Anja Amend / Anette Baumann / Stephan Wendehorst / Siegrid Westphal (Hgg.): Gerichtslandschaft Altes Reich. Höchste Gerichtsbarkeit und territoriale Rechtsprechung (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich; Bd. 52), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2007, 172 S., ISBN 978-3-412-10306-4, EUR 24,90
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Der Titel des Sammelbandes mit zehn Beiträgen unterschiedlicher Länge bedarf der Erläuterung: "Gerichtslandschaft" bezeichnet das Alte Reich als Rechtsraum und soll die Gleichzeitigkeit von Einheit und Verschiedenheit zum Ausdruck bringen, die für das Alte Reich charakteristisch war. Dabei stellten die beiden höchsten Reichsgerichte aufgrund ihrer integrativen Funktion Elemente der Einheitlichkeit dar, während die den Reichsverband bildenden Glieder mit ihren territorialen Gremien und Gerichten für die Diversität stehen.
Die Teilnehmer der vierten Tagung des Netzwerks Reichsgerichtsbarkeit haben den Begriff "Gerichtslandschaft" eingeführt, um diesem Gedanken Anschaulichkeit zu verleihen. Die neun Referenten der Tagung suchten eine Antwort auf die Frage, bis zu welchem Grad Reichskammergericht und Reichshofrat als reichsweit friedensstiftende Institutionen wirkten und damit als Klammer des Alten Reiches dienten. Ihre Aufmerksamkeit richtete sich dabei besonders auf das Zusammenspiel der beiden höchsten Reichsgerichte mit den territorialen Justizbehörden, wie Anette Baumann, Anja Amend und Stephan Wendehorst einleitend schildern (1-15).
Zu den Vorzügen des Bandes gehört die starke Berücksichtigung des Reichshofrats, der in der Forschung oft stiefmütterlich behandelt wird. Anja Amend beschäftigt sich mit einem Fall aus dem 18. Jahrhundert, bei dem einer der Prozessgegner an das Reichskammergericht, der andere an den Reichshofrat appellierte. Sie kommt zu dem Schluss, dessen Richtigkeit durch weitere Forschungen zu erhärten ist, dass die "integrative Bedeutung der beiden obersten Reichsgerichte [...] bei der Ausgestaltung des Rechtsraumes" eine geringere Rolle spielte, als bislang angenommen (11). Hingegen betont Eva Ortlieb in ihrem "Werkstattbericht" (3) über die erst seit wenigen Jahren intensivierte Reichshofratsforschung eine andere Perspektive und hebt hervor, dass der Bezug der beiden höchsten Reichsgerichte aufeinander auch Koexistenz und Zusammenarbeit bedeuten konnte (18).
Markus Senn schildert in einem "Zwischenbericht" (28) ein Forschungsprojekt zur Formierung des Reichshofrats (1519-1564) und die sich herauskristallisierende Neubewertung des Verhältnisses der beiden höchsten Reichsgerichte zueinander. Bei der Sichtung bislang nicht verzeichneter Aktenbestände des Reichshofrats ergab sich, dass der Kaiser die Ausübung seiner Aufsichtsfunktion über das Justizwesen zumindest teilweise auf seinen Hofrat übertragen hat, so dass der Reichshofrat zur Zeit Karls V. und Ferdinands I. als oberstes Justizorgan erscheint (27-39).
Christian Wieland beschäftigt sich mit der Entstehung eines einheitlichen bayerischen Gerichtsraums im 16. Jahrhundert (41-57) und stellt fest, dass die Reichsgerichtsbarkeit relativ früh vom bayerischen Adel akzeptiert wurde, was zur Formierung einer "Gerichtslandschaft Altes Reich" wesentlich beitrug.
Dass sich die familiäre Beziehung bei dem Juristen Schwarzenfels (1658-1725) "als die stärkste Klammer über alle Territorialgrenzen hinweg" (68) erwies, wie Volker Friedrich Drecktrah bei der Untersuchung der Karriere dieses Reichskammergerichts-Assessors herausgefunden hat, wird den Kenner von Lebensläufen der juristischen Funktionselite nicht sonderlich überraschen. Größeren Neuigkeitswert hat die Beschreibung einer kaum bekannten Quellengattung durch Steffen Wunderlich (69-107): Private Protokollbücher von Reichskammergerichts-Assessoren sind deshalb besonders wertvoll, weil das Reichskammergericht die Urteilsgründe den Parteien nicht bekannt gab und solche, leider selten erhaltene, Protokollbücher Einblick in die Interna geben.
