur - Kultur der Justus-Liebig-Universität Gießen angenommenen Dissertation zu "Amor und Psyche". Ausgesprochen materialreich und detailversessen stellt Holm die "Arbeit" an der Geschichte von "Amor und Psyche" dar.
Die 279 zweispaltigen Textseiten werden durch einen immensen Anmerkungsapparat mit 1.156 Anmerkungen und Nachweisen ergänzt (237-300). Das Zusammengetragene ist durch ein Personenregister erschlossen. Leider fehlt dort aber Christel Steinmetz, Autorin einer ebenfalls nicht unwichtigen und zudem materialreichen - doch viel zu wenig beachteten - Dissertation über " Amor und Psyche" [1], die Holm folgerichtig auch mehrfach zitiert (etwa 251, 252).
Die Arbeit wird mit üppigen 112 schwarz-weiß Abbildungen sowie acht Farbtafeln illustriert. Sind die Farbtafeln von hervorragender Qualität, so gereichen die anderen Abbildungen dem Deutschen Kunstverlag nicht zur Ehre (z. B. Abb. 42, 43, 85, 101, 102, 103). Etliche Reproduktionen sind unscharf-verschwommen - kurz: von sehr schlechter Qualität. So wird der gute Eindruck des sonst solide gefertigten Buches (Leineneinband, Lesebändchen) erheblich gemindert und gestört.
Ausgehend von Hans Blumenbergs Überlegungen zur "Arbeit am Mythos" [2], hat es sich die Autorin zum Ziel gesetzt, die Geschichte von "Amor und Psyche" in der Zeit um 1800 zu untersuchen. Dabei sollen "Mythos, Seele und Geschlecht" die "Koordinaten bilden, in denen sich die Aktualisierungsversuche der antiken Überlieferung" vollziehen (14). Der Untertitel der Arbeit "Die Erfindung eines Mythos in Kunst, Wissenschaft und Alltagskultur (1765 -1840)" definiert den Betrachtungszeitraum näher. Aber warum 1765? Was geschah in diesem Jahr Außergewöhnliches, dass es gewählt wurde? Oder meint die Autorin eher 1767, in dem Herders "Vom neuern Gebrauche der Mythologie" erschien? Beim Jahr 1840 stellt sich die nämliche Frage, die auch nicht beantwortet wird.
Die Autorin gliedert ihre Arbeit in vier Kapitel und fügt nach dem ersten einen längeren Exkurs über die antiken Bild- und Textdokumente und deren Fortentwicklung bis in die Renaissance ein. Das erste Kapitel ist der "dialogischen Aneignung" des Themas über Gemmenkunde und Gesellschaftsspiele gewidmet (31-55). Hier findet u. a. auch eine aufschlussreiche Analyse der deutschen Anakreontik der Zeit um 1800 ihren Raum. Das zweite Kapitel ist der "Mythologisierung. (Re-)Konstruktion des Amor und Psyche-Mythos in Altphilologie und Archäologie" gewidmet (103-137). Holm versucht nun, die verschlungenen Pfade der wissenschaftlichen Erforschung des Amor und Psyche-Themas seit Lessing und Herder nachzuzeichnen.
Spätestens jetzt macht sich ein Mangel an methodischer Schärfe unangenehm bemerkbar: Die Autorin verwendet den Mythos-Begriff auf unterschiedlichste Art und Weise. Es ist, als könne sie sich - auf ihr Thema bezogen - nicht darüber klar werden, ob das Amor und Psyche-Thema nun Mythos, Märchen oder Erzählung ist. Die Lektüre wird dadurch ausgesprochen erschwert. Es wäre falsch, von Holm eine Neudefinition des weiten und sehr diffusen Mythos-Begriffs zu erwarten. Erwarten aber darf der Leser eine Definition, wie sie den Begriff verwendet (bzw. verwendet sehen möchte) und definiert. So bleibt "Mythos" leider unscharf und weitgehend beliebig. Alles Erzählte, das von Gottheiten und Menschen handelt und - auf welche Weise auch immer - fortentwickelt und bearbeitet wird, scheint in ihrem Sinne Mythos zu sein. Auch das wäre eine Mythosdefinition, mit der fruchtbar gearbeitet werden könnte, doch müsste sie für den Leser auch als solche erkennbar werden. Holm schreibt letztlich über die "postmythischen Metamorphosen mythischen Vorstellens", wie Manfred Fuhrmann es genannt hat [3] und dessen wichtige Sammlung der Leser vergebens in den Literaturangaben sucht. Wird mit dem Amor und Psyche-Thema um 1800 nun ein Mythos neu entdeckt, mithin "re-konstruiert" - oder wird er neu erschaffen, also "konstruiert"? Die Frage bleibt unbeantwortet, weil wohl beides gleichermaßen während der "Arbeit am Mythos" geschieht. Leider erstickt die Materialfülle von Holms Beweisgängen die Formulierung konkreter Ergebnisse.