Ludolf Pelizaeus behandelt Zuständigkeitskonflikte in den Österreichischen Vorlanden in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts (109-126). Die Vorlande gehörten zum Reich, waren aber hinsichtlich der höchsten Reichsgerichte exemt, was die Überlegung provoziert, ob die habsburgischen Territorien zum gleichen Rechtsraum wie das Reich gehörten (109). Man kann sie hinzuzählen, wenn man eine der vier zur Diskussion gestellten Definitionen anwendet und das Alte Reich als einen Rechtsraum ansieht, in dem der Kaiser als Quelle des Rechts anerkannt wird (109). Auch Matthias Schnettger beschäftigt sich mit einem Rechtsraum besonderer Prägung (127-149): In Reichsitalien waren der Reichshofrat und das Generalkommissariat, das ab 1715 "kaiserliche Plenipotenz" genannt und als eigenes Amt installiert wurde, die zentralen Reichsinstitutionen. Die Plenipotentiare entstammten bis auf die letzten drei Amtsträger dem italienischen Reichsadel, besaßen keine deutsche Sprachkompetenz und verblieben in ihrer Heimat, verstanden sich aber als Reichsbeamte. Der Reichshofrat behielt ihnen gegenüber die Weisungskompetenz in Justizsachen und achtete darauf, dass die italienischen Lehensgebiete seinem jurisdiktionellen Zugriff offen standen. Diese blieben daher Teil der "Gerichtslandschaft Altes Reich".
Es fällt auf, dass sich keiner der Beiträger schwerpunktmäßig mit dem 17. Jahrhundert beschäftigt. Das Jahrhundert des ersten großen, internationalen Friedensschlusses wird allerdings in dem abschließenden Forschungsüberblick (151-172) insofern berücksichtigt, als Edgar Liebmann die deutsche und österreichische (Verfassungs-) Historiographie ab 1866 daraufhin untersucht hat, wie in ihr die höchste Gerichtsbarkeit des Alten Reiches in dem Zeitraum von 1648 bis 1806 dargestellt wurde. Er wählte 1648 als Ausgangspunkt, weil, wie er richtig bemerkt, das Alte Reich durch den Westfälischen Frieden eine rechtliche Basis erhielt, die bis zum Ende des Alten Reiches nur geringe Veränderungen erfuhr (152).
Insofern befremdet es, dass Liebmanns konstruktiver Überblick bei der Darstellung der nach 1945/49 einsetzenden Intensivierung der Forschungen zum Alten Reich und dessen höchster Gerichtsbarkeit weder Fritz Dickmanns herausragende, einflussreiche Monographie zum Westfälischen Frieden [1] noch die seit 1962 erscheinende Aktenpublikation "Acta Pacis Westphalicae" [2] erwähnt. Denn die höchsten Reichsgerichte waren nicht nur Beratungsgegenstand der Reichskurien und Bestandteil friedensvertraglicher Regelungen (Artikel V, 53-58 des Instrumentum Pacis Osnabrugensis), sondern davon unabhängig beschäftigte auch ein einzelnes Appellationsverfahren vor dem Reichskammergericht die Diplomaten intensiv und mit weit reichenden Folgen: Aus Unzufriedenheit mit einem Urteil des Basler Stadtgerichts appellierte ein Weinhändler aus Schlettstadt an das Reichskammergericht, was die Basler veranlasste, sich an den Friedenskongress zu wenden. Was vor dem Basler Stadtgericht begann, endete mit der Exemtion der Schweizer Eidgenossenschaft vom Reich [3] und hätte thematisch gut zum vorliegenden Band gepasst.
Der insgesamt gelungene Band, dem leider ein Register fehlt, stellt mehrere, noch nicht abgeschlossene Forschungsprojekte von Nachwuchshistorikern vor und versteht sich als Einladung, die Diskussion über das Alte Reich als Rechtsraum fortzusetzen. Es ist zu wünschen, dass viele dieser Einladung folgen.
Anmerkungen:
[1] Fritz Dickmann: Der Westfälische Frieden, 7. Aufl., Münster 1998. Das Register verzeichnet die Lemmata "Reichshofrat", "Reichsjustiz" und "Reichskammergericht", jeweils mit einer Reihe von Unterpunkten.
[2] Die "Acta Pacis Westphalicae" erscheinen in den Serien Instruktionen (I), Korrespondenzen (II), Protokolle, Verhandlungsakten, Diarien, Varia (III). Bislang sind über 35 (Teil-)Bände erschienen; derzeitige Herausgeber sind Konrad Repgen und Maximilian Lanzinner. Zum Lemma "Reichskammergericht" weist zum Beispiel Band III A 1/1 (Protokolle. Die Beratungen der kurfürstlichen Kurie 1645-1647, bearbeitet von Winfried Becker, Münster 1975) Registereinträge von fast zwei Spalten Länge auf.
[3] Zur Behandlung des Falls auf dem Westfälischen Friedenskongress siehe Acta Pacis Westphalicae III A 3/4: Die Beratungen des Fürstenrates in Osnabrück 1646-1647, bearbeitet von Maria-Elisabeth Brunert, Münster 2006, LXXV-LXXIX.
Maria-Elisabeth Brunert