Das dritte Kapitel ist der "Konturierung der weiblichen Seele in Bild und Bilderzählung" gewidmet (139-204). Die erhellenden und feinsinnigen Interpretationen zu Gartenkunst und "weiblichen Bildungserzählungen" [4] werden ergänzt mit einem Abschnitt über "Die plastische Psyche: Die Verkörperung des Unkörperlichen" (169-195). Damit sind dreidimensionale Darstellungen der Psyche gemeint. In diesem Kontext findet auch "Amor und Psyche" des französischen Malers François Gérard von 1798 Erwähnung. Dieses als ein "Salonbild der napoleonischen Davidschule" (192) zu bezeichnen, ist schon auf Grund seiner Zeitstellung anzuzweifeln. Solch pejorative Bewertungen und Konnotationen, aus dem Blickwinkel der einst alles beherrschenden Moderne und Avantgarde, sollten endlich der Vergangenheit angehören! In diesem Zusammenhang wird, in Anlehnung an Hans Körner und Mario Praz, auch von "Kühlschrankerotik" gesprochen (192 bzw. 173 und Anm. 254). Auch dies ist verfehlt. In derselben Textspalte zitiert Holm nämlich selbst eine Äußerung Wilhelm von Humboldts an Johann Wolfgang von Goethe, die deutlich macht, dass Zeitgenossen das Werk vollkommen anders rezipiert haben. Humboldt spricht von einem "sehr schönen Stück" mit einem "wunderlieblichen, seelenvollen Ausdruck" (192). Konfus und widersprüchlich wird es schließlich, wenn die Autorin in Anschluss an Schlegel das Bild als das "psychische Entstehen des weiblichen Begehrens" interpretiert (192). Abgesehen davon, ob Gérards harmloses Mädchen tatsächlich zu begehren beginnt, ist "Kühlschrankerotik" wirklich der adäquate Terminus, wenn es um das Erwachen weiblicher Sexualität geht? Ähnlich wertend verfährt Holm bei einer Grafik der Charlotte von Jennison-Walworth, die der Autorin zu einem "schmelzigen Punktierstich" gerät. Das ist gar zu blumig beschrieben und erfüllt kaum die gebotene Sachlichkeit, auch wenn der Stich Anlass zur Kritik bieten kann (53, Abb. 8).
Im vierten und letzten Kapitel behandelt die Autorin das "neue Paar: Psyche und Pygmalion" (205-233) und erörtert "kunsttheoretische Selbstreflexionen". Der Abschnitt beginnt mit einem mythologischen Irrtum der Autorin: Amor und Psyche können in der Antike dem Paar Pygmalion und Galatea nicht begegnet sein, weil Pygmalions erweckte Skulptur bis in die Nachantike namenlos war (205). Die mythische Galatea, Tochter von Nereus und Doris, hat mit Pygmalion nichts zu tun. An dieser Stelle sei auf einen weiteren mythologischen Irrtum hingewiesen, auch wenn er sich eingebürgert hat: Styx ist eine Flussgöttin, Tochter von Okeanos, folglich muss es die Styx heißen (151). [5]
Wird von den beschriebenen Mängeln abgesehen, so hilft Christiane Holms fundierte, materialreiche und gelehrte Dissertation, die große Lücke innerhalb der Rezeptionsforschung zu "Amor und Psyche" im deutschsprachigen Raum um 1800 etwas kleiner werden zu lassen - doch zeigt diese Untersuchung auch: Die "Arbeit am Mythos" wird so bald nicht enden.
Anmerkungen:
[1] Christel Steinmetz: Amor und Psyche. Studien zur Auffassung des Mythos in der bildenden Kunst um 1800. Diss. Köln 1989, Köln 1989.
[2] Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos, Frankfurt am Main 1979.
[3] Manfred Fuhrmann (Hg.): Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, München 1971 (= Poetik und Hermeneutik IV), 1.
[4] Kann eine Bildungserzählung weiblich sein? Oder handelt sie nicht vielmehr über Weibliches oder ist von Frauen geschrieben?
[5] Vgl. Hesiod, Theogonie 383 ("Okeanou thygáter").
Thomas Blisniewski